Samstag, 04.01.1879
Liebe Mutter, lieber Vater,
ich kann mit Worten nicht ausdrücken wie sehr ich Euch vermisse. Ihr seid so unendlich weit fort; so viele Wochen Reise entfernt, dass ich es mir gar nicht ausmalen kann.
Auch wenn ich Euch in jeder Minute vermisse und mir manchmal wünsche Euch begleitet zu haben, bereue ich es nicht in England geblieben zu sein. Ich lebe hier in einem Haus, das so groß und schön ist, dass ich mir niemals ausgemalt hätte, je in einem solchen zu leben. Zwar ist es hier recht einsam, so weit entfernt von der nächsten größeren Stadt, doch es ist eine vollkommen neue Erfahrung, die ich hier erleben darf und das ist es, wovon ich später profitieren kann. Findet Ihr nicht auch?
Ich habe mich hier schnell zu Hause gefühlt und denke, dass es keinen besseren Ort für mich gibt, an dem ich jetzt sein könnte, ohne Euch.
Ich hoffe, Euch ergeht es in Indien ähnlich. Ihr müsst mir unbedingt berichten, wie es dort aussieht und natürlich in allen Einzelheiten, was Ihr dort erlebt. Ich stelle es mir unfassbar spannend vor, inmitten dieser fremden Welt zu leben, denn Indien ist schließlich beinahe ein Kontinent für sich. Ebenso sehr hoffe ich, dass Eure Geschäfte so laufen wie ihr es geplant habt.
Zu dem Zeitpunkt, an dem ich diesen Brief verfasse, müsstet Ihr gerade eure Schiffsreise beendet haben. Ich will gar nicht darüber nachdenken, dass dieser Brief noch dieselbe Reise überstehen muss und diese schrecklich lange Zeitspanne benötigt, bis er Euch endlich erreicht.
Es ist ein Segen, dass ich hier genug Ablenkung finde, um mir nicht jeden Morgen das Schlimmste auszumalen, das Euch zustoßen könnte.
Aber genug mit der Schwarzmalerei. Ich bin mir sicher wir sehen alle der bestmöglichen Zukunft entgegen, die wir uns vorzustellen vermögen.
Ich vermisse Euch schrecklich und sehne mich dem Tag entgegen, an dem ich Euch endlich wiedersehen werde.
Eure Euch liebende Tochter
Evelyn
Ich setzte die Schreibfeder ab und löschte das Geschriebene ab. Es war nicht viel, aber es war alles, was ich schreiben konnte. Meine Eltern sollten wissen, dass es mir gutging und an nichts fehlte.
Mit dem Brief in der Hand verließ ich mein Zimmer, unschlüssig, wen ich um einen Umschlag und das Abschicken bitten sollte.
Ich fand Lady Elizabeth in ihrem Salon vor, wo sie stickte. Die Tür stand halb offen, trotzdem klopfte ich an und trat erst ein, als sie von ihrer Arbeit aufblickte.
„Was kann ich für dich tun, Evelyn?", fragte sie mit der immerwährenden Kühle in ihrer Stimme. Unbewusst hielt ich die beiden Seiten in meinen Händen stärker fest und schluckte.
„Ich habe einen Brief an meine Eltern geschrieben und würde ihn gerne so schnell wie es geht abschicken." Ich war erleichtert, als die Worte meinen Mund verlassen hatten. Diese unnachgiebige Frau, die meine Anwesenheit von allen als einzige zu missbilligen schien, sollte nicht spüren, dass es mich nervös machte, nach etwas so simplem zu fragen.
Lady Elizabeth legte ihren Stickrahmen beiseite und musterte mich einen gefühlt ewig andauernden Moment, bevor sie antwortete.
„Natürlich werde ich zusehen, dass sich darum gekümmert wird." Sie machte eine kurze Pause und ich wappnete mich für das, was nun kam. „Nichtsdestotrotz wirst du sicherlich verstehen, dass dieser Brief zuvor noch einmal gelesen werden muss, um zu gewährleisten, dass keine Informationen nach außen dringen, die nicht für deine Eltern und sonst jemanden, der nicht diesem Haushalt angehört, bestimmt sind. Die gegebenen Umstände lassen uns leider keine andere Wahl, auch wenn ich mir wünschte, es wäre anders."
Es überraschte mich nicht im Geringsten, dass dies eine Kondition war, um meinen Eltern schreiben zu dürfen. Hatte ich überhaupt mit etwas anderem gerechnet? Vielmehr hatte ich erwartet, dass ich womöglich gar nicht frei entscheiden konnte, wann ich Post verschicken durfte.
„Das ist überhaupt kein Problem", erwiderte ich deswegen, fast schon erleichtert. „Sie können ihn schon jetzt lesen, wenn Sie die Zeit dafür haben."
„Der Brief wird sich Montag schon auf dem Weg nach Indien befinden", versicherte mir Elizabeth mit einem höflichen Lächeln auf den Lippen.
„Wenn es dir nichts ausmacht, Mutter, dann werde ich den Brief lesen", hörte ich auf einmal James hinter mir sagen. Er stand im Türrahmen und schenkte mir ein deutlich authentischeres Lächeln als seine Mutter, als mein Blick ihn traf.
„Wenn Evelyn damit einverstanden ist", lautete Lady Elizabeth' Antwort.
Ich nickte.
„Dann komm mit. Wir haben Briefumschläge und Briefmarken im Schreibzimmer meines Vaters."
Lord Jonathan war nicht zugegen, als wir sein Schreibzimmer betraten. James schloss die Tür nachdem wir eingetreten waren und ging zu einem der Schränke an der linken Wand und holte einen Umschlag aus einer der Schubladen hervor.
„Hier, bitte", sagte er und drückte ihn mir in die Hand. Er machte keine Anstalten, den Brief zu nehmen und zu lesen, den ich ihm im Gegenzug hinhielt.
„Du musst noch den Brief überprüfen", forderte ich James auf, aber er schüttelte den Kopf.
„Das ist dein Brief. Deine persönlichen Worte an deine Eltern. Ich verstehe, dass meine Familie bis ins kleinste Detail überwachen will, was du tust, aber ich sehe das ganze anders. Wir haben dir schon so viel von deiner Privatsphäre und deinen eigenen Entscheidungen genommen, dass es nicht gerecht wäre, dir das bisschen Freiheit auch noch zu nehmen. Das Briefgeheimnis ist eine gesellschaftliche Konvention und ich habe mir vorgenommen, mich an solche zu halten. Selbst, wenn ich nicht immer dazu erzogen wurde." Er verzog den Mund zu einem kläglichen Lächeln.
„Dann bitte ich dich darum, ihn zu lesen", sagte ich prompt. Es war eine spontane Entscheidung, aber ich wollte, dass er die Lügen las, die ich meiner Familie unterbreitete.
Einen kurzen Moment zögerte er, dann nahm er mir die Blätter schließlich aus der Hand und ich sah wie seine Augen über die Zeilen flogen, bis er schließlich das Ende der zweiten Seite erreicht hatte. Dann seufzte er und sah mir tief in die Augen. Ich sah Schmerz.
„Du musst so etwas nicht schreiben, Evelyn. Du musst nicht sagen, wie großartig du es hier findest. Es sei denn du meinst es wirklich so..."
„Das Haus ist wirklich großartig", erwiderte ich trocken.
Ich realisierte zunächst nicht, was geschah, aber auf einmal umarmte James mich. Erst war ich einen kurzen Moment lang entsetzt und perplex, doch schnell entspannte ich mich und erwiderte die Umarmung. Es fühlte sich gut an, Nähe von jemandem zu spüren.
„Es tut mir so leid, dass du das hier alles durchmachen musst", sagte er und löste sich langsam von mir. „Es war nicht geplant, dass alles so schnell geht."
Meinte er damit die Tatsache, dass er einer Familie von Blutsaugern angehörte oder unsere Beziehung, die sich seit Weihnachten zaghaft wie eine Blume aus der Erde gewunden hatte?
„Ich komme damit klar", entgegnete ich. „Mir wurde gesagt, ich muss stark bleiben und auch wenn ich mich dafür verändern muss, werde ich diesen Ratschlag beherzigen."
„Ich glaube, du musst dich gar nicht mehr dafür verändern. Ich bin mir sicher, dass ich mich nicht in dir geirrt habe. Und wenn wir erst wieder in London sind, wird für dich alles angenehmer. Dann wirst du wieder anständige Gesellschaft um dich haben."
„So schlecht wie ich zunächst vermutet hatte, ist diese hier gar nicht", antwortete ich. Und das Kribbeln, das meinen Körper durchschoss und mein Herz erneut schneller schlagen ließ, während sich unsere Hände berührten, als er mir den Brief zurückgab, war die Bestätigung dafür.
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