Sonntag, 19.01.1879
Theresa war zu meiner Verantwortung geworden und die letzten Tage waren gefüllt damit gewesen, ihr ihr Leben so angenehm wie möglich zu gestalten. Sie erzählte mir aus ihrem Leben in einer Art und Weise, die mich beeindruckte. Sie schreckte nicht vor den grausamen Details zurück, die mich zusammenzucken ließen. Für sie gab es keine Tabus.
Irgendwann wurde mir allerdings klar, weswegen sie in der Lage war diese Albträume erneut zu durchleben. Sie hatte mit ihrem Leben bereits abgeschlossen. Sie wartete nur noch auf den Tod. Als mich diese Erkenntnis traf lag ich alleine in meinem Bett und musste augenblicklich in Tränen ausbrechen.
Theresas Verfassung bewegte mich dazu, wieder über Gott nachzudenken. Ich hatte die Religion in den vergangenen beiden Monaten schändlich vernachlässigt. Ich war immer fromme Kirchgängerin gewesen, wenn auch die Religion nicht unser Lebensinhalt war, denn meine Eltern waren durch und durch rational denkende Menschen. Mein Kindermädchen war es gewesen, das mich immer mit in die Kirche genommen und vor jeder Mahlzeit und vor dem Zubettgehen hatte beten lassen, weil man das nun einmal so tat. Die Hamiltons hingegen schienen keinen Glauben an Gott zu haben und besuchten auch nicht die Kirche. Nur zur Weihnachtsmesse waren wir zum Gotteshaus in den Ort gefahren und hatten dort im Halbdunkel des Kerzenlichts die Geburt Christi gefeiert.
Ein Kirchbesuch war aber genau das, was ich jetzt brauchte und so hatte ich es arrangiert, dass wir zur Messe gehen würden.
Ich wäre auch alleine gefahren, obwohl es mehr als unschicklich war, aber für Lady Elizabeth war das nicht in Frage gekommen und so wollten sie und Annabeth mich begleiten.
Ich fühlte mich gut in meinem Sonntagskleid und mehr herausgeputzt als sonst. Das bemerkte ich, als wir die Kirche betraten, die sich schon zur Hälfte gefüllt hatte. Die Menschen starrten uns an, als wir uns unseren Weg zu einer Bank in den vorderen Reihen bahnten und setzten. Selbst dann spürte ich noch die Blicke auf uns ruhen, aber versuchte sie zu ignorieren.
Die Messe selbst war deutlich beruhigender. Die immergleichen Muster, die nur ganz leicht variierten, gaben mir ein Gefühl von Geborgenheit.
Zwischenzeitlich warf ich immer einen Blick auf das Kreuz, das über dem Altar hin und betete stumm für Theresa. An welchem Ort und zu welcher Zeit sollten meine Gebete eher erhört werden?
Besonders fesselnd war die Predigt, die von Nächstenliebe handelte. Hierbei bezog sich der Pfarrer auf die Geschichte des barmherzigen Samariters der einen völlig fremden Mann auf seine Kosten hatte gesund pflegen lassen. Es gab mir Mut und bestärkte mich darin, Theresa weiterhin zu helfen. Ich tat zweifellos das Richtige.
Nach Ende der Messe beeilten sich Annabeth und Elizabeth nach Hause zu kommen. Sie wollten anscheinend so wenig Zeit in der Öffentlichkeit verbringen und ich fragte mich, wie es wohl sein würde, wenn wir die Saison in London verbrachten.
Da der Schnee geschmolzen war, hatten wir die Kutsche genommen und schon ratterten wir über den noch matschigen Weg.
„Ich würde mich freuen, wenn ich jede Woche die Messe besuchen könnte", sagte ich, alsbald wir den Ort verlassen hatten und Felder am Fenster vorbeirauschten.
„Es wird dir nicht jede Woche möglich sein", sagte Lady Elizabeth bestimmt. „Wir sind keine Kirchgänger und es würde zu großen Aufwand bedeuten jeden Sonntag mit dir zur Kirche zu fahren."
Ich hatte schon damit gerechnet, aber trotzdem enttäuschte und verärgerte es mich. „Dann frage ich mich, wieso Sie überhaupt der Kirche angehören, wenn Sie nicht einmal bereit sind den Gottesdienst zu besuchen."
„Was für eine lächerliche Frage, Evelyn. Es würde nicht gerade ein gutes Bild auf uns werfen, wenn wir es nicht wären."
„Und ein noch schlechteres wirft es auf Sie, wenn Sie sich nur ein paar Mal im Jahr dort blicken lassen und sich sonst in keinster Weise dafür interessieren. Ein schlechter Christ zu sein, ist mindestens genauso schlimm, wie keiner zu sein."
„Ich denke, man sollte dich in nächster Zeit öfter daran zu erinnern, wer du bist. Ich will kein einziges Wort mehr darüber hören, was ich zu tun oder zu lassen habe von einem Kind, das weder denselben Stand noch die Lebenserfahrung hat wie ich. Du hast dich viel zu viel in unser Leben eingemischt und glaube nicht, dass das nie Konsequenzen nach sich ziehen wird."
Da war er wieder, der vernichtende Blick der Elizabeth Hamilton. Aber im Gegensatz zu früher verängstigte er mich nicht mehr. Es war mir gleichgültig, was sie von mir hielt. Es stimmte, dass ich mich zurückhalten musste und mir mehr herausgenommen hatte, als einem Menschen mit nur einem Funken Höflichkeit in sich zustand, aber was hatten diese Menschen, die vor keiner Immoralität zurückschreckten sonst verdient?
Die restliche Fahrt verlief in eisigem Schweigen.
Als wir endlich ankamen war ich froh, dass Elizabeth augenblicklich im Haus verschwand und sie mich fürs Erste in Ruhe ließ.
„Ich glaube insgeheim bewundert sie dich", sagte Annabeth leise, sodass Henry es nicht hören konnte.
„Das glaubst du?", fragte ich tonlos.
„Es ist besser, wenn du so bist als wenn du leise bist und nichts sagst, wie du es am Anfang getan hast. Sie mag starke Menschen. Zwar gefällt es ihr auch nicht, die Stirn geboten zu bekommen, aber wenn du wieder zu deiner alten, makellosen Höflichkeit zurückkehrstm, wirst du hier keine Probleme mehr haben. Glaub mir."
„Wenn ich dir nur glauben könnte", sagte ich mit Bitterkeit in der Stimme und ging ebenfalls hinein.
-
„Deine Mutter hasst mich jetzt", sagte ich zu James, der mich gefragt hatte wie es in der Kirche gewesen war.
„Sie hasst dich nicht. Es stört sie nur, dass du mit allem vollkommen Recht hast."
Ich lächelte ihn dankbar für die Aufmunterung an. „Aber bei ihr müsste ich eigentlich fürchten, dass sie mich jeden Moment umbringen könnte."
„Sei nicht so sarkastisch", flüsterte James mir ins Ohr und küsste es dann. Seine Küsse wanderten noch ein Stück weiter hinab bis zum Kragen meines Kleides, das nicht ganz so hoch geschlossen war wie meine anderen und einen Teil meines Halses freiließ. Beinahe fürchtete ich, er würde beginnen mein Kleid zu öffnen und noch mehr fürchtete ich, dass ich ihn dann nicht davon abhalten würde, denn wir waren alleine in meinem Zimmer und ich hatte die Tür hinter uns abgeschlossen.
Allerdings löste er sich wieder von mir, nahm mein Gesicht in seine Hände und küsste mich auf die Lippen. „Und sie wird dich nicht hassen können, weil ich dich liebe."
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top