Die Bürde eines Heerführers
Askwin
„Es gilt nun Geduld zu haben", raunte er seinem übermütigen Knappen zu, der nervös wie ein aufgeschrecktes Rebhuhn von einer in die andere Ecke des Zeltes lief.
„Aber wäre es nicht geschickter, direkt anzugreifen, noch bevor sie ein Ziel ins Auge fassen? Verzeiht meine Direktheit, Sir Seymour." Henry klang abgehetzt, so sehr erlag er dem Chaos seiner unruhigen Gedankengänge.
Askwin hielt einen Becher Wein in der Hand, saß auf dem mit Teppichen ausgelegten Boden und beobachtete zähneknirschend den Jüngeren. Hätte er einen Tisch in der Nähe gehabt, so hätte er nun mit der Faust auf diesen geschlagen, um den Burschen gottverdammt nochmal zum Stehen zu bringen. „Trägst du den Titel des Heerführers, oder ich?", bellte er stattdessen nur und erhob sich dann vom Untergrund, der weniger bequem war, als er aussah.
Er drückte Henry den Krug mit der klaren, roten Flüssigkeit in die Hand. „Hier, damit du eine Aufgabe hast."
Ratlos musterte der Knappe das Getränk seines Herren, hielt aber endlich in seinem endlos und sinnlos wirkenden Marsch inne. Er kratzte sich am Hinterkopf. „Ich verstehe nicht, Sir ...", murmelte er.
„Du begreifst so Vieles nicht. Aber so ist das, wenn man jung ist." Der Ältere trat an den Ausgang seines Zeltes und warf einen Blick nach draußen. Die Dämmerung breitete sich über dem Lager aus, legte ihren dunklen Schleier über sie, der hier und dort vom Licht der Pechfackeln, die in die Erde gerammt worden waren und einem größeren Feuer in der Mitte, durchbrochen wurde.
Manche Silhouetten seiner Männer huschten geschäftig von rechts nach links, anderen hockten still beisammen, tranken ihren Wein und starrten in die Flammen.
Askwin konnte ihre Gedanken beinahe hören. Sie machten sich Sorgen wegen des bevorstehenden Kampfes. Wie jeder im Land hatten natürlich auch sie gehört, wie skrupellos die nordischen Barbaren auf dem Schlachtfeld vorgingen und auch davon, dass sie scheinbar keine Angst vor dem Tod hatten, sondern gerne ihre Leben ließen.
„Plant Ihr wirklich erst anzugreifen, wenn sie es tun?" Henry war direkt direkt hinter ihm aufgetaucht. Er konnte den heißen Atem des Burschen im Nacken spüren.
Askwin seufzte auf, fuhr sich mit der flachen Hand durch das Gesicht und wandte sich dann wieder um. „Ich will einen ehrlichen Kampf", erklärte er seine Beweggründe, oder versuchte es zumindest. „Sie in der Dunkelheit, im Schutze der Nacht, anzugreifen, würde uns nicht besser machen als sie. Wir sind das gesittetere und gehobenere Volk und das sollten wir auch verkörpern." Er machte eine kurze Pause, zwirbelte seinen Bart etwas, den es bei nächstbester Gelegenheit wieder zu trimmen galt. „Außerdem warte ich noch auf Hrothgars Bericht. Ich habe ihn losgeschickt, um das Lager der Nordmänner auszuspähen. Ich will wissen, wie viele es sind und ..."
Kurzerhand nahm er Henry den Weinkrug wieder aus der Hand, genehmigte sich einen Schluck. „Und ich will erfahren, wer ihr Anführer ist."
„Erzählte Godric Euch nicht bereits von ihm?" Neugierde funkelte in den Augen des jungen Knappen.
„Er erwähnte lediglich, er wäre groß gewesen und hätte eine Narbe auf dem Gesicht getragen", brummte Askwin.
Henry zog die Augenbrauen nach oben, schüttelte den Kopf etwas. „Diese Barbaren ...", flüsterte er bei dem Gedanken an das entstellte Abbild des Befehlshaber der Nordstämmigen. „Sie müssen vom Teufel höchstpersönlich entsandt worden sein."
„Hast du Angst?" Askwins goldbraune Iriden schimmerten im schwachen Licht der beiden kleinen Öllampen, die das Innere des Zeltes weitestgehend erhellten.
Henry zögerte ihm zu antworten und setzte sich ohne die Erlaubnis seines Herren auf die Teppiche. Dieser ließ ihn wortlos machen. „Es wäre gelogen, würde ich sagen, ich hätte keine", meinte der Knabe dann und betrachtete einen kurzen Moment lang seine hageren Finger, die zwar gelernt hatten ein Schwert zu schwingen, denen aber die Erfahrung fehlte, die in Askwins starken Händen steckte.
„Was, wenn ich sterbe, Sir Seymour? Ich weiß zwar, dass das Paradies Gottes auf mich wartet, doch ich fühle mich nicht bereit, diese Erde zu verlassen. Es gibt noch so viele Dinge, die ich erleben möchte."
Askwin konnte sich eines erheiterten Lachens nicht erwehren. Als er aber Henrys unglückliche Miene bemerkte, verstummte er wieder, lief auf den Knappen zu und ging vor ihm in die Hocke. „Henry, schlag dir die Prinzessin endlich aus dem Kopf."
„Aber es geht nicht um Hrodwyn!", schnaubte der Jüngere zunächst entrüstet, wurde dann wieder leiser. „Nicht nur ... Ich weiß doch, dass ich sie niemals zu meiner Frau werde nehmen können, aber ich will einmal heiraten, Sir Seymour, wenn es auch nicht sie sein wird. Ich will Kinder, ein eigenes Haus, einen Titel, wie den Euren."
Die Hand des Heerführers legte sich auf die Schulter des Jungen. „Und all dies wirst du einmal besitzen", meinte er mit warmer Stimme, dieses Mal voller Ernst. Er würde dem Burschen, der mehr noch einem Kind als einem Mann glich, die Wünsche und Träume mit Sicherheit nicht rauben.
In einer Welt voller Gewalt, Boshaftigkeit und Schmerz waren diese Dinge die Einzigen, die einem oftmals noch blieben. Wenn man damit aufhörte zu hoffen und sich schöne Szenarien vorzustellen, was blieb einem dann noch, außer Angst und Wut?
Ein unsicheres Lächeln bildete sich auf Henrys Lippen und er nickte. Seine Augen sprachen mehr, als es Worte nun getan hätten. Askwin konnte von ihnen ablesen, wie sehr ihm der Knappe doch vertraute.
„Sir Seymour!", ertönte es mit einem Mal außerhalb des Zeltes und brachte Askwin dazu, eine nichtssagende Miene aufzusetzen und sich aufzurichten.
Er wandte sich dem Mann zu, der nur wenige Sekunden später eintrat. Dieser verneigte sich knapp vor ihm, ehe er verkündete: „Hrothgar ist zurückkehrt."
Askwin nickte, deutete ihm mit einer fortscheuchenden Handbewegung wieder zu verschwinden und drehte sich dann nochmals zu Henry um. „Warte hier, bis ich zurückkehre." Er leerte seinen Wein, warf den Krug dann achtlos auf die Teppiche, ehe er sich nach draußen begab und sich nach dem Späher umsah.
Hrothgar wartete nicht weit entfernt auf Askwin und kam ihm entgegen, sobald er ihn erblickte.
Bevor er aber zu sprechen beginnen konnte, zog der Heerführer ihn beiseite und lief mit ihm an den Rand des Lagers. Er sollte der Erste sein, der die wichtigen Informationen zu hören bekam, um sich dann genauere Gedanken zum weiteren Vorgehen machen zu können.
Als sie sich in ausreichender Entfernung befanden, wies er ihn mit einem Kopfnicken an, ihm Bericht zu erstatten.
Der Mann zog sich die dunkelbraune Lederkappe vom Kopf und hielt sie sich an die Brust, gab damit seine ergrauten, kurzen Haare zu erkennen. „Es waren bestimmt zwei Dutzend Männer und Frauen, Sir Seymour", begann dann er in leisem Tonfall zu erzählen.
Askwins Augenbrauen hoben sich und seine Stirn legte sich in Falten. „Frauen? Seid Ihr Euch sicher, dass es keine langhaarigen Männer waren?" Er konnte sich bei bestem Willen nicht vorstellen, dass die nordischen Barbaren ihre Damen mit in den Kampf schickten.
„Aber wenn ich es Euch doch sage, Sir. Ich weiß, was meine Augen gesehen haben. Der Jüngste mag ich nicht mehr sein, aber meine Sehkraft ist so gut wie die von einem jungen Burschen", schnaubte Hrothgar mit leichtem Ärger über den Unglauben des Befehlshabers.
„Sie ahnten nichts davon, beobachtet zu werden", sprach er weiter, als Askwin sich nicht mehr dazu äußerste. „Ich denke, ich konnte ihren Anführer beobachten. Er saß umringt von den anderen am Feuer. Sie redeten und aßen, als wäre nichts. So, als würden sie gar nicht planen, die Dörfer zu überfallen." Leicht schüttelte er den Kopf. „Wie es gewirkt hat, ist der Hüne blind auf einem Auge. Er ist groß und breit gebaut, war gekleidet in Felle und Leder. Die Männer und Frauen trugen keine Rüstungen, Sir. Ich konnte Äxte und Messer, aber nur wenige Schwerter an ihren Gürteln baumeln sehen."
„Das ist gut, nehme ich an", meinte Askwin mehr zu sich selbst. „Eisen schneidet zumindest leichter durch gegerbte Tierhäute, als durch Stahl. Redet weiter. Was konntet Ihr noch beobachten?"
„Ich wollte schon wieder gehen, als sich zu den Anwesenden eine Frau gesellte", fuhr Hrothgar auf sein Appell hin fort. „Würde ich es nicht besser wissen, würde ich behaupten, auch sie ist von hohem Rang. Sie setzte sich zu dem vermutlichen Anführer und begann eine Geschichte zu erzählen, von der ich aber nichts verstand. Sie sprechen eine völlig andere Sprache als wir, Sir. Anschließend begannen die anderen Barbaren zu jubeln."
Askwin ließ sich die Worte des Spähers durch den Kopf gehen, brummte dabei leise nachdenklich und legte sich den Zeigefinger an das Kinn. „Wir sind auf jeden Fall in der Überzahl", stellte er dann fest, ohne auf die Erzählung von der merkwürdigen Szenerie mit der nordstämmigen Frau einzugehen. Sie erschien ihn in diesem Augenblick schlichtweg nicht relevant genug. Wichtiger waren ihm die Informationen bezüglich der Anzahl dieser Barbaren und die über deren vermeintlichen Anführer.
„Glaubt Ihr sie werden es auf Arnside oder auf Devonshire absehen?"
„Wenn Ihr mich fragt, Sir, dann hoffe ich auf Arnside. Ich bin mir sicher, dass sie nicht um die mit Treibsand bedeckten Gebiete an der Küste wissen. So werden sie einige Mitglieder ihrer Truppe verlieren, noch ehe sie in die Nähe des Dorfes kommen. Wenn Gott uns aber nicht gut gesinnt ist, dann werden sie Devonshire angreifen und davon gehe ich eher aus, wenn ich ehrlich bin. Ich habe gehört, sie zielen auf Schätze und Reichtum ab. Wenn sie den goldenen Vogel auf der Turmspitze der Kirche entdecken, dann werden sie sicherlich diesen Ort als Ziel auserwählen."
Der Heerführer hörte sich die Meinung des Spähers an, nickte dann. „Ich danke Euch."
„Sir." Hrothgar verbeugte sich vor ihm, suchte dann das Weite und gestellte sich zu dem Teil der anderen Männern, die am Hauptfeuer saßen.
Askwin wartete noch einem Moment im Schutze der Dunkelheit, grübelte etwas nach, ehe er sich in Bewegung setzte und nach Gregory suchte. Nach dem Mann, auf dessen Ansichten er sich am ehesten verlassen konnte, denn er war vor ihm der Heerführer des Königs gewesen.
Als seine Frau im Sterben gelegen war, hatte er den Titel freiwillig abgegeben, um ganz für seine Liebste da sein zu können und als sie schließlich ihren letzten Atemzug getan hatte, hatte er ihn nicht wieder zurückgefordert, sondern ihn ganz und gar Askwin überlassen. Er wäre zu alt, hatte er gesagt und es wäre an der Zeit das Heer durch jüngeres Blut führen zu lassen. Doch in der königlichen Gilde war er geblieben. Immerhin hatte er sich im Knabenalter Harolds Vater verpflichtet und er hatte zu keiner Sekunde daran gedacht, sich diesem Eid zu entziehen.
Er fand den Älteren schließlich in dessen Zelt vor. Trotz der Tatsache, dass Gregory schon weit über fünfzig Jahre war, waren seine Schultern breit gebaut. Er war kein Mann, mit dem Askwin sich freiwillig angelegt hätte. Seine Erfahrung und die Kraft, die ihm noch immer in den Knochen steckte, hätten Askwin mit Leichtigkeit gleich einem angespitzten Pfahl in den Erdboden gerammt.
Gregory musste sich nicht zu seinem Gast umdrehen, um zu wissen, wer seine vorübergehende Bleibe so eben betreten hatte.
„Du verlangst nach meiner Meinung, habe ich recht?", hallte seine feste Stimme durch das Innere des Zeltes. Er war damit beschäftigt seine Rüstung zu polieren. Normalerweise wäre dies die Aufgabe eines Knappen gewesen, aber Gregory hatte niemals einen gefunden, der seinen Ansprüchen gerecht geworden war und so hatte er irgendwann beschlossen, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen.
Askwin trat näher an ihn heran. „Das tue ich in der Tat", antworte er ihm leise, als könnte er ihn sonst bei seiner Arbeit stören.
„Hrothgar ist zurück. Er sagte mir, es wären gut zwei Dutzend Barbaren in dem feindlichen Lager. Er hätte keine Rüstungen wie die unseren gesehen und sie hätten überwiegend Waffen wie Äxte und Langmesser bei sich, nur wenige Schwerter. Ich vermute sie werden bei Anbruch der nächsten Nacht Devonshire angreifen."
Der ehemalige Heerführer unterbrach sein Tun von selbst und wandte sich Askwin zu, der in mancherlei Hinsicht wie der Sohn für ihn war, den Gott ihm niemals vergönnt hatte. Sein graues Haar erschien im Licht der Kerzen wie glänzendes Silber und seine graublauen, von Falten umrundeten Augen musterten den Jüngeren eindringlich. „Natürlich werden sie das. Hast du vergessen, welche Bürgerschaft in Devonshire lebt? Es sind keine armen Bauern, wie die in Arnside, die sich vom geringen Ertrag des Fischfangs über Wasser halten."
Devonshire war ein Dorf, das vom Handel geprägt war. Viele Geschäftsmänner vertrieben dort ihre Waren und kurbelten so die Wirtschaft in dem kleinen Ort an. Er mochte nicht so reich sein wie Winchester, die Hauptstadt Wessex', aber es gab dort auf jeden Fall mehr zu holen, als in anderen Gemeinden, die die gleiche Größe maßen.
„Sollen wir uns ihnen in den Weg stellen, bevor sie ihr Ziel erreichen?", fragte Askwin in den kleinen, stickigen Raum hinein.
Gregory musste etwas lachen, erhob sich dann von seinem kleinen Hocker und richtete sich vor seinem Gegenüber auf. Er überragte ihn um gut anderthalb Köpfe.
„Ich dachte du besäßest genug Grips, um derartige Belange selbst klären zu können." Die Worte waren keinesfalls abwertend gemeint. Schon lange bestand zwischen den beiden Männern eine Art von Freundschaft.
Gregory legte Askwin die Hand an die Schulter. „Wenn wir jetzt aufbrechen, dann erreichen wir Devonshire weit vor ihnen und können sie hinter dem niedrigen Gemäuer willkommen heißen."
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