Samstag, 03.05.1879
„Hast du dieses Buch nicht schon gelesen?" James' Stimme klang fast schon vorwurfsvoll, als er sich im Sessel gegenüber von mir in der kleinen Bibliothek niederließ.
Ich schlug die Seite um, las aber nicht weiter, sondern sah stattdessen zu James, der mich ebenfalls musterte und mich auch so ansah, als passe es ihm nicht, dass ich wieder Moby Dick in der Hand hielt. „Das hält mich nicht davon ab, es ein zweites Mal zu tun."
„Die Beschreibung solcher Brutalität und Rachegelüste sollte von niemandem gelesen werden, vor allem nicht von einer Frau", meinte er entschieden.
„Diese Diskussion haben wir schon geführt", erinnerte ich ihn und sah wieder hinunter auf die Buchstaben, die die Geschichte eines eigentlich unbedeutenden Jungen erzählte, der Zeuge von der Zerstörungskraft des menschlichen Wesens wurde.
„Ich würde sie auch ein zweites Mal mit dir führen."
Ich blickte erneut auf. James sah mich noch genauso an wie zuvor, blauäugig wie er war. Es war nicht möglich zu sagen, wieso er hier saß und mit mir redete. Entweder er wollte sich die Zeit damit vertreiben, mir meine Fehler vorzuhalten, um mich so indirekt dafür zu bestrafen, dass ich zur Polizei hatte gehen wollen – vermeintlich – oder er versuchte, sich mir wieder anzunähern, wenn auch auf eine Art und Weise, die nicht zielbringend sein würde. Was auch immer es war, ich hatte nicht die Kraft dafür, jetzt mit ihm auszufechten, dass ich eine eigene Wahl darüber traf, welches Buch ich las, wo mir doch erklärt wurde, dass sie mir alle zur Verfügung standen.
„Wenn du diese Absicht hattest, muss ich dich leider enttäuschen, denn ich sitze hier mit meinem Buch, um es zu lesen", sagte ich eine Spur zu unterkühlt, sodass ich befürchtete, dass James sich dadurch angegriffen fühlen würde.
Ein Lächeln zog sich über sein Gesicht, nachdem ich zu Ende gesprochen hatte. „Aber was wäre, wenn du dir dieses Buch nur erneut ausgesucht hättest, weil unsere Diskussion über seine Qualität und Eignung noch nicht zu ihrem Ende gebracht wurde? Oder du hast es ausgewählt, weil du weißt, was davon zu halten ist und du mich dadurch verärgern willst."
Hatte er diese Behauptungen gerade wirklich geäußert?
„Wie bitte?" Ich war zunächst nicht in der Lage, auf andere Weise darauf einzugehen, auch wenn mein erster Impuls war, zu widerlegen, was er mir unterstellte, allerdings war ich so überrumpelt, dass es mir nicht möglich war, schnell genug Argumente zurechtzulegen.
„Als ich dich gerade sah, fragte ich mich, ob du es nicht genommen hast, weil ich es nicht mag und es mir noch weniger gefällt, dass du es gelesen hast und es ein einfacher Weg ist, um mir indirekt mitzuteilen, du würdest nichts von mir halten", wiederholte er seine Aussage etwas ausgeschmückter. Der Sinn jedoch blieb derselbe.
Immer noch merklich verblüfft über diese irre Behauptung sagte ich: „Wieso sollte mir denn etwas daran liegen, dich zu verärgern?"
Ich ließ es unausgesprochen, dass es für mich deutlich angenehmer war, wenn ich ihn in allen Belangen zufriedenstellte, weil genau diese Tatsache ihm wiederum nicht geschmeckt hätte.
Er biss sich für einen kurzen Moment auf die Unterlippe, bevor er antwortete. Es war ein Spiel seiner Mimik, dessen ich noch nie Zeuge geworden war. „Du schienst in letzter Zeit alles darauf auszulegen, mich zu hassen, wieso auch immer. Es begann damit, dass du uns diskreditieren wolltet und zog sich darin fort, dass du dich von mir abgewandt hast, obwohl es keinen Anlass dazu gab. Diese Zeichen habe ich so gedeutet, dass du etwas an mir auszusetzen hast und jede Chance nutzen würdest, um es mir ins Gedächtnis zu rufen."
James' Stimme klang erstaunlich brüchig, so als zeigte er sich mir gerade von einer verletzlichen Seite. Dabei war das nicht im Einklang mit seiner Arroganz, die er in all ihren Zügen an den Tag gelegt hatte, als er mich eben angesprochen hatte. Dieser Mann war unberechenbar.
Doch trotz meiner Unfähigkeit, ihn einschätzen zu können, ließ es mich nicht los, wie er gerade vor mir saß, eingesunken im Sessel, den Rücken leicht gebeugt und nicht kerzengerade wie sonst. Zudem war sein Blick so unwissend, unschuldig und fragend.
Wäre ich ein unhöflicher Mensch und würde mich nicht darum scheren, was andere von mir hielten, würde ich weiterhin kühl bleiben, aber so war es mir bei ihm nicht möglich. Ich konnte nicht anders, als nachzugeben und mich vor ihm zu rechtfertigen. Außerdem erweckte er nicht den Anschein, als würde er lügen. Jemand wie James, der so wenig Zeit im Beisein von Menschen verbracht hatte, konnte kein gewiefter Lügner sein, der mich mit jedem einzelnen seiner Worte manipulieren wollte. Er musste wirklich glauben, unsere neuerliche Distanz wäre von mir ausgegangen.
Es war nicht einfach, die richtigen Worte zu wählen. Sie tauchten in meinem Kopf auf, verschwanden wieder, es wollte kein Satz entstehen. Vielleicht musste ich einfach reden, ohne darüber nachzudenken, auch wenn es mich wieder in Teufels Küche reiten sollte. „Ich habe nie einen Groll gegen dich gehegt, James, und tue es auch jetzt nicht. Du warst es doch, der allen Grund hatte, mich zu hassen und mit Ignoranz zu strafen."
Es ließ sich nicht vermeiden, dass mit der Erwähnung jeder Nacht, so klein und indirekt sie auch war, die Tränen wieder hochkamen. Während ich damit kämpfte, diese zurückzuhalten und mich nicht der Blöße hinzugeben, ihm meine Schwäche zu präsentieren, zeichnete sich Erstaunen auf seinem Gesicht aus.
„Ist es dir wirklich so erschienen?" Er hatte immer noch nicht seine alte Selbstsicherheit zurückerlangt, schien sich aber nun in einer besseren Position wiederzufinden als eben noch. Zumindest entnahm ich das seiner Körperhaltung, die nun Erwartung signalisierte, indem er seinen Rücken begradigt hatte und sich ein Stück weit in meine Richtung vorbeugte.
Ich schlug das Buch zu, ließ es in meinem Schoß liegen und hielt es mit beide Hände fest umklammert. „Du hast dich von mir abgewandt, hast mich gemieden und mich mit demselben abwertenden Blick betrachtet, den deine Eltern bis heute nicht mehr abgelegt haben, wenn sie mich ansehen. Es erschien mir ziemlich offensichtlich."
„Es ist nicht nach deinem Wunsch, dass böses Blut zwischen uns herrscht?"
Was war das für eine Wortwahl? Es klang nicht so, als würden wir uns unterhalten wie zwei Menschen, die sich versöhnen wollten, sondern als wären wir viel mehr als das. Vielleicht hatte James dieses Vokabular von seinem Vater erlernt und wenn es um die schmutzigen Geschäfte ging, die sie abwickelten, mochte es passend sein, aber es gehörte nicht in dieses Gespräch, das so auf eine andere Ebene gebracht wurde, welche mir deutlich bedeutungsvoller erschien als es hätte sein sollen. Mir kam allerdings keine Möglichkeit in den Sinn, nun davon abzuweichen.
„Es war nie in meinem Sinne, dir in irgendeiner Art und Weise vor den Kopf zu stoßen. Was würde es mir auch nützen, dass wir uns jetzt hassen, wo wir doch den Rest unseres Lebens aneinander gebunden sind?" Dies auszusprechen, machte es zur Wahrheit. Ich konnte mich nicht daran erinnern, ihm gegenüber jemals so offen eingestanden zu haben, dass ich mein Schicksal klaglos akzeptierte und es als gegeben hinnahm, ihm untergeben zu sein.
James zeigte ein breites Lächeln. „Wenn du wirklich so denkst, dann muss ich mich dafür entschuldigen, die so lange die kalte Schulter gezeigt zu haben und verspreche, dass es sich in Zukunft wieder ändern wird. Solange du es auch willst."
„Natürlich will ich das auch", erwiderte ich, das Buch immer noch umklammert, sodass meine Knöchel weiß hervortraten, wie ich bei einem kurzen Blick nach unten, um seine mich taxierenden Augen zu umgehen, feststellte.
Wenn er auch nur ein wenig Talent darin besaß, zu erkennen, wie mein Befinden war, würde er es mir nicht glauben, aber James war geblendet von etwas, bei dem ich nicht genau erkennen konnte, was es war und so verbreiterte sich sein Lächeln noch mehr und er sah aus wie ein glückseliges Kind an Weihnachten.
„Danke, Evelyn", sagte er, seine Stimme auf einmal wieder voller Wohlwollen und Wärme. „Auch, wenn es keinen Weg zurück in die Vergangenheit gibt, dann können wir in der Zukunft doch alles besser machen."
„Vermutlich", entgegnete ich. „Aber jetzt würde ich gerne weiterlesen, wenn es dich nicht stört."
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