Das Geheimnis der Klippen

Caja

Der kalte Meerwind umspielte ihr Haar, ließ es durch die Lüfte tanzen. Es roch nach Salz und Freiheit, während sie dort an der Reling stand und hinab in die tiefen Fluten blickte.

Ihr Herz schlug ihr bis zum Halse, denn es sollte nicht mehr lange dauern bis Halvar, der Späher des Schiffes, Land entdecken würde. Vor vier Tagen waren sie am frühen Morgen aufgebrochen.
Solvey hatte Caja gar nicht wirklich ziehen lassen wollen und sie nur ungern aus ihrer innigen Umarmung entlassen.
Doch die junge Seherin war mehr als nur bereit gewesen, auf das Deck zu steigen, das Daegal einst erbaut hatte und auf ihm über den Ozean zu segeln.

Das Rauschen der Wellen löste Glücksgefühle in ihr aus, wie keine zweite Sache. Sie wusste einfach, dass sie hierfür geboren war. Für diese Reise und dafür, Angelland mit eigenen Augen zu sehen.

„Träumst du schon wieder?", hörte sie eine ihr vertraute Stimme, wandte sich nur zögerlich vom Anblick des Meeres ab.
Munin stand hinter ihr, beobachtete sie mit einem Grinsen und schüttelte dabei leicht den Kopf. „Nicht einmal ich habe mich so sehr über meine erste Segelfahrt gefreut." Sein Gesicht bedeckten Bemalungen in schwarzer und roter Farbe.
Sie planten weiter unten im Küstengebiet anzulegen, als beim letzten Mal, in der Hoffnung, dort sogleich auf reich bestückte Dörfer zu stoßen.

Auch wenn Caja sich mehr danach sehnte zu spüren, wie sich der Erdboden Angellands unter nackten Füßen anfühlte, zu sehen, welche Farbe der Sand am Strand hatte und zu erfahren, ob die Wälder vom gleichen tiefgrünen Ton waren, wie die in ihrer Heimat, so war sie dennoch auch bereit zuerst dem Wunsch ihres Vaters und dessen Männern und Frauen nachzugehen - Plündern und Rauben.

Sie seufzte, lächelte ihren Freund dann aber an, trat näher an ihn heran und legte ihm den Kopf auf die Schulter. Er umfasste ihre Hüfte sanft mit seiner Hand und hielt sie eng bei sich.
„Was, wenn wir nicht alle heil zurückkehren?", flüsterte sie. Es war weniger die Angst vor dem Tod, die sie da sprechen ließ, denn die hatte sie nicht. Viel mehr war es die Sorge darum, jemanden zu verlieren, den sie liebte und der ihr wichtig war.

Ihr Blick flog hinüber zu ihrem Vater, der mit Halvar und dessen Frau Hedda sprach. Der Späher ließ dabei den Horizont nicht aus den Augen.
Schon einmal hatte Caja den Tod ihres Vaters fürchten müssen. Was, wenn er dieses Mal auf dem Schlachtfeld fiel? Was, wenn sie selbst ihr Ende in Angelland finden würde?
Ihre Mutter würde in Kummer und Trauer versinken, da war sie sich sicher.

„Jeder, der auf dieser Reise sein Leben verliert, kehrt als Held für immer in die riesigen Hallen Walhallas ein. Und eines Tages werden wir uns dort alle wiedersehen", brummte Munin und streichelte ihr dabei beinahe schon sanft die Schulter.

Tief atmete Caja den Geruch nach frisch gegerbtem Leder ein, der an ihm haftete und löste sich dann behutsam aus seiner Berührung. „Du hast recht", flüsterte sie und begegnete seinen Augen, die vor freudiger Erwartung auf die bevorstehenden Schlachten funkelten.
Er hatte ihr erzählt, dass es sich anfühlte wie ein Rausch, wenn man zwischen die Kämpfenden geriet. Einer der besser noch war, als der, der durch einen Umtrunk zu viel entstand.

Caja hatte es stets geliebt mit Munin auf ihrem persönlichen, ganz geheimen und versteckten Platz hinter ihrem Heimatdorf zu trainieren. Wie ihr Herz dabei gerast hatte, das Schwert in ihrer Hand beinahe wie von Odin geführt durch die Luft geschwungen war und wie es geklungen hatte, wenn Munins Waffe auf ihrem Schild abgeprallt war.
Aber noch nie hatte sie getötet. Keinen Menschen zumindest.

Ihr Vater hatte ihr stets versichert, dass es keinen Unterschied machte, ob man einem Reh oder einem Mann die Kehle durchschnitt.
Eine Person ihres Lebens zu berauben, wäre ihm sogar stets leichter gefallen, als es einem Tier zu nehmen, denn die Seelen der Menschen waren oft vergiftet und unrein.

Ob sie seine Meinung am Ende der Reise teilen würde? Es war unabdingbar, dass sie in Daneland ihren ersten Mord begehen würde, das wusste sie. Sie würde Seite an Seite mit Melker und all den anderen kämpfen, durch die Dörfer ziehen, rauben und plündern und die Häuser in Brand stecken.

Bei dem Gedanken an Feuer schloss sie die Augen. Sie liebte den Anblick von züngelnden Flammen, deren Wärme und Farbe.

„Land!", schallte es mit einem Mal übers Deck und brachte sie dazu, die Lider wieder aufzuschlagen.
Munin stürzte neben ihr an die Reling, umgriff sie und richtete den Blick auf das, was weit entfernt am Horizont aufgetaucht war.

Auch Caja spähte hinüber zu dem Gebilde, das sich vom Himmel und dem Wasser abhob. Es sah winzig aus von hier.

Hinter ihnen brach das Chaos aus. Munin wandte sich schließlich auch von der Erscheinung Angellands ab, warf Caja ein Grinsen zu und mischte sich dann unter die anderen Männer und Frauen am Schiff, um Hilfe zu leisten. Er beeilte sich auf seinen Platz zu kommen und im Einklang mit den anderen, begann er das Ruder zu stoßen.

Aber die junge Frau blieb wo sie war, konnte ihren Blick nicht mehr von dem lösen, was sie sich so lange zu sehen erträumt hatte.
Und mit jeder Minute die verstrich, wurde das Land, dem sie sich näherten größer und größer.

Ihr Herz klopfte schneller. Sie spielte mit dem Gedanken, die Reling zu erklimmen, in die Fluten zu springen und den restlichen Weg schwimmend zurückzulegen. Das Meer würde sie bestimmt sicher an die Küste bringen.

Mit jedem Meter, türmte sich das Land höher und höher vor ihnen auf. Caja konnte bereits den Sand sehen, der im Licht der Sonne funkelte wie pures Gold.

Kurz warf sie einen Blick über ihre Schulter, um sich zu vergewissern, dass ihr Vater und auch keiner der anderen sie beobachtete. Mit dem Bewusstsein darüber, dass niemand schnell genug reagieren könnte, um sie zu packen und sie zurück auf das hölzerne Deck zu ziehen, gab sie ihrer Sehnsucht schließlich nach, stieg auf die schmale Reling und landete mit einem lauten Platscher im Wasser.

Das kalte Nass begrüßte sie, umhüllte sie wie eine Decke aus Eis. Sie tauchte ganz darin ein, kämpfte sich aber schnell wieder nach oben und durchbrach die Oberfläche. Prustend sah sie sich um, fand die Orientierung schnell wieder und fokussierte ihr Ziel.

Dröhnende Stimmen drangen von oben zu ihr herab. Als sie den Blick hob, erkannte sie ihren Vater, der mit kreidebleichem Gesicht zu ihr hinunter sah. Neben ihm standen Munin, Hedda und zwei weitere Besatzungsmitglieder. Als Melker aber erkannte, dass es ihr gut ging, schüttelte er nur den Kopf.
Der Wind trug seine Worte zu ihr: „Nun will sie nicht mehr nur ein Vogel, sondern auch ein Fisch sein!"

Sie grinste ihn an, ehe sie sich vom Schiff abwandte und begann mit kräftigen Zügen in Richtung Küste zu schwimmen.
Die Kälte des Meeres ließ sie sich dabei lebendig fühlen.
Schlussendlich erreichte sie das Land zuerst, kämpfte sich aus dem Wasser, das an ihrer Kleidung und an ihrem Haar zog. Es wirkte, als wolle sie es gar nicht mehr gehen lassen.

Als sie keuchend vor Erschöpfung, aber mit reiner Freude im Herzen den nachgiebigen Untergrund unter ihren Stiefeln spürte, blickte sie auf die rauschenden Wellen zurück.
Für einen Moment machte sich ein unbehagliches Gefühl in ihr breit. Hatte der Gott Njörðr* sie womöglich wirklich davon abhalten wollen, Angelland zu betreten?

Ihre Gedanken hielten aber nicht lange an. Viel zu glücklich war sie darüber, hier zu sein.
Sie befreite ihre Füße von dem nassen Schuhwerk und vergrub ihre nackten Zehen im feuchten Sand. Bildete sie es sich nur ein, oder war er tatsächlich weicher als der in ihrer Heimat?
Auch die Luft fühlte sich so unglaublich klar in ihren Lungen an.

Ihr war kalt, doch das störte sie nicht. Sobald das Schiff angelegt hatte, würde sie ihre nasse Kleidung einfach durch trockene tauschen.
Sie strich sich das vom Ozean geküsste Haar aus dem Gesicht und nutzte die Zeit die ihr blieb, bis der Rest ihres Volkes nachrücken würde und schritt die Küste ein Stück weit ab.

Dabei behielt sie das Langskip* aus dem Augenwinkel im Blick. Gerade wollte sie sich dem offenen Meer wieder zuwenden, als etwas anderes ihre Aufmerksamkeit auf sich zog.
Oberhalb einer der vielen Klippen, die den Strand umgaben, war etwas Silbernes im Licht der Sonne aufgeblitzt.
Sie sah nach oben, versuchte durch zusammengekniffene Lider zu erkennen, was genau die Strahlen des Himmelskörper reflektiert hatte.
Doch so sehr sie sich auch darum bemühte, es herauszufinden, das Etwas gab sich kein zweites Mal zu erkennen.

Sie wusste nicht wie lange sie dort ausgeharrt hatte, in der Hoffnung das Geheimnis doch noch zu lüften, doch schließlich wurde ihre Konzentration durch das Geräusch von Schritten mehrerer Personen von der Klippe fortgelenkt.

Es waren ihr Vater und all jene, die mit ihnen gereist waren.
Munin ging dicht neben Melker her, warf Caja andere Kleidung zu und überreichte ihr dann ihre kleine, aber deshalb nicht minder gefährliche Streitaxt, die sie mitsamt der Besatzung an Deck des Schiffes zurückgelassen hatte.

Sie nahm das gut bearbeitete Metall mit dem fein geschliffenen Griff aus dunklem Fichtenholz entgegen, ebenso die trockene Garderobe.
„Geh und zieh dich um. Dann hol uns ein. Wir gehen Richtung Westen, suchen uns einen Weg, der uns auf die Klippen bringt und werden in einem nahegelegenen Wald unser Nachtlager aufschlagen", erklärte ihr Vater den Stand der Dinge brummend, schüttelte wiederholt kurz den Kopf beim Anblick ihrer nassen Mähne, die ihr im Gesicht klebte.

Dann trieb er seine Männer und Frauen an, führte sie weiter an der Küste entlang.
Caja suchte sich auf das Geheiß Melkers hin einen geschützten Ort zwischen den Felsen, entledigte sich der nassen Plünnen*, tauschte sie gegen eine graue Tunika mit langen Ärmeln, die ihr bis knapp über die Knie ging und eine schwarze Leinenhose.
Über das Oberteil zog sie eine Weste aus dickem, dunkelbraunen Leder, die so gearbeitet war, dass sie aussah, als würde sie aus Drachenschuppen bestehen. Ihre Schulterbereiche waren durch schwere Eisenketten verstärkt, ebenso wie die Stelle oberhalb ihrer Brust.
Mit gekonnten Handgriffen schnürte Caja die Weste eng um ihren Leib, wohlwissend, dass sie ihr Schutz im Kampf sein würde.

Das nasse Hemd, das sie zuvor noch am Körper getragen hatte, zerriss sie und trennte ein dünnes Linnen* davon ab, mit dem sie ihr Haar zusammenband und somit ihr Gesicht davon befreite.
Sobald sie das Nachtlager aufschlagen würden, würde sie die blonden Strähnen so flechten, sie ihre Mutter sie es einst gelehrt hatte.

Bevor sie losging legte sie sich noch einen Mantel aus warmen Hirschfell über den Rücken. Dieser würde ihrem vom Meerwasser ausgekühlten Körper guttun.

Sie folgte den Abdrücken, die ihre Gefolgschaft im Sand hinterlassen hatte und holte recht schnell zu ihr auf.

Munin erblickte Caja noch vor ihrem Vater und  legte seinen Arm um ihre Schulter. „Hast uns einen ganz schönen Schrecken eingejagt, als du einfach vom Schiff gesprungen bist", flötete er grinsend. „Ich wollte dir schon nachspringen, als du wieder an der Oberfläche aufgetaucht bist."
Auch sie trug ein breites Lächeln auf den Lippen, wollte ihm erklären, dass es sich einfach richtig angefühlt hatte, als er plötzlich ernst wurde. „Du weißt, wir alle lieben deinen Sinn für Wildheit, aber im Kampf solltest du besser nicht so leichtsinnig handeln. Da ist besser Schluss mit deiner Träumerei. Ich will dich am Ende nicht vom Boden pflücken müssen, auch wenn es natürlich eine Ehre wäre, wenn du in Walhalla einkehren dürftest. Und dein Vater, er würde sich das wohl niemals verzeihen und mich würde er einen Kopf kürzer machen. Er vertraut darauf, dass ich dich den Umgang mit der Axt gut gelehrt habe."

Cajas Blick wanderte für eine Sekunde zu der fein geschliffenen Waffe, die am Hüftgürtel ihrer Weste baumelte und seufzte. „Ich werde bei der Sache sein, wenn es so weit ist", versicherte sie ihm.

Kurz liefen sie ein paar Meter schweigend nebeneinander her, erklommen gemeinsam mit dem Rest ihrer Leute die Klippen, ehe ihr wieder etwas einfiel. „Munin?", fragte sie ihn leise. „Als ihr an der Küste entlang gegangen seid, habt ihr da auch etwas in der Sonne aufblitzen sehen? Oberhalb der Felswände?"

Er schüttelte den Kopf, knuffte ihr dann gegen die Schulter und ließ von ihr ab. „Das Meerwasser muss deine Sinne benebelt haben."
Er zog die Schnelligkeit seiner Schritte an, sodass er am Ende zu seinem Vater aufholte, der unweit von ihnen, etwas weiter vorne in der Reihe lief.

Glück für ihn, denn seine Worte hatten sie maßlos verärgert. Wäre er noch länger an ihrer Seite verweilt und nicht sofort verschwunden, hätte sie ihm erst einen kräftigen Schlag auf den Hinterkopf verpasst und ihn dann gefragt, was ihm einfiele ihr zu unterstellen, sie hätte sich das was sie gesehen hatte, nur eingebildet.
Zugeben, auch sie hatte zunächst daran gezweifelt, doch dann hatte sie sich wieder an die Vorsehung erinnert. Die erste Sache, die ihr die Götter zu sehen gegeben hatten, bevor sie in das dunkle Gewässer eingetaucht war, war silbriges Material gewesen, in welchem sich das Sonnenlicht reflektiert hatte.

Ein mulmiges Gefühl breitete sich in ihr aus. Ganz egal was es gewesen war, das sich oben auf den Klippen befunden hatte, es war ein unwiderruflicher Teil ihres Schicksals.

——
Begriffserklärungen:

* Njörðr (ausgesprochen Njörd): Er ist der nordische Gott des Meeres und des Windes. Er wird auch mit der Schifffahrt, Fischerei sowie Reichtum und fruchtbaren Ernten in Verbindung gebracht.

*Langskip: Schiffstyp, der hauptsächlich für militärische Zwecke verwendet wurde

*Plünnen: altdeutsch für (alte) Kleidung

*Linnen: ein Stofffetzen aus Leinen gefertigt

*Beispiel einer Wikinger Tunika, die Schildmaiden oder die Männer trugen:

Beispiel einer Wikinger Rüstung:

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