Sonntag, 09.02.1879

Mir blieb für einen kurzen Moment die Luft weg, als Florence mein Korsett ein letztes Mal fest zusammenzog. Glücklicherweise weitete es sich wieder ein kleines Stück und ich konnte problemlos atmen.

Das Kleid, was ich mir für heute ausgesucht hatte war grau und schlicht und meines Erachtens nach nicht gut genug, um es in der Sonntagsmesse zu tragen, aber es war das, was am ehesten einer Trauerbekleidung gleichkam.

Annabeth hatte mir am vorigen Abend angeboten, mich am nächsten Tag in die Kirche zu begleiten. Sie vermutete, dass ich durch diese fromme Geste am besten mit Theresas Tod umgehen könnte. Ich hatte sie nicht damit verletzen wollen, indem ich sie vor den Kopf gestoßen hätte, obwohl ich mich eigentlich viel lieber in meinem Zimmer eingeschlossen und geweint hätte.

Ich hatte nicht viel geschlafen, aber mein Kopf war jetzt deutlich klarer als zuvor und mir wurde gewahr, dass der Kirchgang eine Möglichkeit war, um ihn noch weiter zu leeren. Ich würde alleine mit Annabeth fahren und ich würde mich nicht so sehr verstellen müssten wie wenn ich im Anwesen bleiben und mit dem Rest der Familie frühstücken würde.

Elizabeth nahm ihr Frühstück sonntags für gewöhnlich spät ein und der Rest der Familie wie auch ich folgten ihrem Beispiel. Da wir das Haus aber schon zu Beginn des Frühstücks verlassen mussten, um pünktlich zum Gottesdienst zu erscheinen, würde ich heute Morgen nur mit Anna essen. Das kam meiner momentanen Gefühlslage sehr entgegen, obwohl ich mich nicht so schlecht fühlte wie ich es eigentlich sollte.

Meine Emotionen fühlten sich abgestumpft an, taub und nicht in der Lage irgendetwas in mir auszulösen. Womöglich hatten mich die fast drei Monate, die ich jetzt mit dieser gräulichen Familie zusammenlebte mich so ruiniert, dass ich nicht einmal mehr die Empathie aufwies, die ein jeder vernünftige Mensch besitzen sollte.

„Bin ich ein schlechter Mensch?", entrutschte es mir. Ich hatte mir diese Frage nie gestellt, nicht so offensichtlich, aber es beschäftigte mich tief in meinem Innern und ließ mich nicht zur Ruhe kommen.

„Warum wollen Sie das wissen, Miss?", antwortete Florence mir in ihrem ruhigen Tonfall. Sie ließ es sich nicht anmerken, wie absurd meine Frage war, sondern reagierte genauso als hätte ich sie gefragt, ob ich meine Haare offen oder zurückgebunden tragen wollte.

„Weil ich nichts tue. Ich stehe auf, durchlebe den Tag und gehe wieder schlafen, obwohl ich weiß, was hier direkt vor meinen Augen geschieht."

„Sie sind kein schlechter Mensch, Miss", sagte Florence schlicht und half mir in mein Kleid.

„Was macht dich da so sicher?", fragte ich, während ich begann die vorderen Knöpfe zu schließen.

„Wenn Sie ein schlechter Mensch wären, was wäre dann ich?"

Ich schwieg. Sie war Florence. Sie war gut. Sie war meine Stütze und Freundin und mir käme es in tausend Jahren nicht in den Sinn, zu denken sie wäre schlecht.

„Ich wohne und arbeite schon so lange hier", begann Florence zu erzählen und ich hörte den Wehmut in ihrer Stimme. „Und seit ich hier bin, bin ich über fast jede Sünde, jede Unaussprechlichkeit, die sich hier ereignet hat, im Bilde. Ich habe gesehen wie Menschen starben, wie ihre Körper durch eine Hintertür hinausgebracht wurden. Ich weiß nicht, was mit ihnen angestellt wurde, aber das ist wahrscheinlich einerlei. Es war niemand, den irgendeine Person jemals vermissen wird. Ich stand immer nur daneben, habe nie eine Hand gerührt. Aber ich habe auch nicht versucht, sie aufzuhalten. Dazu wäre ich gar nicht in der Lage und Sie erst recht nicht, Miss. Ziehen Sie die Schuld, die andere zu tragen haben nicht auf sich. Machen Sie es ihnen nicht noch leichter, indem Sie ihnen helfen es zu stemmen. Und sagen Sie nie jemandem, dass ich diese Worte hier zu Ihnen gesagt habe."

Ich hatte innegehalten, sogar für einen Moment lang den Atem angehalten, so überrascht war ich von Florence. Diese Seite von ihr hatte ich noch nicht zu sehen bekommen. Für einen kurzen Moment fürchtete ich, dass dies unser Verhältnis verändern könnte, aber dann horchte ich in mich hinein und kam zu dem Schluss, dass sie nur noch mehr mein Vertrauen und vor allem meinen Respekt verdient hatte.

„Ich werde dich niemals für schlecht halten", sagte ich. „Dafür bist du viel zu gut."

Ein Lächeln stahl sich auf Florence Lippen und ihre Augen lächelten mit. „Und Sie sind es genauso wenig, Miss. Sie haben so viel für Theresa getan. Sie haben versucht dem Lord die Stirn zu bieten und so unüberlegt das auch gewesen sein mag, so selbstlos war es."

Dagegen konnte ich nichts sagen. Aber welche Erklärung blieb sonst noch dafür, dass mein Leben immer weiter aus den Fugen geriet? Wenn es nicht die Bestrafung dafür war, dass ich schlecht war, was war es dann? War es Gott, der mich leiden sehen wollte?

Vielleicht war das der Grund, weswegen ich mich nicht darüber freuen konnte in die Kirche zu gehen. Möglicherweise wusste mein Unterbewusstsein, dass sie nicht der richtige Ort für mich war. Schließlich nannte ich diese Vorhölle auf Erden hier mein Zuhause, ohne einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden, dass mein Zuhause eigentlich in London gewesen war.

„Ich denke, du hast Recht", sagte ich zu Florence, weil ich ihre aufbauenden Weisheiten gerade nicht weiter hören wollte.

Was war nur aus mir geworden? Der Blick, den ich den Spiegel warf, gab mir keine Auskunft darüber. Ich sah noch fast exakt so aus wie an dem Tag, an dem ich hier angekommen. Ich hatte lediglich etwas zugenommen. Nicht viel, bloß zwei oder drei Pfund, aber die hatten ausgereicht, um mein Gesicht ein wenig runder aussehen zu lassen. Und es veränderte mein Aussehen nicht zum schlechteren. Der Spiegel sagte mir, dass ich Evelyn war, aber wieso fühlte ich mich nicht mehr wie ich selbst?

Und weshalb war es mir so egal, jetzt da ich von Florence bestätigt bekommen hatte, dass ich ein guter Mensch war?

-

Ich sang die altbekannten Kirchenlieder, sprach die Gebete mit und lauschte den Worten des Pfarrers. Ich blendete die Gemeinde um mich herum aus und vor allem Annabeth.

Die Kirche bot eine angenehme Ablenkung, aber wie ich es vermutet hatte, half sie mir nicht wieder mehr zu mir selbst zurückzufinden. Für Theresa betete ich nur kurz. Die meiste Zeit dachte ich an mein eigenes Seelenheil. Mein eigener plötzlicher Anflug von Egoismus widerte mich an, aber ich konnte diese Gedanken nicht aus meinem Kopf verbannen. Ich musste erst wieder zu mir selbst zurückfinden, um den Dämpfer von meinen Gefühlen zu entfernen. So hoffte ich zumindest.

Nachdem das Orgelspiel zum Schluss geendet hatte, war ich froh die Kirche wieder zu verlassen. Es tat gut in die frische Luft hinauszutreten. Henry wartete mit der Kutsche neben dem Kirchplatz, in derselben Pose, in der wir ihn vor gut einer Stunde dort zurückgelassen hatten. Er wirkte so als hätte er sich nicht bewegt. Er regte sich nicht einmal, als Annabeth und ich in sein Blickfeld traten.

Ich erwartete, dass wir sofort zur Kutsche gehen und nach Hause fahren würden, aber Anna hatte sich offenbar entschieden noch einen kurzen Plausch zu halten. Sie hatte die Hutmacherin Mrs Cole t in der Menge der Kirchgänger entdeckt, die die Messe gemeinsam mit ihrer kleinen Tochter besucht hatte.

„Harriet", rief Annabeth sie und die Putzmacherin kam mit einem warmen Lächeln im Gesicht auf uns zu.

Die kleine Daisy war allerdings schneller und lief mit ausgebreiteten Armen und Augen, die strahlten, als würden Weihnachten und ihr Geburtstag auf einen Tag fallen, auf Annabeth zu, die sich ebenfalls sichtlich zu freuen schien, das Mädchen in ihre Arme zu nehmen.

Anna hockte sich hin, um die Kleine auf Augenhöhe zu begrüßen. Sie achtete nicht darauf, dass der Boden voll von schmutziger Schneematsche war, sondern hatte nur Augen für Daisy, die sie wild in die Arme schloss, sodass sich ihr helles und Daisys dunkles Haar im Kontrast gegenüberstanden.

„Freut mich dich zu sehen, Blume", hörte ich Anna sagen. Ihre Stimme war voller Liebe. Ich hatte sie noch nie so reden hören außer zur kleinen Daisy. Nicht einmal Theodore bedachte sie mit diesem Tonfall.

„Guten Tag, Annabeth. Und Ihnen ebenfalls. Miss Whiting, richtig?", begrüßte uns Mrs Cole.

„Genau", antwortete ich. „Guten Tag."

Annabeth löste sich langsam aus der schraubstockartigen Umarmung ihrer kleinen Verehrerin und stellte sich wieder mit geradem Rücken hin, wie man es von ihr gewohnt war.

„Ich hätte nicht gedacht dich jemals in der Kirche zu sehen, außer an den Festtagen und jetzt bist du dieses Jahr schon zum zweiten Mal da gewesen."

„Ich begleite Evelyn", erklärte Annabeth. „Vielleicht färbt eines Tages etwas von ihrer Frömmigkeit auf mich ab und wir werden uns hier öfter treffen." Sie lachte.

Ich fand es ulkig, dass sie mich als fromm bezeichnete. Was war dann ein wahrlich frommer Mensch für sie? Fanatisch vielleicht?

„Daisy hat dich vermisst", sagte Mrs Cole und zur Bestätigung griff die Kleine nach Annas Hand, die diese augenblicklich in ihre nahm. Wie eine große Schwester. Die beiden hätten wirklich fast Schwestern sein können wie sie da so einträchtig nebeneinander standen. Annabeth war zwar über zehn Jahre älter, aber das Kind neben ihr kopierte ihre Haltung und ihren Ausdruck so perfekt, dass sie aussah wie eine dunkelhaarige, kleine Kopie von Anna, die noch etwas Babyspeck an sich hatte.

„Ich vermisse dich jeden Tag, den ich dich nicht sehe, kleine Blume", sagte Annabeth direkt an Daisy gerichtet und das Mädchen blickte andächtig zur älteren hoch.

„Warum kommst du uns nicht öfter besuchen, Anna, wenn du mich vermisst?"

„Ich würde ja gerne, aber ich kann nicht. Manchmal bin ich schrecklich beschäftigt und manchmal möchte mein Vater nicht, dass ich herkomme. Er kann sehr eigen sein, weißt du?"

Daisy nickte. „Dein Vater guckt mich immer so komisch an, wenn er mich sieht."

Anna musste über die Offenheit der Kleinen lachen und auch ich konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. Lord Jonathan war wirklich keine angenehme Gesellschaft und auf so ein kleines Mädchen musste er sehr grimmig und sehr alt wirken, etwas, was so glücklichen aufgeweckten Kindern, wie Daisy eines zu sein schien, nicht gefiel.

„So oft hast du ihn doch noch gar nicht getroffen", versicherte ihr Anna. „Und er ist nicht böse musst du wissen. Er ist ein ganz lieber Vater und ich kann mir keinen anderen vorstellen. Wenn du ihn kennen würdest dann..."

„Er war letztens bei uns", unterbrach Daisy sie. „Es war spät und ich hab nur durchs Schlüsselloch geguckt, aber er war da und hat mit Mummy geredet."

Mrs Cole wurde auf einmal blass im Gesicht und Anna biss sich auf die Unterlippe. Und ich konnte mir vorstellen, dass mir auch ein unschöner Ausdruck der Verwirrung ins Gesicht geschrieben stand.

„Daisy, wie oft habe ich dir gesagt, man lauscht nicht, wenn Erwachsene sich unterhalten", versuchte die Hutmacherin mit strenger Stimme zu sagen, aber es war ein kläglicher Versuch.

„Wenn er etwas mit deiner Mutter zu bereden hatte, dann ist das die Sache der beiden, hörst du?", begann Annabeth die Sache in die Hand zu nehmen.

Daisy nickte, aber sie tat es nur, um es Anna Recht zu machen. Selbst ich sah ihr an, dass sie sich ohne eine Erklärung nicht zufrieden gab.

„Ich glaube es ist besser, wenn wir jetzt gehen", sagte Mrs Cole und nahm ihre Tochter an die Hand, die sich nur schwerfällig von Annabeth löste. „Auf Wiedersehen, einen schönen Sonntag noch."

„Auf Wiedersehen", murmelte ich leise und kam mir schrecklich deplatziert vor.

„Bis bald", sagte Anna und es schien mehr an Daisy gerichtet zu sein als an ihre Mutter. „Wir sollten jetzt auch besser gehen. Henry wird meiner Mutter erzählen, dass ich mit Harriet geredet habe und sie mag es nicht, wenn ich mich zu lange oder zu häufig mit ihr unterhalte."

„Nützt es etwas, wenn ich frage, was das gerade zu bedeuten hatte?"

Annabeth schüttelte den Kopf. „Es gibt Dinge, die du nicht erfahren solltest und die nicht erfahren musst und obwohl ich dir gerne mehr erzählen würde, überlasse ich es meinem Vater und Harriet, wen sie in ihre Angelegenheiten einweihen."

Und während wir in undamenhaft schnellen Tempo über den Kirchplatz zu unserer Kutsche eilten, fragte ich mich, welche Rolle die Putzmacherin Harriet Cole in dem Theaterstück einnahm, in dem auch ich jetzt eine Rolle spielte und ob ich es jemals mit Gewissheit erfahren würde.


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