Samstag, 26.07.1879
Ich saß im Salon auf einem der Sofas und obwohl Theodore die einzig andere anwesende Person war, gelang es mir nicht, mich zu entspannen. Ich wusste, dass James etliche Meilen weit entfernt in London war, gemeinsam mit seinem Vater und dass ich Lady Elizabeth' Aufmerksamkeit nicht wert war. Sie war froh, solange sie sich nicht mit mir abgeben konnte.
Doch obwohl die Gegebenheiten, die wir uns wochenlang herbeigewünscht hatten, nun eingetreten waren, fühlte es sich nicht danach an, denn dazu müsste ich ein Gespräch mit Theodore führen, in dem wir unser weiteres gemeinsames Vorgehen erläutern und mögliche Pläne äußern konnten. Jetzt war es elf Uhr am Vormittag und noch nichts von dem, was ich erwartet hatte, war eingetreten. Stattdessen saßen wir beide verdrießlich da und gingen oberflächlichen Tätigkeiten nach – zumindest ich. Was Theodore anbelangte war ich mir der Oberflächlichkeit dessen, was er tat, nicht sicher, denn ich hatte ihn selten eine Zeitung studieren sehen und wenn, dann nie so lange und vollkommen konzentriert, die Stirn in Falten gelegt, die Augen langsam über das Papier wandernd, Stückchen für Stückchen weiterspringend.
Ich war mir bewusst, dass ich ihn nicht dabei beobachten sollte, dass mir dies nichts anderes einbringen würde als weiteren Frust, der sich weiter und weiter in mich hineinfraß und jede Tätigkeit, die ich ausübte unerträglich machte, ob es sich nun um eine Freizeitbeschäftigung wie Sticken handelte oder das bloße, untätige Herumsitzen. Doch ich konnte nicht davon ablassen nach kleinsten Veränderungen in seiner Mimik Ausschau zu halten, nach Anzeichen dafür, dass er in der Zeitung vielleicht etwas gefunden hatte oder die Artikel ihn zu einer neuen Erkenntnis geführt hatten, welche er mir mitteilen konnte. Die Vorstellung, dass mir etwas entging, saß mir im Nacken und hielt ein Messer an meine Kehle.
Entweder ich tat nichts, harrte weiter aus und musste beten, dass er mir von sich aus eröffnen würde, was sich gerade im Hause Hamilton ereignete oder aber ich verwickelte ihn jetzt in ein Gespräch. Waren wir nicht ohnehin über alle Konventionen hinweg, die mir untersagten, ihn in dem zu unterbrechen, was er tat?
„Theodore?"
Hätte im Zimmer nicht vollkommene Stille geherrscht, hätte er mich womöglich sogar überhören können. Es fühlte sich nicht richtig an, ihn aus seinen Gedanken zu reißen. Wie ein Eingriff in seine Privatsphäre, eine Grenzüberschreitung. Zudem wurde mir im selben Moment bewusst, wie selten ich seinen Namen bisher genutzt hatte. Ich konnte mir keine konkrete Situation ins Gedächtnis rufen, in welcher ich ihn so direkt angesprochen hatte. Wie lächerlich das doch war, nachdem wir über acht Monate unter einem Dach gewohnt hatten.
Theo ließ die Zeitung sinken und sah mich über den Rand dieser hinweg an. „Ja?"
„Dürfte ich dich einen kurzen Moment stören?"
„Weswegen?", fragte er knapp.
„Es gibt gewisse Dinge, über die ich dir gerne einige Fragen stellen würde, solange uns die Zeit dazu bleibt", lautete meine Antwort.
„Weswegen genau?", hakte Theodore nach.
Ich legte den Stickrahmen beiseite, den ich mit beiden Händen auf der Suche nach Sicherheit umklammert hatte. Es fiel mir nicht leicht, meinen Griff von ihm zu lösen, aber wenn es nicht danach aussah, als würde ich ihn neben einer anderen Tätigkeit befragen wollen, würde er sich vielleicht eher auf ein Gespräch mit mir einlassen, anstatt mich abzuwimmeln.
„Ich werde nicht darüber in Kenntnis gesetzt, wenn sich etwas Wichtiges ereignet, außer ich könnte dazu beitragen, den Zustand zu verschlimmern. Das ist gerade nicht der Fall, da ich dieses Anwesen seit Wochen – oder eher gesagt fast drei Monaten – nicht mehr verlassen habe. Ein weiterer Krieg könnte ausbrechen und ich würde es wahrscheinlich nicht bemerken." Ich hielt inne, bemerkend, dass ich nichts weiter tat, als meiner ungerichteten Wut Ausdruck zu verleihen, nicht aber das sagte, was ich ihm eigentlich mitteilen wollte.
„Was ich damit sagen möchte –" Ich unterbrach mich abermals, da die richtigen Worte mir zuerst nicht in den Sinn und dann nicht über die Lippen kommen wollten.
Theodore hingegen schien genau zu wissen, was er mir sagen wollte, hielt sich aber zurück, die Kiefer angespannt, den Mund fest verschlossen. Er gewährte mir eine Chance.
„Nun", fuhr ich fort. „Ich weiß recht wenig, wenn nicht sogar gar nichts, aber es reicht aus, um zu bemerken, wenn etwas schrecklich im Argen liegt. Ansonsten gäbe es keinen Grund für James, wieder in die Stadt zu reisen, wo sein Vater ihn doch am liebsten so weit wie nur möglich aus seinen Geschäften sowie anderweitigen Aktivitäten heraushalten möchte. Und es ist nicht nur das. Die Besorgnis steht euch allen ins Gesicht geschrieben; sogar dir."
„Ich weiß."
Er war immer noch genauso kurz angebunden wie zuvor, was mich in meiner Annahme über eine eventuelle, kritische Situation bestärkte, gleichzeitig jedoch daran zweifeln ließ, dass es angebracht war, an dieser Stelle weiter nachzuhorchen. Alles in mir sträubte sich dagegen, die Grenze der Höflichkeit ein weiteres Mal zu überschreiten, anstatt das Thema erst einmal ruhen zu lassen, bis durch Zufall weitere Details an mein Ohr drangen.
Gleichzeitig allerdings kribbelte die Fläche meiner rechten Hand, wies mich darauf hin, dass jene Grenze zwischen Theodore und mir schon längst aufgehoben oder zumindest mehrfach überschritten und somit bedeutungslos war. Wenn ich ihn weiter ausfragte, nahm ich mir nur das, was mir zustand; was ich benötigte, um stark zu sein, wie er und die anderen es gerne ausdrückten.
„Ich habe mit nichts andere gerechnet, weswegen ich außerordentlich erfreut darüber wäre, wenn du mir verraten würdest, was es ist, das alle so bedrückt."
Die Distanz zwischen uns schien sich augenblicklich zu vergrößern, obwohl wir nur wenige Fuß voneinander entfernt saßen.
„Um ehrlich zu sein, würde ich es am liebsten vermeiden", gab Theodore zurück. „Zumindest vorerst."
„Weswegen?", begab ich mich nun in die Position der erpicht Nachfragenden.
„Ich bin nicht bereit, jetzt darüber zu reden, Evelyn", blaffte er, als sei ich ein kleines Kind. „Es wäre besser, den Dingen jetzt etwas Zeit zu geben."
„Seit wann verhältst du dich auf diese Weise?", erwiderte ich nun ebenfalls gereizt.
Es passte so gar nicht zu Theodore, dass er sich so feige einer Konversation entzog. Zwar war Umgänglichkeit keine Stärke, mit der er sich rühmen konnte, doch war er der Letzte, der eine Auseinandersetzung gezielt meiden würde. Und eine solche war nicht einmal zu erwarten, da ich lediglich wissen wollte, was die Hamiltons bedrohte.
Des Weiteren konnte ich es nicht als Ausrede hinnehmen, dass er Zeit benötigte, denn was mochte schon geschehen, das das Abwarten lohnenswert machte? Entweder beruhigte sich die Lage oder gipfelte im Niedergang der Hamiltons. Es war eine Entwicklung in die eine oder die andere Richtung zu erwarten ohne Dazwischen und er musste sich dessen bewusst sein. Was hielt ihn also dazu an, auf etwas warten zu wollen, dass ohnehin außerhalb seiner Macht lag, bevor er mir verriet, um was es sich dabei handelte?
Wahrscheinlich würde ich es nie erfahren, wenn ich jetzt nicht hartnäckig blieb, denn Theodores Antwort war eindeutig: „Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig."
„Damit machst du es dir erstaunlich leicht, findest du nicht auch?", gab ich zurück; seltsamerweise, ohne die schnippisch gesprochenen Worte danach zu bereuen.
Theodore setzte dazu an, sich wie so oft mit der Hand durch die braunen Locken zu fahren, brach die Bewegung dann jedoch ab und ballte stattdessen eine Faust. „Ja, ich gebe mir gerade die größte Mühe, es mir so einfach wie möglich zu machen, was einschließt, nicht mit dir darüber zu sprechen."
„Auch ohne es laut auszusprechen, siehst du so aus, als würde das, was dich bedrückt, dich nicht loslassen und deine Gedanken einnehmen", versuchte ich es etwas sanfter. „Ich bezweifle, dass es dir schaden würde, mir wenigstens ansatzweise mitzuteilen, was gerade vor sich geht, anstatt mich in beängstigender Unwissenheit zurückzulassen. Es ergeht mir nicht besser als dir."
„Wir könnten diese Diskussion ewig fortführen..."
Ich nickte. „Ja das können wir und ich gedenke, es zu tun, da ich nicht die Zeit besitze, darauf zu warten, dass der richtige Augenblick für dich gekommen ist, um mich mit dem zu behelligen, was mir unter Umständen mehr Zeit verschaffen könnte oder immerhin einen winzigen anderen Vorteil. Und dir entstünde daraus kein Nachteil, außer vielleicht, dass du dir eingestehen musst, unerträglich stur und ein elender Heuchler zu sein."
Theodore machte eine wegwerfende Handbewegung. „Genug davon."
„Dann rede endlich."
„Du bist wirklich unausstehlich." Er klang auf einmal nicht mehr ausweichend. Diese Worte waren sein voller Ernst.
War ich wirklich unausstehlich?
Nein, ich durfte mir jetzt keine Gedanken darüber machen, was er von mir hielt, sondern ihn weiter in die richtige Richtung drängen. Er hasste mich doch ohnehin schon. Es gab nichts, was ich in dieser Unterhaltung zu verlieren hatte.
„Wenn ich unausstehlich wäre, würdest du jetzt nicht versuchen, mir standzuhalten", gab ich betont trocken zurück, konnte ein leichtes Zittern jedoch nicht aus meiner Stimme verbannen. „Ich will doch nur wissen, was in London gerade vor sich geht und damit meine ich nicht das, was ich durch einen Blick in die Zeitung erfahren kann, sondern die zwielichtigen Geschäfte, die Jonathan schon durch die Gerüchte fast den Kopf gekostet haben."
„Wenn herausgekommen wäre, dass die Gerüchte mehr sind als nur bloße Hirngespinste, hätte er dennoch einen Weg gefunden, seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen", antwortete Theodore schließlich. „Dieses Mal wird das nicht gelingen, wenn nicht jeder Schritt wohlüberlegt gemacht wird."
„Was ist es denn, das euch bedroht?"
Er schien sich nicht im Geringsten daran zu stoßen, dass ich ihn mit den Hamiltons gleichsetzte und in das Dilemma miteinbezog. Dennoch schien ich erneut auf eine unsichtbare Mauer der Verschwiegenheit gestoßen zu sein.
„Jetzt kannst du erst recht nicht erwarten, dass ich dir deine Ruhe lassen werde, wenn du beginnst, in Rätseln zu sprechen und diese dann nicht aufklären willst", schob ich noch hinterher, nachdem einige Momente Stille geherrscht hatten.
Theodore verzog missfällig den Mund, schien dann allerdings endlich gebrochen zu sein. „Ich schätze, ich werde es heute sowieso nicht mehr vergessen können, nachdem du mich so lange darauf festgenagelt hast."
„Nun?"
„Ich kenne keine Details; nur das, was Jonathan uns hierhin übermittelt hat, aber so wie es aussieht, will der Rat ihn seiner Position entheben. Er steht kurz davor, gänzlich entmachtet zu werden und das einzige, was ihn davor bewahrt, ist sein Geld. Ärgerlicherweise hat er durch den Verlust der Carter-Heffleys als Geschäftspartner viel zurückstecken müssen."
„Du meinst, er kann seine illegalen Geschäfte nicht mehr mit denen verbinden, die er mit ehrlichen Leuten wie meinem Vater tätigt?"
Ein Ausdruck der Überraschung machte sich auf Theodores Gesicht breit. „Ja, so in etwa. Ich hätte nicht gedacht, dass du Ahnung davon besitzt."
Schulterzuckend erwiderte ich: „Ich kenne mich nicht mit Wirtschaft aus, aber was für einen Grund gäbe es sonst, dass Arthur Carter-Heffley die anderen Geschäfte überhaupt entdeckt hätte?"
„Das stimmt wohl." Theo begann, seine Zeitung zusammenzufalten. „Vielleicht sollten wir nicht annehmen, dass wir dich vollkommen unbehelligt lassen sein könnten."
„Dann steuere deinen Teil dazu bei, dass dem nicht so ist."
Er stand auf. „Habe ich das nicht schon getan?"
„Ich bin fast genauso unwissend wie zuvor, denn du hast immer noch halb in Rätseln gesprochen und dich in vage Formulierungen geflüchtet. Ich will doch nur wissen, wovor ich mich fürchten muss oder eben nicht. Bitte." Ich flehe dich an, fügte ich noch in Gedanken hinzu, was ich allerdings nie im Leben laut ausgesprochen hätte. Ich hatte ihn bedrängt, hatte an sein Gewissen und seine Vernunft appelliert und er schien verstanden zu haben, wie grausam es war, nicht zu wissen, was um einen herum geschah.
„Und ich weiß nur wenig mehr als du", gab Theodore zurück. „Sie werden Jonathan testen, werden ihm unüberwindbare Hürden in den Weg legen und es womöglich sogar riskieren, dass alles an die Öffentlichkeit gerät."
„Und sich damit selbst in Gefahr bringen? Wer auch immer sie sind."
Erst jetzt wurde mir wahrlich bewusste, dass ich nicht die geringste Ahnung davon hatte, was der Rat, von dem alle so oft sprachen, eigentlich war. Ein Zusammenschluss von Unbekannten, dafür verantwortlich, dass die Bluttrinker nicht über die Stränge schlugen und im Zweifelsfall – oder eher lieber einmal zu viel als zu wenig – sanktioniert wurden, doch was nützte mir dieses Wissen schon? Ich wusste nicht, wer sie waren, konnte nicht einschätzen, wie sie dachten, wie ihre Hierarchie aufgebaut war und welchen Gesetzen sie folgten, wenn sie es denn gar taten und nicht doch reine Willkür ausübten.
„Sie sind allesamt wahnsinnig", lieferte Theodore mir daraufhin leichthin die Antwort. „Sie sind eingenommen von ihren Idealen und dem Willen, sich möglichst viel Wohlstand anzuhäufen und gleichzeitig ihre Machtgelüste ausüben zu können. Die Restriktionen, die sie sich zwangsläufig in den letzten Jahrzehnten auferlegen mussten, da es immer schwieriger wird, verborgen zu bleiben und nicht für Verbrechen belangt werden zu können, haben sie reizbar gemacht.
Auch wenn es für dich nicht danach aussieht, ist Jonathan der progressivste unter ihnen. Derjenige, der die Zusammenarbeit mit den Menschen am meisten wertschätzt und sich bemüht, ein möglichst unauffälliges Leben zu führen. Er kann sich dennoch nicht in Gänze von den alten Strukturen lossagen und schätzt das Blut genauso sehr wie seine Ratskollegen."
Ich schüttelte ungläubig den Kopf. „Davon habe ich nichts zu spüren bekommen."
„Du musst es im Vergleich zu den anderen betrachten."
„Es ist ein Vergleich, den ich jetzt nicht ziehen kann und es aller Wahrscheinlichkeit auch nie werde. Eher würde die Hölle zufrieren."
„Du bist wirklich wütend", stellte Theodore fest.
„Natürlich bin ich das. Was bleibt mir anderes übrig? Entweder ich bleibe in Rage und lehne mich gegen alles auf, was mir gefährlich werden könnte oder ich gehe ein."
„Es ist gut, dass du wütend bist. Bis nachher."
Theodore verließ den Salon, die Zeitung unter den Arm geklemmt. Ich hätte ihn gerne noch weiter ausgefragt, denn auch wenn er mir mehr verraten hatte als er zu Anfang beabsichtigt hatte, war es immer noch nicht genug. Das Leben der Bluttrinker war wie ein von einem Laken verdecktes Gemälde, das ich nicht befreite, indem ich das Laken herunterzog, sondern immer weiter kleine Stücke davon mühsam herausschnitt.
Der Ausschnitt, den ich gerade freigelegt hatte, zeigte Angst. Wirkliche, tiefgehende Angst. Und obwohl dieses Gefühl eigentlich ansteckend sein und mich ebenfalls packen sollte, verspürte ich das genaue Gegenteil. Ich musste bei dem Gedanken an den drohenden Untergang der Hamiltons lächeln, denn er war mein unbeschwertester Weg in die Freiheit und ich musste nicht einmal etwas dafür tun außer abzuwarten.
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