Samstag, 08.02.1879

Theresa aß nicht mehr. Als ich ihr ihr Mittagessen brachte, war das Frühstück noch unangetastet und sie lag da als hätte sie sich in der Zwischenzeit nicht ein bisschen bewegt. Ich sah, dass sie am Ende ihrer Kräfte war und ich bezweifelte, dass sie die Nacht überleben würde. Das hatte ich auch schon in den letzten paar Nächten gedacht, aber dieses Mal sah ich, dass für sie jede Hilfe zu spät kam.

Ich hockte mich neben sie und strich ihr die Haare aus dem Gesicht, aber sie schien nicht zu merken, dass ich überhaupt da war.

„Theresa", sagte ich ihren Namen und ihre Augenlider flatterten kurz, aber zurück ins Bewusstsein holte es sie nicht.

Ihre Haut war so durchscheinend und ihre Wangen so ausgehöhlt. Würde sie nicht atmen, würde ich denken sie wäre schon tot.

Ich nahm das Tablett mit dem unangetasteten Frühstück wieder mit nach oben und stellte es in der Küche ab. Cornelia beäugte es mit einem kritischen Blick, sagte aber nichts. Sie war immer so schweigsam und schien mich auch nicht besonders zu mögen, aber ich sah ihr an, dass sie Mitleid für Theresa empfand.

„Könnten Sie Theresa bitte zum Abendessen eine Brühe zubereiten?", fragte ich. „Ich bin mir sicher, dass es ihr das... Sterben erleichtern würde."

Ich hatte die Worte gesprochen. Merkwürdig, dass mir das viel schwerer fiel, als ihren halbtoten Körper anzusehen.

„Wenn sie bis dahin noch lebt, werde ich das tun, Miss Whiting", sagte Cornelia kurz angebunden und ich wusste, dass ich von ihr nichts Weiteres erwarten durfte, aber es tat gut zu wissen, dass Theresas Wohlergehen oder das, was noch davon zu erhalten war, nicht nur mir am Herzen lag.

-

Kurz vor dem Tee wollte ich noch einmal nach Theresa sehen. Ich war überrascht, die Tür zu ihrer Zelle offen vorzufinden. Noch überraschter war ich, dass Annabeth in ihr stand.

„Was machst du hier?", fragte ich vorwurfsvoll.

„Dachtest du wir würden sie hier alleine lassen? Ich passe auf sie auf."

„Die letzten Wochen über war sie dir auch egal."

„Sie war mir nicht egal, aber es war nicht meine Aufgabe für sie zu sorgen. Du wirst nie verstehen können, was unsere eigenen Gesetze für uns bedeuten und welche Vorstellungen von Moral für uns zählen. Und ich will mich nicht mit dir darüber streiten. Das tust du mit James schon zur Genüge."

Sie hatte Recht. Ich stritt mich viel mit James und immer waren es dieselben Streitpunkte, die aufkamen. Und nichtsdestotrotz hatte ich mich in ihn verliebt, während ich Annabeth immer noch nicht hatte verzeihen können.

„Wie geht es ihr?", fragte ich, obwohl mir ein Blick auf sie schon genügte, um zu sehen, dass sich ihr Zustand nicht im Geringsten gebessert hatte.

„Es geht ihr scheußlich", sagte Annabeth mit monotoner Stimme. „Eben war sie kurz wach, aber sie konnte kaum reden. Aber sie hat ein paar Schlucke Wasser getrunken. Allerdings hat es sie sehr angestrengt."

„In Ordnung", meinte ich nur und ging zu Theresa und kniete mich neben ihr Bettlager.

Ich nahm ihre Hand in meine Hände. Sie war so kalt, dass ich einen kurzen Schrecken bekam, bis ich sah, dass ihre Augen sich einen Spalt breit öffneten.

„Willst du etwas trinken?", fragte ich und sah erschreckenderweise, dass Theresa ganz leicht ihren Kopf schüttelte.

„Wirklich nicht?", hakte ich noch einmal nach. Erneutes Kopfschütteln.

„Es ist besser, wenn du trinkst", versuchte ich sie erneut zu überreden, aber erneut schüttelte sie den Kopf. Diesmal energischer, mit so viel Kraft, dass ich nicht gewusst hatte, dass sie diese überhaupt noch besaß.

„Wenn du etwas brauchst, teile es mir bitte mit", sagte ich flehentlich und merkte, dass mir auf einmal Tränen in die Augen traten, die ich sonst in ihrer Gegenwart immer hatte zurückhalten können. „Oder sag einfach irgendetwas, bitte. Ich muss nur wissen, dass du das noch kannst."

Ihre vor Trockenheit aufgerissenen Lippen öffneten sich langsam, um etwas zu sagen.

„Erlöse mich", hörte ich Theresas heisere, nach jeder Silbe brechende Stimme, während ihre Hand sich in Richtung ihres Kissens bewegte. „Bit...te."

Zunächst verstand ich nicht und dann traf mich die Erkenntnis mit einer solchen Wucht, dass es schmerzte.

„Das kann ich nicht tun", wisperte ich.

Verzweifelt suchte ich Annabeth' Blick. Sie stand kerzengerade mitten im Raum und rührte sich nicht.

„Ich werde nichts sagen", sagte sie ruhig. „Gib vor als sei ich gar nicht da."

Ich sah wieder zu Theresa, die so leidend vor mir lag und nur einen einzigen letzten Wunsch von mir hatte. Was konnte ich anderes tun, als ihn ihr zu erfüllen.

Ich ließ ihre Hand los, stützte ihren Kopf und holte behutsam das Kissen hervor. Es war so weich. Es war ein Kissen. Kissen waren harmlos. Sie waren kein Mordinstrument. Und doch sollte ich dieses jetzt als ein solches missbrauchen.

Ich grub meine zitternden Hände in den Stoff und spürte, wie die Daunenfüllung unter meinem klammernden Griff nachgab. Die Tränen stiegen immer weiter an, liefen aus meinen Augen hinaus und nahmen mir die Sicht. Alles vor mir war nur noch verschwommen, da war Salzgeschmack in meinem Mund und das Kissen immer noch in meinen Händen.

Ich bewegte es auf sie zu, ließ es ihrem Gesicht immer näherkommen, während ich erahnte, dass sie die Augen schloss. War das etwa ein zufriedener Ausdruck auf ihrem Gesicht?

Ich konnte es nicht sagen.

Und dann war der Moment da. Der Moment, als ich auf Widerstand stieß. Ich presste das Kissen so fest über ihren Mund und ihre Nase wie ich konnte. Ich war es ihr schuldig, das zu tun.

Während ich weinte und das Kissen so festhielt wie nur möglich, spürte ich auf einmal wie der Körper vor mir anfing zu zucken. Sie wehrte sich mit all der ihr verbliebenen Kraft kämpfte sie gegen mich an. Sie kämpfte um ihr Leben. Und ich drückte. Es war so unerträglich. So unerträglich schwer diese Bürde zu tragen. Und sie wehrte sich weiter. Und dann schlug ihr Arm nach mir. Sie streifte mich nur und doch fühlte es sich an, als würde das gesamte Haus über mir einstürzen und mich unter sich begraben.

Was tat ich hier?

Wer war ich, dass ich jemandes Leben nahm?

Ich ließ das Kissen los, stand so schnell auf wie es mir möglich war und starrte Theresa an, die jetzt zwar scheinbar leblos dalag, aber deren Brust sich immer noch leicht senkte und hob.

Rückhaltlos begann ich zu schluchzen und konnte nichts dagegen tun. In meiner Verzweiflung sah ich hinüber zu Annabeth, die augenblicklich die drei Schritte auf mich zugeeilt kam, die uns trennten und mich in den Arm nahm.

„Ich konnte nicht", schluchzte ich.

„Es ging nicht."

„Ich kann doch nicht..."

„Was habe ich nur...?"

„Wieso habe ich...?"

All diese Sätze, die kaum artikuliert aus meinem Mund sprudelten, während Anna mich einfach nur festhielt, damit ich nicht auseinanderbrach.

„Alles ist gut", flüsterte sie in mein Ohr, als ich mich etwas beruhigt hatte. „Unabhängig davon, welche Entscheidung du getroffen hättest, es wäre die richtige gewesen."

„Wie...?"

„Du hast die Entscheidung getroffen mit der du weiterleben kannst, Evelyn. Es ist richtig gewesen, hörst du?"

„Aber jetzt muss sie leiden", krächzte ich.

„Sie spürt kaum noch etwas. Bald ist es vorbei. Und glaubst du die wenigen Stunden machen noch etwas aus, nach allem, was sie durchleben musste?"

„Aber es war ihr Wunsch, Anna."

„Pscht... Gräme dich nicht. Gib dir nicht die Schuld dafür. Wenn du willst, lass mich es tun."

Ich wand mich aus ihren Armen. „Wirklich?"

„Es wird nicht mehr lange dauern", versprach Annabeth. „Willst du dabei sein?"

Ich wusste es nicht und schwieg.

Annabeth fuhr ihre Fangzähne aus und ich verstand, wie sie Theresas Leben ein Ende setzen wollte. War ich bereit, das zu ertragen?

„Geh, wann immer du willst", sagte Anna und strich mir noch einmal beruhigend über den Arm.

Jetzt war es Annabeth, die vor Theresa kniete und auch sie nahm ihre Hand. Allerdings tat sie das, um das Handgelenk an ihren Mund zu führen. Ich sah nicht wie sie trank, aber ich wusste, dass ihre Zähne sich durch die dünne Haut gebohrt hatten und das letzte verbliebene Blut aus dem geschundenen Körper sogen.

Ich blieb stehen, erstarrt wie eine Salzsäule, unfähig mich zu rühren, bis Annabeth nach einer gefühlten Ewigkeit Theresas Arm wieder ablegte.

Sie stand auf und drehte sie langsam zu mir um.

„Ihr Puls schlägt nicht mehr. Sie ist tot."

Und die Schluchzer brachen wieder aus mir heraus und wieder nahm Annabeth mich in den Arm. Diesmal entließ sie mich deutlich früher aus ihrer Umarmung. „Verabschiede dich von ihr."

Und ich sah Theresa, die ich nur so kurze Zeit gekannt hatte, ein letztes Mal an. Zu mehr war ich nicht in der Lage.

„Auf Wiedersehen", sagte ich leise. „Ich hoffe du bist jetzt im Himmel."

Und Annabeth geleitete mich aus der Zelle im Keller, die ich hoffentlich nie wieder im meinem Leben betreten musste.



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