Caja
Mit vor Angriffslust funkelnden Augen musterte sie den Mann, der vor ihr kniete und ihre Wunde säuberte.
Er fasste sie dabei nicht gerade mit Samthandschuhen an und als er eine klare, brennende Flüssigkeit, die kein Wasser sein konnte, über die infizierte Stelle goss, reichte es ihr völlig.
Sie brüllte auf, riss an ihren Fesseln, die ihr Gegenüber zu dessen Glück davor bewahrten von ihr erdrosselt zu werden.
Der Schmerz trieb sie beinahe in den Wahnsinn. Der und das Gefühl, machtlos zu sein. Wo war ihr Vater nur? Wieso war er nicht schon gekommen, um sie endlich hier rauszuholen? Sie hielt es keine Minute länger mehr aus.
Der Kahlköpfige schien keineswegs beeindruckt von ihrem Verhalten. Er war keinen Zentimeter zurückgeschreckt, als sie wie wild geworden an den Seilen gezerrt hatte, die ihre Haut an den Handgelenken dabei weiter aufgeschürft und eingeschnitten hatten.
Wie konnte er mit einer solchen Ruhe einfach weiter seiner Arbeit nachgehen?
Ohne mit der Wimper zu zucken, begann er die Schnürrungen ihres ledernen Überwurfs zu lösen und sie ließ ihn auf weitere Proteste verzichtend gewähren.
Nachdem sie nur noch in ihrer mit Blut befleckten Tunika vor ihm kniete, hatte er es leichter, ihre Verletzung fachgerecht zu versorgen.
Er musste so etwas wie ein Heiler sein.
Nun still beobachtete Caja ihn dabei, wie er sich für einen Moment von ihr abwandte, nach einer kleinen Schüssel griff und eine grünlich-braune Paste in dieser anrührte. Vorsichtig tupfte er das seltsam riechende Zeug dann auf ihre Wunde und machte sich anschließend daran, sie mit weißen Stoffen, die er komplett um ihren Bauch wickelte, abzudecken.
Als er fertig war, streifte er sich die Hände an seiner Kutte ab und legte seine Augenmerk auf ihr Gesicht. Sie erwiderte seinen Blick, der so viel Ruhe ausstrahlte, wie der Rest von ihm auch.
Und dann passierte es. Beim letzten Mal hatte sie sich in der Musik verloren, jetzt geschah ihr das gleiche mit dem Braun seiner Iriden.
Sie versank in seinen Seelenfenstern, entschwand der Realität.
Ihre Lider flatterten und ihr wurde schwindlig. Ihr Gegenüber verschwamm mit seiner Umgebung und schließlich verschwand der Kahlköpfige ganz. Zurück blieb nur eine gähnend schwarze Leere.
Sie wusste nicht wie lange sie sich in diesem Nichts aufhielt, doch es fühlte sich endlos an. Dieses Mal trieb sie nicht in dunklen Wellen umher, sondern schwebte durch die Dunkelheit ihrer Vorsehung.
Ihr war kalt. So fruchtbar kalt.
Zitternd versuchte sie irgendetwas um sie herum zu erkennen - etwas, an dem sie sich mit ihrem Blick festhalten konnte.
Und schließlich tauchten wie beim letzten Mal, auch jetzt einzelne Bilder vor ihrem geistigen Auge auf.
Da waren erneut diese goldbraunen Augen, die sie so sehr an die einer Raubkatze erinnerten.
Sie jagten ihr Angst ein und vermittelten ihr aber zur gleichen Zeit das Gefühl, als könnte sie lernen ihnen zu vertrauen.
Kurz darauf verschwanden die Iriden wieder, wurden abgelöst von zwei schlagenden Herzen, deren Venen sich miteinander vereinten und schließlich pulsierten die beiden Organe im Gleichtakt miteinander.
Sie hörte das rhythmische Pochen, das ihr Ruhe und Geborgenheit vermittelte.
Nur einen Moment später fand sie sich wieder für eine ungewisse Dauer in der Leere wieder und abermals wurde ihr so kalt, dass sie fröstelte.
Sie wollte sich die Arme reiben, doch sie war unfähig sich zu bewegen.
Licht. Plötzlich war da Licht.
Sie schwebte auf die helle Kugel zu, die immer greller zu leuchten schien und die Dunkelheit schlussendlich ganz verdrängte.
Ihre Füße berührten einen Untergrund, den sie durch bloßes Fühlen bereits erkannte. Er war glatt, beinahe schon rutschig und kühl.
Es waren die erdfarbenen, mit der Hand gehauenen Fließen des Götterhains von Uppsala.
Sie sah sich um, tastete mit den Fingern nach den breiten Säulen aus Holz mit den vielen schönen Verzierungen, die das Dach an Ort und Stelle hielten.
Es waren Bilder, die die verschiedenen Gottheiten, aber auch die Sagen und Mythen repräsentierten.
Sie erkannte die Midgard Schlange, Thor und auch Freya.
Irgendwann wandte sie sich von den kunstvollen Arbeiten ab und begann durch den offenen Raum zu wandern.
Ihre Schritte hallten von den Wänden wieder. Klack. Klack. Klack.
Schließlich blieb Caja erneut vor einer der Schnitzereien stehen, da diese ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Sie bewegte sich, veränderte ihre Anordnung.
Zuerst sah die junge Seherin Wellen, dann einen Wald und dann formten die feinen Linien eine Truppe von Männern. Sie liefen durch den Forst, wirkten dabei zielstrebig.
An ihren seltsamen Kopfbedeckungen erkannte Caja, dass es sich dabei um die Angelsachen handelte.
Sie streckte ihren Zeigefinger danach aus, doch sobald er das bewegte Bild berührte, wurde es wieder zu der starren Schnitzerei, die einen einfachen Drachenkopf darstellte.
Hatte sie, was auch immer die Götter ihr hatten zeigen wollen, gestört?
Sie schalt sich selbst in Gedanken dafür, dem Bedürfnis die sich verändernde Verzierung anzufassen, nachgegeben zu haben.
„Oh bitte, verzeiht mir meine Neugierde", erhob sie die Stimme, die in der großen Halle von allen Ecken widerhallte.
Ihre eignen Worte begannen sich mit einem lauten Rauschen zu vermischen, dessen Ursprung Caja nicht ausmachen konnte. Doch es wurde immer lauter. So laut, dass sie sich am Ende die Ohren zuhalten musste und die Augen zusammenkniff.
Hatte sie etwas falsch gemacht? Zürnten die Götter ihr?
Sie ging in die Knie. Das Geräusch wurde unerträglich, wütete wie ein Sturm in ihrem Kopf und drohte ihre Schädeldecke zerbersten zu lassen.
„Bitte, bitte hört auf!", schrie sie und plötzlich kehrte wieder Ruhe ein.
Als sie die Augen wieder aufschlug fand sie sich liegend auf dem Erdboden wieder, über sie gebeugt der Kahlköpfige.
Er hielt ihr Haupt fest zwischen seinen Händen und drückte ihren Körper mit seinem rechten Knie, das er auf ihre Brust gelegt hatte, nach unten.
Sicherlich hatte sie wieder gekrampft und er hatte versucht sie stillzuhalten.
Er sah sie nicht an, hatte sein Antlitz über die Schulter gewandt und brüllte unverständliche Worte.
Noch ehe Caja begreifen konnte, was passierte, ergoss sich ein Schwall eiskaltes Wasser über ihr Gesicht, brachte sie dazu laut aufzuatmen und dann zu kreischen wie ein kleines Mädchen.
Sie stieß den Mann von sich, bemerkte dabei, dass ihre Hände nicht mehr zusammengebunden waren.
Das war ihre Chance. Sie musste hier weg.
Schneller als der Blitz und dabei ignorierend, dass sie vor Nässe tropfte, sprang sie auf die Beine und begann zu rennen.
Sie wusste nicht wohin, ließ sich einfach von ihren Füßen tragen.
Ein stechender Schmerz machte sich an ihrer Seite bemerkbar, während sie über die Lichtung hetzte, als wäre die wilde Jagd hinter ihr her.
Sie drückte die Hand auf die Stelle, fühlte, wie sich etwas Warmes darüber ergoss. Ihre Verletzung war durch die zu schnellen Bewegungen wieder aufgegangen.
Doch dadurch durfte sie sich nun nicht ablenken lassen. Nicht jetzt, da sich ihr eine solch gute Gelegenheit zur Flucht erbot.
Die sicheren Schatten der Bäume rückten in greifbare Nähe. Ein Grinsen breitete sich auf ihren Lippen auf, als sie den Schutz der hohen Tannen und Fichten tatsächlich erreichte.
Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals und das Adrenalin, das durch ihre Venen schoss, verdrängte die Pein und die Kälte, die sich dank des eisigen Wassers bis in ihre Knochen zu bohren schien.
Sie musste sich verstecken. Aber wo?
Noch ehe sie die Chance bekam, weiter darüber nachzudenken, wurde sie mit einem Mal von den Füßen gerissen. Sie stolperte zur Seite, spürte, wie sich zwei starke Arme um ihren Oberkörper schlangen und gemeinsam mit der Person, zu der diese gehörten, ging sie zu Boden.
Sie schlug und trat nach ihrem Angreifer, versuchte sich aus dessen Griff zu befreien.
Dieser aber wusste, wie er sie anzupacken hatte, damit sie ihn nicht verletzen konnte. Er rollte mit ihr über den dreckigen Boden, drückte sie dann mit dem Gesicht voran in die modrig riechende Erde und fixierte sie so, indem er sich mit vollem Gewicht auf ihren Rücken hockte.
Keuchend drehte sie den Kopf zur Seite, spuckte Tannennadeln und Moosstückchen aus, die sich ihren Weg in ihren Mund gebahnt hatten.
Ihre linke Wange brannten, ihre Seite pochte und ihr wurde plötzlich speiübel. Alles drehte sich. Hatte sie ihrem Körper zu viel zugemutet? Verdammt, sie hatte daran geglaubt, dass sie es schaffen würde! Und das hätte sie auch, wäre dieser Kerl nicht so unerwartet wie ein Regenschauer an einem Sommertag aufgetaucht!
Sie knurrte, wütend wie ein Hund, zappelte unter ihm, was einzig und allein dazu führte, dass er sie mit noch mehr Druck nach unten presste.
Kurz hatte sie das Gefühl, gar keine Luft mehr zu bekommen. „Fífl*!", warf sie ihm mit erboster, heiserer Stimme an den Kopf, hörte ihn daraufhin nur lachen und etwas auf seiner Sprache brüllen.
Anhand seiner erheiterten Geräuschkulisse erkannte sie, wer sie da vor ihrem Fluchtversuch abgehalten hatte. Es war der Mann mit den blaugrauen Augen, der sie am Tag zuvor von Munin getrennt und sie an diesen unheilvollen Ort verschleppt hatte.
Grob umgriff er mit einer einzigen Hand ihre beiden Arme, riss sie nach oben auf die Beine und fesselte sie erneut mit den Stricken, die bereits tief in ihre Haut eingeschnitten hatten.
Mit vor Wut funkelnden Augen musterte sie ihn dabei und konnte nicht anders, als ihm ins Gesicht zu spucken, als er den Strick mit Absicht noch enger zog, um ihr damit wehzutun.
Er wischte sich ihren Speichel aus dem Gesicht, betrachtete ihn, wie er glänzend seine Finger benetzte. Erneut lachte er. Doch dieses Mal nicht des Amüsements geschuldet, sondern der Boshaftigkeit.
Nur eine Sekunde später traf seine flache Hand auf ihrer linken Wange auf, die ohnehin schon schmerzte, da sie sich diese bei ihrem Sturz aufgeschürft hatte.
Als wäre dies nicht schon genug der Strafe gewesen, schlug er anschließend in ihre Seite, was dazu führte, dass ihr sofort die Beine unter dem Körper wegsackten. Doch er ließ sie nicht auf dem Boden aufkommen, riss sie an den Fesseln nach oben.
Sie schrie auf, vor Schmerz und vor Zorn gleichermaßen, ehe die Übelkeit sie erneut überkam und sie sich kurzerhand einfach über die Stiefel ihres Widersachers übergab.
Angeekelt davon brüllte er ihr Worte entgegen und holte erneut aus, um sie mit Hieben zurechtzuweisen. Aber noch bevor seine zur Faust geballte Hand in ihrem Gesicht einschlagen konnte, wurde er am Arm gepackt und festgehalten.
Cajas Blick, der mehr und mehr zu verschwimmen begann, wanderte zu dem Bärtigen, der wie aus dem Nichts aufgetaucht war. Die beiden Männer starrten sich an, ehe ihr Retter die rauchig klingende Stimme erhob und seinen Kameraden damit in die Schranken wies.
Zähneknirschend ließ dieser schließlich von ihr ab und drückte dem anderen ihre Fesseln in die Hand, ehe er unzufrieden dreinblickend davonstapfte.
Gütiger Weise ließ sie der Zurückbleibende auf den Boden sinken, ging dabei vor ihr in die Hocke und richtete Worte an sie, die nach einer Entschuldigung klangen.
„Adalar!", rief er dann den Namen, der ihr gewahr war.
Eine Sekunde später tauchte der Jüngling in weißer Kutte auf, half dem Bärtigen dabei, sie zurück ins Lager zu tragen und in eines der Zelte zu bringen.
Sie ließ die beiden machen, sackte schlussendlich auf den weichen Teppichen zusammen und besah sich mit aufeinandergepressten Lippen das Werk des Schlägers.
Das was der Kahlköpfige zu retten versucht hatte, hatte der andere wieder zunichte gemacht. Er und ihr sinnlos erscheinender Versuch zu fliehen.
Frisches Blut befleckte ihre ohnehin bereits völlig verdreckte Tunika.
Auch wenn sie als kleines Mädchen häufig im Schmutz gespielt und sich mit Munin auf mit Schlamm besudeltem Grund Kämpfe geliefert hatte, sehnte sie sich in diesem Augenblick doch nach sauberer Kleidung und einem heißen Bad.
Zu gerne hätte sie dabei Órla, der Sklavin, weitere Geschichten über die nordischen Götter erzählt.
Sie verengte die Augen zu engen Schlitzen, als der Jüngling auf sie zukam und von oben auf sie herabblickte. Mitfühlend musterte er sie, ehe er zu sprechen begann: „Es tut ihm leid, soll ich dir sagen. Er entschuldigt sich für das Verhalten Gregorys. Pater Bernard wird sich darum kümmern und deine Wunde erneut versorgen."
Gregory.
Nun hatte ihr größter Feind in diesem Lager also endlich einen Namen.
Sie würde ihn töten, wenn sie Gelegenheit dazu bekam.
Ihr Vater hatte recht gehabt. Für manche war es eine Erlösung, wenn man sie von ihren Leben und somit zugleich von ihren dunklen Seelen befreite.
Um Gregory würde sicherlich niemand trauern. Wäre er ihr erster Toter gewesen, hätte sie es nicht ansatzweise so bereut.
Der Jüngling verschwand und ließ sie mit dem Bärtigen, dessen Namen sie noch immer nicht wusste, der aber scheinbar viel zu sagen hatte, wieder allein.
Er stand etwas weiter von ihr entfernt an einer Stelle, an der das Licht der Sonne sich mit all seiner Kraft durch den Stoff des Zeltes kämpfte.
Sie musterte seine Gesichtszüge, die im ersten Moment hart erschienen, aber bei genauerem Hinsehen mehr und mehr Sänfte erkennen ließen.
Während sie ihn so betrachtete, stahl sich eine Redewendung in ihre Gedanken, die ihre Mutter früher oft verwendet hatte: Det er det du gjør og ikke det du sier
som viser hvem du egentlig er. - Was du machst, und nicht, was du sagst,
zeigt, wer du eigentlich bist.
Er hatte ihr seit ihrer Ankunft kein Haar gekrümmt, im Gegenteil. Er hatte dafür gesorgt, dass man sich um sie und um ihre Verletzung kümmerte und hatte sich Gregory, einem Mann seines Volkes, in den Weg gestellt um sie, eine Frau, die ihre Axt gegen sein Land erhoben hatte, zu beschützen.
„Caja", erhob sie die Stimme, nannte ihre eigenen Namen und deutete dabei mit ihren zusammengebundenen Händen auf sich selbst.
Er machte einen Schritt auf sie zu, ehe er sofort zu begreifen scheinend brummte: „Askwin."
Seine Augen legten sich dabei auf ihre und zum ersten Mal, erkannte sie die Farbe, die ihnen innelag.
Es war ein goldbrauner Ton.
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*Fífl (FEEF-uhl) : Alt Germanisch für Idiot
Und falls es jemanden interessiert, so sieht der Göttertempel in Uppsala heute aus:
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