Sonntag, 29.06.1879
Ich war in meine Stickerei vertieft, die mittlerweile sogar recht passabel aussah und mir leichter von der Hand ging als noch vor einigen Wochen, als ich vom Geräusch der sich öffnenden Tür aufschreckte und nur kurz später James in meinem Blickfeld auftauchen sah.
Aus einem unbestimmten Gefühl heraus heftete ich meine Aufmerksamkeit aber sofort wieder auf die schon grob festgelegten Umrisse des Blumenmusters vor mir und wagte es nicht, meine Augen auch nur ein bisschen zur Seite weichen zu lassen, um nachzusehen, was James tat. Am liebsten wollte ich vorgeben, er wäre gar nicht hier oder ich hätte ihn wenigstens nicht bemerkt.
Das tat ich jedes Mal seit seiner Rückkehr am gestrigen Abend, wenn sich unsere Wege kreuzten und obwohl ich seinen wachsenden Unmut spüren konnte, den er nicht sonderlich gut verdeckte, – er musterte mich kritisch, verschränkte die Arme und allerlei anderer Möglichkeiten, die Mimik und Gestik ihm dafür boten – doch bis jetzt hatte er mich noch nicht explizit zu einem Gespräch aufgefordert und solange er das nicht tat, zog ich eisiges Schweigen vor.
Ich hatte weniger lange mit mir gehadert als ich gedacht hätte, bevor ich diesen Entschluss am Samstagmorgen getroffen hatte, als ich erfuhr, dass James mit Sicherheit am Abend wieder zu Hause sein würde. Ich war es einfach leid, mich ihm immer wieder zu stellen, dieselben Gesprächsfetzen zu wiederholen und beim nächsten Mal wieder von vorn anzufangen. So unverschämt sich mein Verhalten für ihn auch anfühlen musste, ich tat uns beiden einen Gefallen.
„Willst du mich noch weiter anschweigen, Evelyn?", konnte ich James mir vorwerfen hören, ganz aus heiterem Himmel heraus. Ein wenig gruselte es mich, dass er ausgerechnet dann darauf zu sprechen kam, als ich ebenfalls daran dachte, doch womöglich war es unausweichlich gewesen.
„Ich habe gar nicht gemerkt, dass du hereingekommen bist. Entschuldige, bitte", stellte ich dem entgegen, in der Hoffnung, er ließe sich so dazu bewegen, mich in Frieden zu lassen.
„Nun, dann weißt du es jetzt." Er lehnte sich in seinem Sessel zurück. „Ich dachte nur, weil wir uns jetzt fast eine ganze Woche lang nicht gesehen haben, dass es an der Zeit wäre, ein wenig Zeit miteinander zu verbringen."
„Wie du siehst, bin ich gerade beschäftigt und ich mag es ungern, wenn man mich beim Sticken aus dem Arbeitsfluss reißt. Würde es dir also etwas ausmachen, wenn wir das auf einen anderen Zeitpunkt verschieben könnten?", fragte ich, während ich, um meine Aussage zu unterstreichen, wieder auf den Stickrahmen blickte und meine unwillkürlich zitternden Finger lockerte, bevor ich die Nadel wieder durch den Stoff stieß.
„Ich sehe kein Problem darin, gleichzeitig zu sticken und eine Unterhaltung zu führen."
„Für mich ist es das gerade aber", wehrte ich sein weiteres Bitten ab.
„Ich will doch nur ein paar Worte mit dir wechseln, Evelyn. Ist das denn zu viel verlangt?" Seine Stimme wurde merklich lauter.
Wenn er lauter wurde, war es für mich an der Zeit umso leiser zu sein. Keinen weiteren Ton von mir gebend, erhob ich mich, nahm meinen Stickrahmen und verließ den Salon, ohne ihm noch eine weitere Erklärung zu geben. Wenn er dort schon nicht respektieren wollte, dass seine Gegenwart für mich gerade unerwünscht war, so würde er hoffentlich davor zurückschrecken, mich in meinem eigenen Zimmer heimzusuchen.
Jetzt musste ich es nur noch dahin schaffen, denn die mir folgenden Schritten waren unüberhörbar und auch das weitere auf mich Einreden ließ er sich nicht nehmen. „Was ist in dich gefahren, dass du einfach so vor mir davonläufst?"
Mit diesen Worten hatte er mich ein- und in weniger als einer Sekunde überholt, stellte sich mir in den Weg, ein paar Zoll größer als ich und natürlich stärker. Die Art wie er sich dort vor mir aufbaute, die Brust geschwellt, die Arme breit, als wollte er eine lebendige Wand sein, die ich nicht passieren können würde.
„Ich habe mehr Nachsichtigkeit mit dir gezeigt, als ich es zu Beginn für möglich gehalten hätte", begann er mir vorzuwerfen und es klang so, als würde er das, was er sagte, auch wirklich so meinen, auch wenn ich so etwas wie Nachsicht hier als allerletztes bei ihm suchen würde. „Hast du eine Vorstellung davon, wie verletzend es ist, wenn du dich nun von mir abwendest, obwohl es doch so schien, als könnte es uns nicht besser ergehen? Und just in diesem Moment hast du nicht einmal mehr ein kleines bisschen Anstand für mich übrig und läufst ohne Erklärung vor mir davon, ganz so, als wäre ich ein Aussätziger..."
Was sollte ich tun? Ich wusste es nicht.
James stand vor mir, groß und unüberwindbar, jedoch die Augen sich langsam mit Tränen füllend. Ob aus Wut oder Verletzung, wie er vorgab, konnte ich nicht sagen. Da er auch nicht weiter zu wissen schien, standen wir uns dort mitten auf dem Flur gegenüber und starrten uns an.
Je länger ich ihn anblickte – und es konnte nicht lange gewesen sein, auch wenn es sich so anfühlte – desto mehr entdeckte ich den James wieder, in den ich geglaubt hatte, mich zu verlieben. Sein Anliegen war ihm ernst, genauso ernst wie mir, dass er mir meine Ruhe ließ.
Er regte sich zuerst, nahm mein Gesicht in seine Hände und ich schaffte es nicht mehr rechtzeitig, vor ihm zurückzuweichen. Seine Berührung fühlte sich ähnlich an, wie wenn er zu viel von meinem Blut trank. Da war auf einmal so etwas wie Panik, die sich aus meiner Magengrube heraus nach oben schob, sich im ganzen Körper ausbreitete, meine Sinne klärte und dafür sorgte, dass ich mich dem unerträglichen Gefühl entzog, welchem er mich aussetzte.
Doch bevor irgendetwas geschah, vernahm ich ein Räuspern hinter mir und James ließ von mir ab, ohne dass ich noch etwas Weiteres dazu beitragen musste. Ich wusste, ohne mich vorher umzudrehen, dass es Elizabeth war, die dastand.
Klein zwar, aber voller Autorität.
„Das hier ist nicht der Ort für solche Unanständigkeiten", schnitt ihre Stimme durch die Luft wie ein Schwert durch Papier.
Ein kurzes Lächeln der Erleichterung konnte ich mir nicht verwehren und da ich dieses ohnehin nun schon offen gezeigt hatte, ließ ich dem auch noch ein „Danke" folgen, bevor ich an James vorbeieilte, so schnell meine Röcke es mir erlaubten.
Zumindest für heute hatte ich vor ihm Reißaus genommen, doch ich wollte nicht daran denken, zu was er mich womöglich gezwungen hätte, wenn seine Mutter nicht wie aus dem Nichts erschienen wäre wie ein boshafter Schutzengel.
Hinter der verschlossenen Tür warf ich das Stickzeug auf meinen Stuhl. Es war auf einmal das Letzte, was ich jetzt tun wollte.
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