Die Tragik einer Vergangenheit

Caja

Eingehüllt in den Duft von Rosenblättern wurde sie von Birdie zum Speisesaal geleitet.
Die neue Tunika in weißer Farbe und die Stoffhose passten wie angegossen.
Das lange blonde Haar trug sie offen, dass es ihr wie sanfte Wellen aus Gold über den Rücken fiel.

Trotzdessen, dass Caja dankbar dafür war, dass Askwin entgegen des Wunschs des Königs entschieden hatte ihr ein Kleid zu geben, grollte sie ihm noch immer für sein dickköpfiges Verhalten.
Ihre Lust auf ein gemeinsames Abendessen hielt sich dementsprechend in Grenzen, aber ihr stand die Möglichkeit nun einmal nicht zu, ihm einfach fernzubleiben.
Solange sie hier war, unter ein fremdes Volk gemischt und ohne den Schutz ihrer eigenen Leute, hatte sie sich an die Regeln und Vorschriften zu halten.

Mit hochgerecktem Kinn trat sie in den in die Länge gezogenen Raum ein, in dessen Mitte eine riesige Tafel mit unzählig vielen Stühlen platziert war.
Sie fragte sich im Stillen für wen diese Anzahl an Plätzen gedacht war, wenn doch nur Askwin und seine Bediensteten hinter diesen Gemäuern lebten. Die Menschen, die für ihn arbeiteten, speisten wohl kaum am gleichen Tisch mit ihrem Lord. Nicht hier in Angelland, wo die Mächtigen ihren Stand auslebten und alle anderen wie niederes Volk behandelten.

Noch ein Grund, aus dem sie ihre Heimat vermisste. Auch dort waren der Jarl und seine Familie zwar höhergestellt, aber sie betrachteten den Rest dennoch als Gleichgesinnte. Dort war niemand mehr oder weniger wert als der andere.

Cajas Blick wanderte über Henrys Gesicht, welches nicht länger zum Teil von einer Binde versteckt gehalten wurde. Sie schluckte, als sie sich der hässlichen Narbe gewahr wurde, die sich über seine Stirn, weiter über sein linkes Auge bis hin zu seiner Nase zog.
Das Werk eines Krieges, der nicht hätte sein müssen.
Die Tatsache, dass der Bursche durch seine Verletzung seine halbe Sehkraft eingebüßt hatte, erinnerte Caja an ihren Vater.

Ihre Brust zog sich zusammen, als das Heimweh sie erneut einholte. Wie lange musste sie noch in diesem Land ausharren?

Für kurze Zeit hatte es erträglich gewirkt, als sie dachte sie hätte in Askwin eine Art Seelenverwandten gefunden. Als sie nun aber seinem harten, abweisenden Blick begegnete, wurde sie sich sicher, dass sie sich getäuscht haben musste. Vielleicht waren sie doch nicht auf einer unsichtbaren Ebene miteinander verbunden.

Sie mied es ihn zu lange anzusehen und setzte sich Henry gegenüber, obwohl für ihre Person direkt neben Askwin eingedeckt worden war.

Der Unmut des Lords war spürbar, als er den Bediensteten mit einem zu energischen Fingerschnipsen deutete, sie sollten Teller, Besteck und Glas an dem von Caja gewählten Platz neu anordnen.

Eine unangenehme Stille breitete sich in dem Saal aus, die nur durch das leise Knistern des Feuers im großen Kamin durchbrochen wurde. Nicht einmal Henry wagte es dieses Mal das Wort zu ergreifen. Womöglich war er aber auch gar nicht mit dem Geiste anwesend, so nachdenklich wie er auf das glänzend polierte Porzellan vor seiner Nase starrte.

Caja fragte sich, ob es die Prinzessin war, die durch seinen Kopf wanderte.
Mitleid regte sich in ihr. Am liebsten hätte sie ihn bei der Hand genommen und ihm gesagt, dass alles gut werden würde. Früher oder später. Mit Hrodwyn an seiner Seite oder auch nicht. Der Herzschmerz, den er empfand, würde sein Ende finden. Entweder mittels einer erwiderten Liebe, oder der Akzeptanz davon, dass die Tochter des Königs nicht für ihn bestimmt war.

Aber so wie der Bursche schwieg und sich nicht rührte, gab auch sie keinen Ton von sich und sie stand auch nicht auf.

Sollte sie es riskieren und einen Blick auf Askwin werfen?
Das Verlangen brannte in ihr, seine Gesichtszüge zu lesen, um zu sehen wie er sich mit der Schweigsamkeit, die am Tisch herrschte, fühlte. Das hieß, sollte er dies zulassen. So manches Mal konnte sie ihm seine Emotionen spielend leicht ansehen, andere Male war es unmöglich zu erahnen, was in seinem Kopf vorging.
Es war unschwer zu erkennen, dass er geübt darin war das zu verbergen, von dem er nicht wollte, dass es jemand erfuhr.

Bevor sie zu ihm hinüberlinsen konnte, wurde der erste Gang aufgetischt.
Ihr Magen begann zu knurrend, als sich der Geruch der Fischsuppe sich seinen Weg in ihre Nase bahnte. War das lediglich Zufall, oder hatte Askwin gewusst, dass dies ein typisches Gericht ihrer Heimat war?

Mit Absicht ignorierend, dass der Gastgeber darüber bestimmte wann zum Essen begonnen wurde, nahm sie sich den Löffel und kostete von der Vorspeise.

Sie konnte Henrys Blick auf sich spüren und auch den des Lords. Aber das war ihr gleich.
Tatsächlich schmeckte die Suppe so gut wie sie roch, weshalb ihr Teller schneller geleert war, als jemand in diesem Raum bis hundert hätte zählen können.

Als sie das Besteck beiseite legte, begannen auch die anderen beiden zu essen.

Das Schweigen zog sich weiter hin. Keiner sagte ein Wort. Der Lord dirigierte seine Angestellten lediglich mit Winks seiner Hände, Kopfbewegungen und Fingerschnipsen.

Aus reinem Zufall wurde Sicherheit darüber, dass Askwin in Erfahrung gebracht hatte, was man im Norden aß.
Zum Hauptgang wurde Hirsch serviert. Kartoffeln mit Meersalz gewürzt zur Beilage. Das Dessert wurde durch flüssige Kost abgelöst. Roter Wein schimmerte im Kristallglas, als Caja jenes hin und her schwenkte.

Sobald sie den letzten Schluck davon hinuntergespült hatte, erhob sie sich vom Tisch. Provokant wünschte sie nur Henry einen guten Abend, bevor sie erhobenen Hauptes den Saal verließ.

Hinter der großen Tür wartete Birdie auf sie. Hatte die Magd etwas die ganze Zeit über hier ausgeharrt? Ein warmes Lächeln umspielte die Lippen der Älteren, während sie Caja musterte. „Darf ich Euch auf Euer Zimmer geleiten und Euch dabei behilflich sein, Euch für die Nacht herzurichten?"

„Schluss mit dieser höflichen Form der Anrede", antwortete die Jüngere, den Blick zu den beiden Männern in Rüstung schweifen lassend, die den Speisesaal bewachten, als könnten jeden Moment Banditen einfallen und den Lord ermorden.
War er nicht in der Lage sich selbst zu verteidigen? Brauchte er dafür die Hilfe anderer? Was war er nur für ein Mann. Keiner, zu dem sie sich hingezogen fühlen sollte. Keiner, der ihrer wert gewesen wäre. Und dennoch. Unter der Wut auf ihn verbarg sich noch immer Begierde.

„Verzeiht mir, aber es ist mir nicht gestattet auf andere Weise mit Euch zu reden." Birdie bemühte sich darum nicht ins Stottern zu geraten. Ihre Augen huschten immer wieder nervös zu den anderen Anwesenden.

Caja begriff. „Ist es möglich mein Zimmer erst später aufzusuchen? Ich würde gerne mehr von dieser Burg erkunden. Gibt es hier Orte, an denen man unter freiem Himmel wandeln kann?" Sie wollte noch nicht zu Bett gehen. Die Nacht war doch noch so jung. Außerdem gab es hinter diesen Mauern sicherlich einige Geheimnisse zu lüften, die ihr mehr über Askwin erzählen würden.

„Aber ja. Einen Garten. Wollt Ihr, dass ich Euch dorthin begleite?" Birdie kaute auf ihrer Unterlippe.

Als Caja nickte, setzte sie sich sogleich in Bewegung und zeigte ihr den Weg. Die Jüngere schritt neben der Magd her und betrachtete dabei unentwegt ihre Umgebung.
Sie musterte den dunklen Stein, aus welchem diese Festung erbaut worden war. Die schön geschwungenen Kerzenhalter und -ständer, die die Flure erhellten und Schattenspiele an den Wänden erzeugten. Die Gemälde, die Landschaften, aber auch Gesichter zeigten.

Eines davon zog Cajas Aufmerksamkeit länger auf sich. Es zeigte eine Frau, deren Züge denen von Askwin ähnelten.

„Das war die Mutter des Lords." Ehrfurcht und Trauer schwangen in der Stimme Birdies mit. „Möge Gott ihrer Seele gnädig sein."

Der Maler hatte die Schönheit der Verstorbenen perfekt eingefangen. „Was ist mit ihr geschehen?"

„Sie starb im Kindbett. Eine tragische Geschichte."

„Erzähl mir davon." Caja konnte sich nur mit Mühe von dem Abbild losreißen. Es war als hätte es eine ähnliche Anziehungskraft auf sie, wie der Lord selbst.
Wie schrecklich es sein musste seine Mutter direkt am Tag seiner Geburt zu verlieren.
Caja wollte es sich nicht ausmalen. Solvey bedeutete die Welt für sie. In ihr fand sie immer einen Menschen, der ihr mit Rat und Tat zur Seite stand. Ihrer Mutter hatte sie stets von Allem erzählen können. Nie hatte sie ihre Tochter verurteilt. 

Die beiden Frauen nahmen den Weg wieder auf, während Birdie dem Wunsch Cajas nachkam: „Es ist noch nicht lange her. Vier Jahre sind es nun. Der Vaters des Lords war schon lange verstorben, so verliebte sich die Mutter neu und wie es Gott wollte, schenkte er ihr ein zweites Kind. Der Lord zürnte ihr nie für diese Gegebenheit. Im Gegenteil. Er erfreute sich an ihrem neuen Glück, fieberte dem Tag entgegen, an dem er seine Schwester in den Armen halten würde. Doch als jener kam, brachte er nur Trauer anstelle von Begeisterung. Die Mutter starb wenige Stunden nach der Geburt an Blutverlust und das kleine Mädchen, dieses unschuldige Geschöpf, folgte ihr nach nur fünf Tagen. Der Lord hatte händeringend nach einer Amme gesucht, die seine Schwester großziehen konnte, doch als er eine fand, wollte das Neugeborene nicht an die Brust. Es verweigerte das Essen und erlag dem Hungertod."

Cajas Härchen stellten sich bei dieser grausamen Erzählung auf. Sie rieb sich die Arme, als fröstelte ihr. „Der Vater. Was ist ihm widerfahren?", fragte sie nach einer kurzen Pause.
Zeitgleich erreichten sie den Garten. Eine kühle Brise umfing sie und spielte mit ihrem blonden Haar. Auch hier erhellten Fackeln die Wege, die aus feinen weißen Kieseln geschaffen worden waren.
Trotz der Düsternis erkannte sie die Blumen, die in den unterschiedlichsten Farben blühten und ihre Düfte verströmten. 

„Das weiß ich auch nur von Erzählungen. Ein Jagdunfall, so sagt man sich, als der Lord erst sieben Jahre zählte", fuhr Birdie fort. „Der arme Junge musste mit ansehen, wie sein Vater von den Hauern eines Ebers durchlöchert wurde. Danach war nichts mehr wie zuvor. Es heißt, er hätte nie um ihn getrauert. Ihm wäre dazu gar keine Zeit geblieben. Als einziger Erbe hatte er sofort den Titel seines Vaters zugesprochen bekommen und wäre Herr über die Wasserlande geworden."

Das erklärte, weshalb Askwin so gut darin war seine Emotionen zu verbergen. Nicht nur vor anderen, sondern auch vor ihm selbst.
Bereits früh hatte er es lernen müssen. Zu früh.
Caja beneidete ihn nicht darum, keine Kindheit gehabt zu haben.

Das Wissen um diese Geschichte, ließ sie ihn so viel besser verstehen. Sie bekam beinahe ein schlechtes Gewissen bei dem Gedanken daran, dass sie ihn für seine Starrköpfigkeit verurteilt hatte.

Sollte sie sich womöglich bei ihm für ihr Verhalten entschuldigen?
Aber dann hätte sie ihm verraten müssen, dass sie von seiner Vergangenheit wusste. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er wollte, dass sie davon erfuhr. Zumindest nicht aus zweiter Hand. Und selbst wenn, hätte er ihr sicher keinen Glauben geschenkt, dass sein Benehmen mit seinen Traumata zusammenhing. Dass er einfach Angst davor hatte, sich jemandem zu öffnen, aus Furcht davor denjenigen wieder zu verlieren.
Und die Sicherheit, dass sie bleiben würde, konnte sie ihm nicht geben. Sie gehörte hier nicht her.

„Alles in Ordnung, MyLady?" Birdies fasste Caja sanft an den Arm.

Erst da wurde diese sich darüber bewusst, dass sie regungslos auf den Rosenbusch vor ihrer Nase gestarrt hatte. „Ja. Ich glaube, ich sollte nun doch besser zu Bett gehen."

Sie ließ sich von der Magd zurück auf ihr Zimmer geleiten. Um sich in den vielen Gängen des Anwesens auszukennen, war es noch zu früh. Die Burg glich einem einzigen Irrgarten. Wären da nicht die verschiedenen Gemälde gewesen, hätte ein jeder Flur dem anderen geglichen.
Wieder fragte sich Caja, wozu jemand so ein riesiges Heim benötigte.

Bridie wollte Caja dabei helfen ihre Kleidung abzulegen und in ein Nachtgewand zu schlüpfen, aber die Jüngere lehnte dankend ab. Wer war sie, wenn sie solch einfache Dinge nicht mehr allein schaffte? Sicher nicht länger die Tochter des Jarl.

Anschließend kehrte Ruhe im Zimmer ein. Die Magd überließ Caja sich selbst.

Seufzend sank diese auf dem Bett nieder. Ihre Finger streichelten über den Stoff aus Seide, der Kissen und Decke überzog. Ein Stich fuhr ihr durch die Brust. Erneut packte sie das Heimweh. Sie vermisste die warmen Felle ihrer eigenen Schlafstätte. Den Geruch von gegerbtem Leder.
Einzig das Knistern des Feuers blieb gleich.

Ohne sich zuzudecken legte Caja sich nieder. Sie starrte an die Wand über ihrem Kopf, die von filigranen Zeichnungen geziert wurde.
Sie bildete sich ein Wellen darin zu erkennen.
Nur wenig später schloss sie die Augen und stellte sich das Rauschen des Meeres vor.
Sie erinnerte sich an das Gefühl, als das kühle Nass sie umfangen hatte, während sie durch den Ozean auf Angellands Küste zugeschwommen war.
Niemals hätte sie zu diesem Zeitpunkt für möglich gehalten, was sie hier erwartet hatte.

Irgendwann glitt sie in einen Schlaf. Doch der Traum war kein gewöhnlicher. Schnell erkannte sie, dass es sich um eine Vorsehung handelte.

Ihr Herz begann zu rasen, als die Götter ihr die Bilder der Zukunft zeigten. Ein Schiff mit der Galionsfigur eines Drachen. Narben, die sich in Haut fraßen. Ein ergrautes, blindes Auge. Blut. Die schlagenden Herzen und der weiße Vogel - zwei Symbole, die sie nicht zum ersten Mal sah.

Anders als so häufig war ihr die Bedeutung dieser Botschaft sogleich bewusst.
Schnell atmend schreckte sie auf. Sich an die Brust fassend, die Augen auf das Fenster gerichtet, hinter dessen Glas sich die dunkle Nacht abzeichnete. Mondlicht fiel ins Zimmer, brach sich auf den Fliesen. Der Anblick erinnerte an einen Sternenregen.

Sie strich sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht, bevor ihr Lachen durch den Raum hallte. Glockenhell und voller Freude.

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