Samstag, 24.05.1879

Während andere Leute sich am Samstagabend vergnügten, sich die Zeit mit Freunden vertrieben und Veranstaltungen verschiedenster Art aufsuchten, wenn sie denn in der Stadt wohnten, musste ich einen Blick auf den Kalender werfen, um einerseits zu bemerken, welcher Wochentag heute war und andererseits, dass der Mai sich schon dem Ende neigte. Es war schon eine Woche seit Lord Jonathans Besuch vergangen, obwohl es genauso gut gestern hätte sein können, dass er ebenso eilig abgereist wie er angekommen war.

An den letzten beiden Abenden hatte ich mich wieder mit James im Schach gemessen, den es nicht zu stören schien, so viel Zeit mit mir zu verbringen. Es kam mir eher so vor als genösse jede Sekunde mit mir, auch, wenn er nicht gerade mein Blut trank. Womöglich lag es aber auch daran, dass er allein mit seiner Schwester und später auch mit Theodore auf dem Anwesen aufgewachsen war und sich nicht daran stieß, bei den Frauen zu bleiben.

Mittlerweile hatte ich mich sogar daran gewöhnt, dass er nicht einmal mit mir Schach spielen konnte, ohne mich auf irgendeine Art und Weise zu umgarnen und da wir uns in den letzten paar Wochen ohnehin wieder nähergekommen waren, setzte ich daran nichts mehr aus, sondern nahm als angenehmste Alternative zur Zweisamkeit in Kauf.

Als ich jedoch nach dem Dinner ihm gegenüber erwähnte, dass ich heute gerne wieder in einer oder mehrerer Partien Schach gegen ihn spielen würde, winkte er ab. „Nein, ich denke wir sollten heute Abend etwas anderes tun."

Fragend sah ich ihn an. „Etwas anderes? Und das wäre?"

Er zögerte einen kurzen Moment lang, was schon reichte, um Zweifel gegen das, was er im Sinn hatte, in mir hinauf zu beschwören. „Ich denke, das sollten wir besprechen, wenn wir unter uns sind", antwortete er mir schließlich und warf einen prüfenden Blick zu Theodore, seiner Mutter und Florence, die gerade begann, den Tisch abzudecken.

Was konnte er tun, das nicht für ihre Ohren bestimmt war? Er wollte wohl kaum andeuten, dass er gerne eine Hochzeitsnacht mit mir nachspielen wollte. Oder etwa doch? Wie weit war er bereit zu gehen?

Bevor ich allerdings weitere Fragen stellen konnte, hatte er mich zwar sanft, aber dennoch ungeniert am Arm genommen und führte mich weg, in Richtung meines Zimmers.

„James, was soll das?", zischte ich ihm zu, doch er ignorierte meinen ungewöhnlichen harschen Tonfall und führte mich einfach weiter, die Treppe hinauf, den Flur entlang und durch die zum Glück nicht abschließbare Tür meines Raumes.

Während er die Tür hinter uns schloss, ließ er mich los und ich nutzte die Sekunden, um ein Stück zurückzuweichen. „James, was soll das?", wiederholte ich.

James trat einen Schritt nach vorne und verringerte unseren Abstand so wieder. „Entschuldige mich, ein wenig rabiat gewesen zu sein, aber ich möchte dich um einen Gefallen bitten."

„Einen Gefallen erbittet man freundlich und nicht, indem man sich so verhält, wie du es gerade getan hast" maß ich mir an, ihn zurechtweisen.

„Ich musste die Zeit nutzen, die uns alleine vergönnt ist, Evelyn, ohne, dass wir Aufsehen erregen würden", versuchte er, sich zu rechtfertigen.

Ungläubig reckte ich die Augenbrauen in die Höhe. „Das klingt ganz so, als wäre es etwas Unangebrachtes, wenn nicht sogar Verbotenes, zu dem du mich gerade verführen willst."

„Es ist nicht gerne gesehen", gab er zu, doch er klang nicht so, als würde ihn diese Tatsache stören. Wenn es Regeln gab, waren sie für die Hamiltons nur da, um gebrochen zu werden, wie mir schien.

„Was ist es denn nun, um was du mich bitten willst?", fragte ich, wahrscheinlich eine Spur zu zögerlich, denn sofort kam er auf mich zu und legte mir die Hand auf die Schulter, wie eine Mutter es bei ihrem kleinen Kind tat, um zu zeigen, dass alles in bester Ordnung war.

„Ich will, dass du mir von deinem Blut gibst."

Mir gefror das Blut in den Adern und sofort sagte ich klar und deutlich die einzige Erwiderung, die ich darauf geben konnte. „Nein!"

„Du bist nicht in der Position, darüber zu entscheiden", meinte James bestimmt.

„Und du sagtest mir, es wäre ein Gefallen, den ich dir tun würde und du trügest es als Bitte zu mir heran, nicht als einen Befehl", gab ich zurück, während ich einen Schritt rückwärts trat, da es mir nicht gefiel, dass er mir so nah war, mich berührte, wenn er eine solche Forderung stellte.

Er wahrte die körperliche Distanz zwischen uns, trat mir mit seinen Worten aber dennoch nahe. „Es ist trotzdem ein Gefallen, den du mir tust, Evelyn, und ich werde dir wirklich dankbar dafür sein. Zudem gibt es gar keinen Grund für dich abzulehnen."

„Nichtsdestoweniger lehne ich ab, James", erwiderte ich, ebenso bestimmt wie er es war. Bis jetzt hatte ich mich immer damit abgefunden, dass er sich von mir nahm, was er wollte, dass er Forderungen stellte und es als Selbstverständlichkeit hinnahm, dass ich darauf einging. Doch ihm einmal mehr mein Blut zu trinken zu geben, war eindeutig zu viel und überschritt das Maß deutlich. Ich war nur ein Mensch, eine Frau noch dazu und konnte nicht unendlich viel entbehren.

„Es wäre doch nur dieses eine Mal", versuchte er weiterhin, mich zu überzeugen, doch ich schüttelte nur den Kopf.

„Das letzte Mal liegt erst drei Tage zurück. Ich habe kein medizinisches Wissen, aber ich habe das Gefühl, das mein Blut merklich länger braucht, um sich zu regenerieren. Wenn ich dir jetzt etwas gebe, wäre das meiner Gesundheit nicht zuträglich." Ich versuchte die Stimme der Vernunft zu sein, die ihn dazu brachte, meine Überzeugung zu erlangen und sich umstimmen zu lassen.

James jedoch ließ sich darauf nicht ein. „Du stehst hier gerade vor mir und siehst aus wie eh und je. Ich denke kaum, dass es Auswirkungen haben wird und wenn doch, dann werde ich dich in der nächsten Woche schonen."

„Und woher soll ich wissen, dass das nicht nur leere Versprechungen sind?", stieß ich ihn vor den Kopf. „Außerdem verlasse ich mich dann auf das Wort eines Mannes, der diese Entscheidung für sich allein treffen will, obwohl sie missbilligt werden würde, wenn es stimmt, was du mir eben gesagt hast. Deine Eltern würden es nicht gutheißen."

„Weil sie dich nicht kennen", widersprach James und kam nun erneut einen Schritt auf mich zu. Weit konnte ich nicht mehr zurückweichen, denn dann stünde mir das Bett im Weg.

„Ich kenne mich, James", wagte ich einen letzten Versuch. „Und bei Gott, ich möchte nicht herausfinden, was mit mir geschieht, wenn du zu viel trinkst. Es ist keine Limonade, die du zu dir nimmst, sondern das, was mich am Leben hält."

Er sah mich auf einmal erbost an. „Und du glaubst, ich würde dein Leben nicht schätzen?"

„Das habe ich dir niemals unterstellt", entgegnete ich. „Ich sage lediglich, dass es das Beste wäre, wenn wir es bei dem belassen, das wir vereinbart haben. Wozu benötigst du es überhaupt ausgerechnet jetzt?"

„Du kennst nicht diesen Drang nach mehr, welchen ich verspüre, wenn ich dein Blut trinke. Ich nehme gerade so viel wie ich brauche, um am Leben zu bleiben und meine Gesundheit zu erhalten, doch es reicht nicht aus, um sich vollwertig zu fühlen. Es ist so, als ob dir etwas fehlt und du willst es haben und heute ist es ganz besonders schlimm."

Er wusste gar nicht, wie gut ich dieses Gefühl kannte. Jeden Morgen wachte ich auf und sehnte mich danach, mehr schlafen zu können. Wenn ich aß, dann befriedigte es zwar mein Hungergefühl, doch auch wenn mein Magen gefüllt war, fehlte immer noch etwas. Und dieses Etwas war das Blut, das er mir nahm und welches ich nicht einfach so zurückerhielt, wie er es zu glauben schien.

„Es sind nur noch vier Tage, die du warten musst", versuchte ich ihn zu beschwichtigen. „Du wirst diese vier Tage unbeschadet überstehen."

Ich griff nach seiner Hand und drückte sie mit meiner. Wenn man James mit einer Sache zufriedenstellen konnte, dann damit, auf ihn zuzukommen, in jedweder Art und Weise. Glücklicherweise erwiderte er meine Geste, was mich darauf hoffen ließ, dass die Wut gleich nicht aus ihm herausbrechen würde, sondern ich ihn besänftigt hatte.

„Ich bitte dich wirklich inständig, Evelyn."

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, es tut mir leid, aber ich kann es nicht."

James senkte den Blick, nur um dann wieder hochzusehen, direkt in meine Augen. Er wusste, wie er versuchen musste seine Ziele zu erreichen, aber ich fragte mich, ob er sich dessen überhaupt bewusst war. Er schien sich schließlich auch nicht daran zu stören, mich im Zweifelsfall zu Grunde zu richten, bloß damit er sich gut fühlte.

„Aber du musst..."

Ein Klopfen ließ uns hochschrecken und auseinanderfahren. Ich rief „Herein" und es war mir gleichgültig, wer hineinkam, solange es mir half dieser Aussichtslosen Szene mit James zu entfliehen.

Ich hätte damit rechnen müssen, dass es Florence war und auch wenn mich einen Moment lang die Enttäuschung traf und meine Wut gegen sie kurz aufbegehrte, wurde diese doch direkt danach von Dankbarkeit besänftigt, denn sie war der perfekte Grund, um James aus meinem Zimmer zu entlassen und ihn hoffentlich nicht wiederkehren zu lassen.

„Ich habe hier frisch gereinigte Kleidung für Sie, Miss", teilte Florence mir mit, unbeeindruckt davon, dass ich nicht alleine war.

„Danke. Wärst du so freundlich, sie jetzt wieder in den Schrank zu räumen? James hatte ohnehin vor zu gehen", schob ich eilig meinen guten Grund vor und der Besagte hatte keine andere Chance, als meinem Willen zu folgen und das Zimmer zu verlassen.

Anfangs zierte er sich noch, doch als ich ihm einen drängenden Blick zuwarf, entschied er sich doch dafür, zu verschwinden, denn wenn er eines nicht wollen würde, dann war das, die Missgunst seiner Familie auf sich zu sehen, indem Florence ahnen würde, was er von mir gewollt hatte.

„Du kamst gerade im richtigen Moment", konnte ich mich nicht zurückhalten zu sagen, als ich mit dem Hausmädchen allein war.

„Darf ich Sie so unumwunden fragen, weswegen dies der Fall war?"

Jetzt, wo ich begonnen hatte zu erzählen, käme es mir merkwürdig vor, ihr die Antwort vorzuenthalten. „Es dürstete ihn nach Blut."

„Wenn es das tat, ist es nicht Ihre Aufgabe dieses Bedürfnis zu stillen, Miss", antwortete Florence mir, was ich sowieso schon wusste. „Sie können ihm nicht mehr geben, als sie haben."

„Und dennoch hat er es eingefordert", klagte ich ihr mein Leid, wie ich es schon immer getan hatte. „Ist es denn wirklich so dringlich, den Konsum zu erhöhen, wenn es einem danach gelüstet?"

„Ich fürchte, ich bin nicht die Richtige, um Sie darüber in Bilde zu setzten, Miss."

„Ach nein?", fragte ich überrascht.

„Ich habe in meinem ganzen Leben noch keinen Tropfen Blut getrunken und werde es auch nicht tun. Ich lebe immer noch und es geht mir gut, solange ich mein Glück nicht zu sehr auf die Probe stelle", erläuterte sie mir, nicht ohne einen gewissen Stolz in der Stimme zu tragen.

„Vielleicht solltest du versuchen, ihn zu überzeugen", murmelte ich eher mir selbst zu.

„Glauben Sie ja nicht, ich hätte es nicht schon versucht", entgegnete Florence. „Manchmal sind seine Launen unumgänglich. Das waren sie schon immer."

Hätte sie diesen letzten Satz nicht gesagt, hätte ich beinahe wieder vergessen, dass sie eine von ihnen war, doch nun war ich wieder daran erinnert. „Dann wäre alles gesagt. Du weißt besser als ich, wo meine Kleider hängen müssen."

Mit diesen Worten verließ ich mein Zimmer und ging zurück in den Salon, wo mich zwar auch James erwartete, aber ebenso seine Mutter, deren wachenden Augen nichts entging. Auch wenn diese sich meistens gegen mich richteten, war es heute auch ein Schutz, den ich nutzen musste und das wahrscheinlich auch an den unzähligen Tagen, die noch kommen sollten.

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