Sonntag, 02.03.1879

Am Sonntagmorgen beschloss ich, dass ich unbedingt das Haus verlassen musste, um für einige Zeit alleine zu sein. Die Morgenmesse bot sich dafür an und die nächste Kirche war nur wenige Gehminuten von mir entfernt, sodass ich es schaffte Lady Elizabeth zu überreden, mich alleine die Messe besuchen zu lassen.

Ich stand in aller Frühe auf, nahm mir viel Zeit im Badezimmer und zog mich alleine an, da ich Matilda nicht belästigen wollte. Um halb acht war ich fertig angezogen und da mein Magen knurrte, ging ich hinunter in die Küche, um mir etwas zu essen zu holen.

Dort traf ich auf Mrs Chapman, die das Küchenmädchen, dessen Namen ich nicht kannte anwies, während sie selbst eine Tasse Kaffee trank.

„Guten Morgen", sagte ich, denn sie hatten mein Eintreten noch nicht bemerkt.

„Guten Morgen, Miss Whiting, möchten Sie etwas essen?", fragte die Haushälterin mich mit einem warmherzigen Lächeln auf dem Gesicht.

„Ja, bitte. Was haben Sie denn anzubieten?"

„Alles, was Sie wollen, meine Liebe."

„Aber Sie müssen sich nicht nur wegen mir die Mühe machen etwas Besonderes zuzubereiten", stellte ich schnell klar. Mein Blick fiel auf einen Topf mit Porridge, der auf dem Herd vor sich hin köchelte, während das Küchenmädchen ihn hin und wieder umrührte. „Eine Portion Porridge würde mir sehr gut schmecken und eine Tasse Kaffee würde mir auch gut tun."

„Natürlich", sagte Mrs Chapman. „Wo darf es Ihnen serviert werden?"

Ich überlegte einen Moment. Ich wäre in jedem der Räume alleine und ich würde viel lieber in der Küche essen mit dem Gesinde wie ich es auch zu Hause getan hatte, wenn ich sonst hätte alleine essen müssen. Und ich sah keinen Grund, es hier nicht auch zu tun.

„Wäre es möglich, wenn ich hierbleiben könnte? Nur, wenn es Sie nicht stört, natürlich."

„Aber nein, Miss Whiting, setzen Sie sich ruhig hier hin. Ich verstehe sehr gut, wenn es Ihnen da oben zu einsam ist."

Gott sei Dank, verstand sie mich, auch ohne, dass ich ihr meine genauen Beweggründe genannt hatte. Also nahm ich am großen Küchentisch Platz und bekam eine Schale mit frischem Porridge und eine dampfende Tasse frischgebrühten Kaffee vor mich hingestellt und obwohl das Ganze von jedwedem Luxus weit entfernt war, konnte ich das Frühstück richtig genießen, während ich mich mit Mrs Chapman unterhielt, die die Abendzeitung vom Vortag las.

Eine der Schlagzeilen lautete, dass eine Witwe in Richmond getötet worden war, man ihren Kopf allerdings nicht gefunden hatte. In was für einer grausigen Welt wir lebten.

Wir redeten über dies und das und nach einer zweiten Portion Porridge verabschiedete ich mich wieder, denn die Zeit war wie im Fluge vergangen und ich musste mich für die Kirche fertigmachen.

Es war ein merkwürdiges Gefühl allein das Haus zu verlassen. Ich ließ mir vorher extra Zeit, um mir Mantel, Schal und Handschuhe anzuziehen und auch das Aufziehen der Haustür zog ich in die Länge.

Das Wetter, das mich draußen erwartete war nicht schön, ein trüber Nebelschleier hing über der Stadt, aber es war wenigstens trocken. Nur die Pfützen vom starken Regen am Vorabend zierten noch die Straßen.

Die Tür hinter mir zuzuziehen war wie ein Befreiungsschlag, gefolgt von der Erkenntnis, dass diese Freiheit nur von kurzer Dauer sein würde. Dieser kurze, eigentlich alltägliche Ausflug in die Kirche war meine Henkersmahlzeit.

Es waren nur wenige Menschen zu Fuß unterwegs, denn in diesem Teil der Stadt ging kaum einer zu Fuß. Ich hätte wahrscheinlich auch eine Kutsche nehmen können, aber ich wollte niemandem diese Mühe machen, wenn ich doch in etwa fünf Minuten mein Ziel erreichen konnte.

Meine Schritte waren schnell, denn es war immer noch kalt und ungemütlich und ich wollte so schnell wie möglich ins Innere der Kirche kommen. Die anderen Passanten würdigten mich keines Blickes, obwohl eine junge Frau wie ich nicht alleine auf der Straße sein sollte. Ironischerweise würde ich im East End wahrscheinlich weniger Häme auf mich ziehen als hier in Mayfair, wo die Wahrscheinlichkeit überfallen zu werden deutlich geringer war.

Die Kirche war im gotischen Stil gebaut, nicht überragend schön oder prächtig, aber sie passte in die Nachbarschaft und als ich durch das halb geöffnete Kirchenportal trat, fühlte ich mich prompt geborgen. Ich suchte mir einen Sitzplatz in einer der mittleren Bänke und wartete darauf, dass die Messe begann.

Als das Orgelspiel einsetzte, sog es mich in seinen Bann, fesselte meine ganze Aufmerksamkeit, die ich durch alle Lieder und jeden Satz, den Pfarrer vorne sagte, beibehielt. Diese Messe war die perfekte Ablenkung von all meinen Sorgen, denn ich schaffte es, dass sie jeden Winkel meiner Gedanken ausfüllte und mir somit Erlösung brachte.

Viel zu schnell war diese Wohltat vorbei und die Kirchgänger strömten alle nach draußen. Ich hatte jedoch noch nicht die Absicht wieder zu gehen. Ich wollte noch etwas bleiben und für mich alleine beten. Womöglich könnte ich dann spüren, dass es einen Gott gibt, der für seine Schöpfung sorgt, denn den Glauben an diesen beschützenden Gott konnte ich mir nicht länger bewahren.

Ich kniete mich hin, faltete die Hände und sah nach oben zu dem Kreuz, das über dem Altar hing und begann zu beten. Ich begann mit dem Vaterunser, weil es das erste war, was mir in den Sinn kam, ein guter Einstieg, bis ich die richtigen Worte gefunden hatte. Dann schloss ich die Augen, ging in mich und überlegte, wo ich anfangen sollte.

Ich habe Angst, dachte ich, stellte aber für mich fest, dass das nicht der passende Einstieg war. War es jetzt zu spät und ich musste so weitermachen? Ich wusste es nicht, denn ich spürte keine Veränderung, keine göttliche Präsenz, keine plötzliche Erleuchtung, nicht einmal mehr Mut.

Aufgeben wollte ich trotzdem nicht.

Ich fing neu an, betete für meine Eltern. Ich wünschte mir, dass es ihnen in Indien, so weit weg von zu Hause und von mir, gut erging und dass ihre Geschäfte erfolgreich verlaufen mochten. Ich betete nicht für ihre baldige Rückkehr. Das wäre zu selbstsüchtig. Ich brachte es einfach nicht übers Herz mir zu wünschen, sie kämen, um mich zu befreien. Aber wofür sollte ich dann beten?

Sollte ich dafür beten, dass ich überlebte? Sollte ich dafür beten nicht zu leiden? Ich wusste es nicht. Mir fiel nichts ein, um was ich Gott bitten könnte, das mich aus meiner Lage befreite, ohne, dass andere dafür bezahlen mussten. Außer...

Ich betete für Stärke. Ich musste stark bleiben. Dieser Satz war mittlerweile so fest in meinem Kopf verankert, dass er ein Teil meiner Lebenseinstellung war, so offensichtlich, dass ich es übersehen hatte. Ich hoffte nur Gott würde mir diese Stärke geben... Wenn er einer Zweiflerin wie mir überhaupt Gehör schenkte.

Gerade wollte ich auch noch ein Gebet an die Heilige Mutter Maria senden, als ich spürte, wie sich jemand unmittelbar neben mich kniete, sodass unsere Schultern sich berührten.

Ich schlug die Augen auf, um zu sehen, wer sich so ungeniert an mich herangeschlichen hatte und sah direkt in James Augen. Zunächst war ich völlig perplex, dann fragte ich ihn mit gesenkter Stimme: „Was machst du hier?"

„Ich wollte dir Gesellschaft leisten."

Ich biss mir auf die Unterlippe, weil ich ihn nicht abweisen wollte, aber das hier waren meine einsamen Momente der Klarheit. „Eigentlich bin ich hierhergekommen, um alleine zu sein."

„Ich kann verstehen, dass du dich zurückziehen willst, aber ich weiß nicht, ob Gott dir dabei helfen kann", flüsterte James in mein Ohr, seine Lippen viel zu nah an meinem Gesicht. „Aber das, was dich erwartet, erwartet auch mich. Das ist eine Sache, die wir beide gemeinsam durchstehen müssen, denn bald gibt es nur noch ein uns."

Ich schwieg, wollte und konnte darauf nichts erwidern.

Als was sah er uns? Als was sah ich uns? Er war so undurchschaubar für mich, wenn er sich mir nicht mit vollem Bewusstsein öffnete. Wenn er wollte, dann umgab ihn eine undurchdringbare Hülle und mir blieb nichts anderes übrig, als ihm zu vertrauen.

Während ich nachnachte griff James nach meiner Hand, löste langsam meine verschränkten Finger und verschränkte sie stattdessen mit seinen. Es wäre einfach gewesen, meine Hand wegzuziehen, aber ich tat es nicht. Es fühlte sich zu richtig an wie es gerade war, obwohl es mir fast so vorkam, als würde er mich so meines freien Willens berauben.

„Wenn wir das alles hinter uns gebracht haben, dann kann uns nichts mehr trennen", wisperte James, dessen Lippen meine Ohrmuschel jetzt fast berührten. „Niemals."

Seine Worte hatten etwas Endgültiges. Er sah unsere Zukunft vor sich, während ich noch in der Gegenwart kämpfte, aber wogegen? Es war alles beschlossene Sache und es gab kein Zurück mehr für mich. Ich musste damit leben und wenn James bei mir war, war das vielleicht gar nicht so schrecklich.

Wir hätten womöglich noch ewig in dieser Position verharrt, wenn der Pfarrer nicht aus der Sakristei gekommen und uns tadelnde Blicke zugeworfen hätte.

„Wir sollten gehen", meinte ich und gemeinsam erhoben wir uns, immer noch die Hand des anderen haltend, bis wir die Kirche verlassen hatten. Und auch wenn wir ein paar Zoll Abstand hielten, als wir den Weg nach Hause antraten, fühlte es sich noch so an, als würden sich unsere Finger noch immer berühren und gegenseitig stützen.

-

Es war etwa halb neun am Abend und ich saß alleine in meinem Zimmer und bürstete mir die Haare, die mir nach unzähligen Bürstenstrichen inzwischen in sanften Wellen auf den Rücken fielen. Ich hörte dennoch nicht auf, denn diese banale Tätigkeit beruhigte mich.

Ich rechnete nicht damit, dass heute noch jemand etwas von mir wollte, weswegen es mich für einen kurzen Moment erschreckte, als es an meine Tür klopfte.

„Wer ist da?", fragte ich.

„Hier ist Theodore."

Das kam überraschend und ich war mehr als unvorbereitet, aber dennoch bat ich ihn herein. Ich hatte zwar keine Lust auf eine Unterhaltung mit ihm, da diese immer mehr als anstrengend verliefen und es mir gefiel, dass er in meinem Leben zwar existierte, aber keine größere Rolle spielte, aber es war so ungewöhnlich, dass er bei mir klopfte und vor allem um diese Uhrzeit, dass ich ihn einfach hereinlassen musste.

Theodore kam schnell herein und schloss die Tür noch schneller hinter sich. Er hielt sich auch nicht mit langen Worten der Begrüßung auf, sondern kam direkt zur Sache. „Ich muss mit dir über das reden, was dich erwartet."

„Du meinst das Ritual?", fragte ich nach.

„Ich spreche allgemein von deiner Zukunft hier." Er klang nicht herablassend, es schien ihm ernst zu sein. Ich musste dennoch ablehnen.

„Danke, aber ich brauche deine Hilfe nicht."

„Vielleicht sagst du das jetzt, weil du denkst es wäre alles einfach. Bei Anna und mir ist es das auch, aber James ist nicht Anna", sagte er eindringlich.

„Ich weiß, was ich tue", erwiderte ich energisch. „Und alles, was ich heute wollte, ist allein zu sein, aber das war mir bis jetzt noch nicht vergönnt. Ich bin kein naives, kleines Kind, Theodore, und wenn du das immer noch über mich denkst, dann wird sich zwischen uns nichts ändern. Im Übrigen will ich gar nicht die Hilfe eines Menschen annehmen, der mich nicht ernst nimmt."

„Das war lediglich ein Friedensangebot meinerseits und ich zwinge dich nicht, es anzunehmen. Wenn du mich brauchst, werde ich da sein. Egal, was zwischen uns vorgefallen ist und noch vorfallen wird. Wir stecken da verdammt nochmal zusammen drin und müssen es gemeinsam durchstehen."

Ich zuckte bei seiner groben Wortwahl kurz zusammen, erwähnte es jedoch nicht weiter. Es brachte nichts, sich mit ihm darüber zu streiten, er würde mir nur noch mehr Schimpfwörter an den Kopf werfen. Was allerdings noch mehr in meinem Kopf hängenblieb, war sein letzter Satz, der erschreckende Ähnlichkeit mit dem aufwies, was James mir heute in der Kirche gesagt hatte.

James und Theodore waren wie Brüder und ich war mir sicher, dass James ihm von heute Vormittag erzählt hatte. Was wollte er damit bezwecken, dass er jetzt in meinem Zimmer stand und den Wortlaut fast exakt wiederholte? Sprach er sich hier wirklich gegen James aus so wie es gerade den Eindruck erweckte oder nicht?

Ich konnte es nicht sagen.

„Ich glaube es ist besser, wenn du jetzt gehst", sagte ich deswegen. „Gute Nacht."

Er ging so schnell wie er gekommen war und als die Tür wieder geschlossen war, stand ich auf und drehte den Schlüssel im Schloss um. Heute sollte niemand mehr hereinkommen.

Was immer Theodore hatte bezwecken wollen, stellte ich mit Erschrecken fest, als ich mich wieder setzte und weiter mein Haar bürstete, er hatte es geschafft, dass ich an James zu zweifeln begann und das brach mir fast das Herz.

Ich kann es gar nicht glauben, dass ich es tatsächlich bis hierhin geschafft habe. Im nächsten Kapitel erwartet uns schon das Ritual. Und um ehrlich zu sein, habe ich ziemlichen Respekt davor das nächste Kapitel zu schreiben. Ich hoffe mich verlässt jetzt nicht die Motivation und ich werde das nächste Kapitel so schreiben können wie ich es vor Augen habe :D

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