Montag, 31.03.1879

Es verging eine Woche, bis ich wieder ein konspiratives Wort mit Annabeth wechselte. Die ganze Zeit über hatte sie sich nichts anmerken lassen und ich hatte mich gefragt, ob sie schon vergessen hatte, dass wir auf eigene Faust nachforschen wollen. Glücklicherweise hörte ich aber auch von der anderen Seite der Familie her nichts und erhielt sogar eine kurze Nachricht von Isabella, die ich gezwungen war zu ignorieren, aber immerhin erlangte ich so Gewissheit, dass bei ihr alles in Ordnung war.

Als sich dann endlich etwas rühren sollte, merkte ich schon beim Frühstück, dass heute etwas geschehen würde. Anna war nicht gut darin, ihre Emotionen ganz zu verbergen und mir fielen ihre auffällig häufig erfolgenden Blicke zu mir auf, weswegen ich mich schon früh darauf gefasst machte, nachher wieder im Geheimen mit ihr zu reden.

Es dauerte allerdings noch bis kurz vor dem Mittagessen, bis sie endlich zu mir kam und wir in ihr Zimmer gingen, um ungestört zu sein.

„Wir werden nachher zu dem netten kleinen Café fahren, das du mit Isabella besucht hast, verstanden?"

Etwas verwirrt nickte ich. „Werden wir das wirklich tun?"

„Zuerst ja. Es ist nicht ausgeschlossen, dass uns hinterherspioniert wird, aber wenn wir erst eine Weile dort waren, nehmen wir uns einfach eine Droschke. Es wird niemandem auffallen und ich bin schon öfter so vorgegangen."

„Wenn du dir ganz sicher bist, vertraue ich dir da."

„Gut. Das musst du wohl auch. Ich kann dir nur noch nicht sagen, wo genau wir hingehen werden. Du wirst es noch früh genug bemerken. Und du musst mir wirklich versprechen, dass du es einfach so hinnimmst, dich nicht genierst und vor allem keine Panik bekommst."

Diese Ansage trug nicht unbedingt dazu bei, dass ich mich sicherer fühlte. An welchen Ort würde sie mich bringen, der mich so sehr schockieren konnte, wie sie es befürchtete? Ich wollte mir aber von diesen Zweifeln nichts anmerken lassen.

„In Ordnung", sagte ich deswegen. „Ich habe ja wohl keine andere Wahl."

„Die hast du schon", antwortete Anna. „Aber ich weiß, dass du jetzt keinen Rückzieher machen willst. Das tue ich auch nicht. Ich freue mich fast schon darüber, was uns erwartet. Merkwürdig, wie aufregend es ist, die Regeln zu brechen und sich gegen alles zu widersetzen, was einem vorgeschrieben wird. Ich habe das viel zu lang nicht mehr gemacht."

***

Es war einer dieser Tage in London, an denen sich Nebelschwaden durch die Straße zogen, die von der Themse heraufstiegen und die gesamte Stadt in gespenstische Stimmung versetzten, je nachdem, in welchem Viertel man sich gerade aufhielt.

Ich saß neben Annabeth in einer Droschke, die wir uns etwas abseits vom Café genommen hatten. Die Adresse, die der Kutscher gesagt bekommen hatte, sagte mir nichts, aber ich merkte, dass wir uns in Richtung East End bewegten.

Deswegen war ich froh, dass ich schlicht angezogen war. Immer noch zu gut für die Gegend, die wir aufsuchen wollten, denn allein, dass meine Kleidung frisch gewaschen und ohne Flicken war, verriet, dass ich deutlich mehr Geld besaß als die Anwohner.

Annabeth hingegen schien völlig unbeeindruckt zu sein. Sie war zwar auch deutlich einfach gekleidet als sonst, aber sie könnte auch Lumpen am Leib tragen und würde durch ihre Haltung und natürlich ihre Sprache immer noch auffallen wie ein bunter Hund. Dennoch war sie gelassen, schien es zu genießen, die wohlvertrauten Bezirke zu verlassen und auf diese kleine Abenteuerreise zu gehen. Dass das Verbrechen hier an jeder Ecke lauerte, ließ sie kalt.

Ich hingegen konnte meine Vorurteile gegen den Osten Londons nicht ablegen und sah mich, je tiefer wir ins diese fremde Welt, die mir fast so fern war wie Indien, eintauchten, immer genauer um. Jedoch nicht, weil ich fasziniert war, sondern weil ich fürchtete, es könne jeden Augenblick etwas Schlimmes geschehen.

Ich konnte nicht sagen, wo genau wir uns befanden, aber die Häuser wirkten grau, drängten sich dicht nebeneinander und die Menschen, die auf den Straßen umhereilten waren noch grauer, noch trauriger und sahen allesamt ungesund und unglücklich aus. Noch dazu kam der Gestank der Stadt, der mir hier noch stärker in die Nase drang als sonst. Wahrscheinlich lag es daran, dass hier noch mehr Dreck war und es einfach niemanden scherte.

Wir mussten irgendwo in Whitechapel oder Aldgate sein, als der Kutscher hielt, Anna ihm seine Bezahlung gab und wir, zwei wohlhabende junge Damen, alleine in den Straßen des East End zurückblieben.

„Lass uns abwarten, bis er verschwunden ist", sagte Annabeth. „Wir können immer noch nicht riskieren, dass uns jemand folgt."

„Aber lass uns schnell gehen. Das hier ist keine Gegend, in der ich mich wohlfühle", erwiderte ich.

„Es ist nicht so schrecklich, wie du vielleicht denken magst. Man erntet ein paar schiefe Blicke, aber wir müssen nicht mehr lange laufen. Und dort, sind wir sicher."

Skeptisch sah ich sie an und ließ meinen Blick dann erneut durch die Gegend streifen. „Wenn du das sagst."

Nach weniger als einer Minute schon, fühlte Annabeth sich anscheinend sicher genug. „Komm. Wir müssen uns beeilen."

Mit schnellen Schritten ging sie voran in die nächste Seitenstraße und ich folgte ihr. Unsere Schuhe klackten auf dem Straßenpflaster in unregelmäßigem Takt. Ich fokussierte mich mit Absicht darauf und nicht auf die Alltagsgeräusche um uns herum, folgte einfach meiner Freundin mit einem Tunnelblick und versuchte das Elend um mich herum auszublenden.

Wir folgten der Seitenstraße noch etwas weiter, kreuzten sie und bogen nach links ab. Eine Veränderung der Optik stellte sich nicht ein. Für mich sah alles gleich aus. Eine schmale Straße, kaum breit genug, dass zwei Gefährte aneinander vorbeikamen und überall der wabernde Neben, der so wirkte als würde er alles verschlingen wollen.

Schließlich drehte Annabeth in eine winzig kleine Gasse ab, die nur Platz für einen kleinen Karren geboten hätte. Unheilvoll ragten die verdreckten Häuser neben uns auf. Die stinkenden Ausdünstungen, die gemeinsam mit dem Nebel über den Gassen hingen, stauchten sich hier zusammen und ich musste unwillkürlich die Nase rümpfen. Durch den Mund zu atmen, traute ich mich allerdings nicht, sodass ich es so ertragen musste.

„Gleich sind wir da", teilte Annabeth mir noch immer gelassen mit.

Ich war gerade dabei, mir einen Kommentar zu dieser Gegend zu überlegen, der meine Gedanken zu diesen unmenschlichen Verhältnissen auf den Punkt brachte, dass ich mich erschrak, als auf einmal zwei hünenhafte Männer aus dem Schatten eines Eingangs traten, der anscheinend auf einen kleinen Innenhof führte.

Und als wäre das nicht genug, steuerte Anna genau auf die beiden zu. Vielleicht war es aber auch unser Glück, dass wir zu ihnen wollten, denn so bestand die Möglichkeit, dass sie uns freundlich gesinnt waren.

„Ich bin Annabeth Hamilton und meine Begleiterin ist Evelyn Whiting", stellte Anna uns mit viel Selbstbewusstsein in der Stimme vor, als sei es das Gewöhnlichste auf der Welt, mit diesen Grobianen zu verkehren.

Beide hatten dunkles Haar, waren einen Kopf größer als ich und unter ihren dreckigen Hemden konnte man Muskeln erkennen. Ihre Haut war überzogen mit Schmutz, an ihre Hände wollte ich gar nicht erst denken und als einer seinen Mund öffnete, um zu uns zu sprechen, sah ich seine verfaulten Zähne. Ich senkte meinen Blick, weil ich diesen Anblick nicht mehr ertragen wollte.

„Weist euch aus!", blaffte einer der beiden uns an.

Fragend sah ich zu Anna, die zu meinem Erstaunen ihre Mund öffnete und ihre spitzen Zähne aufblitzen ließ. Ich hätte es mir eigentlich denken müssen.

Als die beiden sich mit Annabeth zufriedengegeben hatten, wendeten sie mir ihre Aufmerksamkeit zu. Ich wusste allerdings nicht, was ich tun sollte. Schließlich war ich keiner von ihnen.

„Zeig ihnen deinen Arm", wies Anna mich an und zögerlich begann ich, meinen rechten Ärmel nach oben zu krempeln. „Nein, den anderen."

Da verstand ich. Ich war James' Dienerin. Die Bisswunden zeigten, dass ich kein Freiwild war und jemandem gehörte. Ihrem abstrusen Ehrenkodex nach würde man mich in Ruhe lassen und mir nicht den Weg versperren, denn schließlich war ich eine Eingeweihte dieser Parallelgesellschaft.

So nickten die beiden, als ich ihnen die Wunden an meinem linken Handgelenk zeigte und ließen uns in den Innenhof eintreten, der wie alles andere auch kläglich und gequetscht war.

„Anna, was ist das hier?", wisperte ich, als sie auf den einzigen Hauseingang zuging, den es hier gab.

„Ein Ort für unsereins, um sich zu treffen", antwortete sie mir. „Ein Ort, an dem der Rat keinen Zutritt hat und sie über die Stränge schlagen können, solange nichts nach außen dringt. Und sie verstoßen nicht nur gegen unsere Gesetze. Es ist nicht leicht an Geld zu kommen in dieser Stadt und erst Recht nicht, wenn man einer von uns ist und nicht regelmäßig Zugang zu gutem Blut hat."

Ich fragte mich, was es denn war, was hier praktiziert wurde, aber wenn ich genau hinhörte, drang aus dem Hausinnern schon Gegröle an mein Ohr. Was auch immer es war, es zog eine ausgelassene und ungehemmte Stimmung mit sich.

Als wir hineingingen, wurde es noch lauter. Wir befanden uns in einem kleinen Flur, sodass ich noch nicht erkennen konnte, was genau vor sich ging, aber es mussten sich viele Leute in dem eigentlich kleinen Haus aufhalten.

Die gesamte unterste Etage bestand aus einem einzigen Raum, der wie ich es vermutete hatte, angefüllt mit Menschen war. Hauptsächlich waren es Männer. In der Mitte war jedoch eine freie Fläche, wo sich zwei der Männer bekämpften. Ein Faustkampf.

Unerbitterlich schlugen sie aufeinander ein, versetzten sich gegenseitig Hiebe, die bei mir wahrscheinlich schwere Verletzungen hervorgerufen hätten und schienen dabei sogar noch Spaß zu haben.

„Sie kämpfen gegeneinander wie zwei ausgehungerte Hunde, aber sie werden uns nichts tun. Die Kämpfe, die sie hier am Nachmittag abhalten, sind reiner Zeitvertreib. Erst abends wird es hier richtig gefährlich."

Ich hoffte, dass Annabeth Recht hatte. Sie sah sich um, als würde sie jemanden und suchen und diesen jemand erblickte sie auch sehr schnell.

Ein Mann kam auf uns zu, vielleicht dreißig Jahre alt und im Vergleich zu seinen Kumpanen wirkte er sehr gepflegt. Einzig sein braunes Haar war etwas zu lang und wirkte so ungepflegt.

„Annabeth", begrüßte er die Tochter von Adel wie eine alte Freundin.

„Iwan", antwortete sie. Ein Russe also. „Danke, dass du uns hier empfängst."

„Ich muss euch danken, dass ihr hierhergekommen seid", sagte er mit nur einem Hauch von einem Akzent. „Das hier ist kein gescheiter Ort für zwei reizende junge Damen."

„Wir sind zwei reizende junge Damen, die abseits des Rates handeln wollen und das hier ist der einzige Ort in London, wo uns das gelingen wird. Außerdem haben wir uns viel zu lang nicht mehr gesehen."

„Das ist wahr", stimmte Iwan ihr zu. „Aber hier hat sich nichts verändert. Die Bluttrinker kommen hierher, um ihren Spaß zu haben und die, die bereit sind, ihnen das Blut zu geben, kommen ebenfalls. In so manchem Bordell geht es nicht anders zu."

„Ein schmeichelhafter Vergleich", sagte Annabeth sarkastisch.

Ich blieb weiterhin stumm wie ein Schatten hinter meiner Freundin stehen. Solang ich nicht angesprochen wurde, würde ich es dabei belassen.

„Es trifft zu und ich schäme mich nicht dafür, mein Haus dafür herzugeben. Ich sichere so das Leben meiner Familie ab und bange nicht um die Zukunft wie die meisten hier es tun müssen."

Annabeth nickte nachdenklich. „Da hast du wohl Recht. Aber uns bleibt nicht viel Zeit und ich will direkt auf den Punkt kommen. Dir werden die Gerüchte über uns wohl auch zu Ohren gekommen sein. Gestreut wurden sie von einem gewissen Arthur Carter-Heffley und ich möchte wissen, wie er darauf gekommen ist. So ein Fauxpas geschieht nicht einfach so. Weißt du etwas darüber?"

Iwan schüttelte den Kopf. „Mit uns hat das nichts zu tun. Wir sind um eine friedliche Koexistenz bemüht und ein Gast war ein Mann dieses Namens hier nie und wenn er es doch unter einem Pseudonym versucht hat, wäre er mir dennoch aufgefallen."

„Danke für diese Antwort", sagte Anna. „Aber das ist noch nicht alles. Kann ich dich darum bitten, die, denen du vertraust, hinauszuschicken und sie prüfen zu lassen, wie dien Informationen nach außen dringen konnten? Und was mindestens genauso wichtig ist... Wir wollen erfahren, was sie mit dem armen Kerl anstellen, der nicht schweigen konnte."

„Ich kann dir nichts versprechen, Annabeth. Es ist dein Vater, den wir da hintergehen müssen."

„Er vertraut dir und schuldet dir immer noch etwas. Das hat er mir selber vor nicht allzu langer Zeit erneut gesagt."

„Dann gebe ich mein bestes."

Anna lächelte ihn dankbar an. „Vielen Dank, Iwan. Ich wüsste nicht, was wir ohne dich machen würden."

„Keine Ursache." Er hielt kurz inne und musterte mich mit einem klaren, abschätzenden, aber nicht abwertenden Blick. „Und du gibst Annabeth' Bruder dein Blut?"

„Ja." Meine Stimme klang viel zu hoch und dünn.

„Nicht so schüchtern. Schüchterne und Schwache gehen hier ein. Es ist lobenswert von dir, dass du hierherkommst. Du willst Gerechtigkeit für diesen Mann, oder?"

„Ich weiß es nicht", gestand ich. „Aber ich will auf keinen Fall umgangen werden."

„Das ist gut."

Wir verabschiedeten uns. Es war ein kurzes Gespräch gewesen inmitten von dreckigen, schwitzenden Körpern in einem Haus im East End. Aber es hatte uns etwas genützt. Wir würden Antworten bekommen.

Trotzdem war ich froh, als wir endlich wieder an die frische Luft traten, an den beiden Hünen vorbeistolzierten, die den Eingang bewachten und uns eine Droschke suchten, um wieder in unsere Welt zurückzukehren, wo weniger im Argen zu sein schien als gedacht.


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