Montag, 28.04.1879

Das Haus wirkte größer als in meiner Erinnerung. So viele Zimmer und die meisten von ihnen ungenutzt. Ein wahrer Koloss, umgeben von Land, das in der Zeit unserer Abwesenheit ergrünt war und so wenigstens den Anschein erweckte, dass der Frühling letztlich doch noch Großbritannien erreicht hatte.

Ich fröstelte, als ich die Stufen zur große Eingangstür hinaufschritt, welche offenstand, sodass man ins Foyer blicken konnte, welches noch genauso düster war, wie ich es in Erinnerung hatte. Das Haus war wie ein riesiges Tier, das seinen Schlund geöffnet hatte, um mich nun wieder zu verschlingen, weil ich meine Chance nicht genutzt hatte, ihm zu entfliehen.

Wenn ich bedachte, wie sehr ich mich zunächst davor gefürchtet hatte, dem Gesellschaftskreis zu begegnen, mit dem die Hamiltons in London verkehrten, kam es mir furchtbar lächerlich vor. Ich hatte die Chance gehabt, am Leben teilzunehmen und hatte diese nicht genutzt. Stattdessen hatte ich mich mit Annabeth verbrüdert, um Geschäfte mit einem zwielichtigen Mann zu machen, der seine Immobilien Bluttrinkern für allerlei illegale Zwecke zur Verfügung stellte, ohne dass es irgendeinen Nutzen für uns gehabt hätte, außer vielleicht, uns zu widersetzen, zu rebellieren. Es war absehbar gewesen, dass es in einem Blutbad enden musste.

Und nun war es Ende April und die Saison war für uns frühzeitig beendet worden. Nach nur zwei Monaten sollte ich wieder auf dem Anwesen der Hamiltons wohnen, wo die Einsamkeit noch stärker auf einen wirkte und mein einziger Lichtblick Florence war, die hoffentlich immer noch für mich sein sollte als eine bloße Hausangestellte.

Unser Willkommenskomitee konnte man eigentlich nicht als solches bezeichnen. Ich hätte erwartet, dass wenigsten die winzige Stammdienerschaft bereitstehen würde, um uns zu empfangen, aber es war lediglich Cornelia, die jenseits des Türrahmens stand und einige Worte der Begrüßung aufsagte, als wir die Schwelle passierten.

Immerhin war es im Inneren gut geheizt und das Frösteln schwand langsam, auch als ich den Mantel ablegte und den Hut vom Kopf setzte, die allerdings niemand entgegennahm, da Cornelia es vorzog, zuerst die Sachen der Lady wegzuräumen, während Theodore, die Haustier hinter uns schloss und so gleichzeitig dafür sorgte, dass es deutlich düsterer wurde.

Ich fragte mich, ob die Vorhänge nur zugezogen waren, weil die Hamiltons – zumindest teilweise – wieder zurückgekehrt waren oder ob das Aussperren des Sonnenlichts sich so sehr in den Köpfen der Angestellten eingenistet hatte, dass sie auch die Zeit der Abwesenheit nicht nutzten, um das Haus mit mehr zu erhellen als nur von Menschenhand erzeugten Lichtquellen. Beim Anblick von Cornelia, die äußerlich einem Geist glich mit ihrer scheinbar pergamentdünnen Haut, kam es mir wahrscheinlicher vor, dass die finstere Atmosphäre ein stetiger Zustand war.

„Es kommt mir wie gestern vor, als wir gefahren sind", hörte ich James hinter mir sagen, dem es gar nicht gefiel die Stadt und somit auch seine Möglichkeit von seinem Vater zu lernen und ins Familiengeschäft eingeführt zu werden zu verlassen.

„Es kommt mir leerer vor", erwiderte ich.

Er antwortete in herablassendem Tonfall. „Ich glaube, es war Anna, die den ganzen Raum mit ihrer lauten Persönlichkeit ausgefüllt hat. Ihre Abwesenheit und die angenehme Stille werden die Gründe dafür sein, dass es dir so vorkommt."

Mir missfiel es, wie er über seine Schwester redete, zumal ich seiner radikalen Charakterisierung von ihr nicht zustimmen konnte. Aber wahrscheinlich war es normal, dass Geschwister ein verblendetes oder verzerrtes Bild des anderen hatten. Sie nahm ihren Bruder ebenfalls anders wahr, als andere Leute, wie zum Beispiel ich, es taten.

Wo Annabeth mir aber meine eigene Meinung zu ihm ließ, duldete James es nur ungern, wenn ich ihm Bezug auf sie nicht zustimmte, so als wäre sie seine Konkurrenz, wenn es um mich ging. Deswegen sagte ich nichts weiter und gab lieber meinen Mantel an Cornelia, die nun Zeit dafür hatte.

„Sucht eure Zimmer auf, wenn ihr wollt", teilte Lady Elizabeth uns dreien mit. „Über die Essenszeiten wird Cornelia euch informieren."

Mit diesen Worten betrat sie auch schon den Absatz der Treppe und ging diese hinauf, ohne sich weiter darum zu scheren, was wir taten. Es war gerecht von ihr, die Wut, die sie wegen Annabeth verspürte nicht an uns, und vor allem nicht an mir, herauszulassen, aber dadurch, dass sie sich sofort Zeit für sich alleine nahm und ihre Pflichten als Hausherrin ruhen ließ, fühlte ich mich seltsam alleine gelassen.

Nun gut, wenn mir niemand vorschrieb, was ich zu tun hatte, tat ich das einzige, was mir blieb. Ohne James und Theodore zu beachten, ging ich auf mein Zimmer, welches ich wohl immer noch als solches bezeichnen konnte, auch wenn ich es nur wenig länger bewohnt hatte als jenes, welches mir in London zugeteilt worden war.

Auch die oberen Etagen wirkten wie ausgestorben. Die Dienstmädchen, die für die Hamiltons arbeiteten, ohne auf dem Anwesen zu wohnen, mussten am heutigen Vormittag als hergerichtet haben, wie sie es sonst auch taten. Sie waren die wahren Geister dieses Hauses, musste ich feststellen, denn sie waren so unauffällig, dass man sie nur selten bemerkte. Ich kannte keinen einzigen ihrer Namen.

Das erste, was ich registrierte, als ich in mein Zimmer kam, war das Feuer, das im Kamin prasselte, um gegen die immer noch viel zu kalten Außentemperaturen vorzugehen, die zwar mittlerweile relativ konstant die zehn Grad Celsius hielten, nachts aber immer noch sanken.

Jetzt, am späten Nachmittag, war der Raum schön aufgewärmt worden. Alles sah noch exakt so aus, wie ich es zurückgelassen hatte. Die dunklen Tapeten, das Bett, seine gesamte Größe, denn er bot so viel mehr Platz als ich jemals benötigen würde.

Zu Anfang der kurzen Zeit in London war es mir dort beengter erschienen. Jetzt erkannte ich, dass diese Wahrnehmung einzig und allein an der Weitläufigkeit dieses Anwesens gelegen hatte, das im Vergleich mit denen noch mächtigerer und wohlhabenderer Familien winzig aussehen musste.

Welch bedeutungslosen Gedankengänge einem doch in den Kopf kamen, wenn man nichts zu tun hatte. Wäre meine Stimmung nicht schon die ganzen letzten Tage von äußerster Niedergeschlagenheit geprägt gewesen, hätte ich wahrscheinlich gelacht.

Da ich keine Lust hatte, mir jemanden zur Hand zu rufen, begann ich mich selbst aus meinem Reisedress zu schälen, die Knöpfe zu öffnen, aus dem Rock zu steigen und mich meiner Bluse zu entledigen, bis ich im Unterkleid dastand. Am liebsten hätte ich auch noch mein Korsett abgelegt, aber mein Erscheinen beim Abendessen in einem Teekleid würde Lady Elizabeth auch in einer Zeit wie dieser nicht dulden, weswegen ich mich zusammenriss und das einengende Gestell anbehielt.

Ich blieb nur halb bekleidet, setzte mich auf meinen Stuhl und betrachtete mich im Spiegel des Frisiertisches, ohne meinen Blick dabei zu fokussieren. Es war Starren in die Leere. Irgendwann musterte ich die Schmuckkästchen, die dort standen und leer waren, da ich die meisten meiner Besitztümer mit nach London genommen hatte und natürlich noch keine Zeit gewesen war, die Koffer zu leeren, mit denen wir gereist waren. Gab es überhaupt noch etwas in diesem Zimmer, das mir gehörte, außer vielleicht das ein oder andere Kleid, das gut verborgen im Schrank hing?

Ein Klopfen riss mich aus meinen Gedanken. Beinahe hätte ich aus reiner Gewohnheit „Herein" gerufen, erinnerte mich aber gerade rechtzeitig daran, dass ich nur Unterbekleidung trug.

„Ich bin nicht angezogen!"

„Ich bin es. Florence", rief die Stimme von draußen. „Dürfte ich trotzdem hineinkommen, Miss?"

Mein Herz schlug augenblicklich schneller und ich sprang auf und drehte mich so schnell, dass ich beinahe den Stuhl umgeworfen hätte. „Natürlich, natürlich."

Die Tür öffnete sich für meinen Geschmack viel zu langsam, aber als ich Florence in meinem Zimmer auftauchen sah, wäre ich am liebsten auf sie zu gerannt und hätte sie in meine Arme geschlossen. Den Bruchteil einer Sekunde wägte ich sogar ab, es wirklich zu tun und alle Konventionen für einen einzigen Augenblick hinter mir zu lassen, aber das wäre wohl reiner Wahnsinn gewesen.

„Ich würde gerne sagen können, dass es mich freut, Sie wieder hier zu sehen, Miss, aber die Umstände unter denen Sie so plötzlich die Rückreise angetreten sind, sind alles andere als erfreulich und ich bin der Ansicht, dass wir es uns nicht schönreden sollten. Und verzeihen Sie mir meine außerordentliche Direktheit, wenn ich Sie schon mit einem Schwall an Worten belästige."

Ich winkte ab. Niemals würde ich Florence vorwerfen zu aufdringlich zu sein und sich nicht so zu verhalten, wie es sich für ein Dienstmädchen geziemte. „Nun, ich kann sagen, dass ich mich freue, dich zu sehen, denn so werde ich wenigstens ein bisschen aufgeheitert."

Erst jetzt fiel mir wieder ein, dass ich ja gar nichts Anständiges am Leib trug und obwohl mir dieser Anblick vor ihr nicht peinlich sein musste, passte er doch nicht in die Situation. Aber Florence wäre nicht Florence, wenn sie auch nur ansatzweise zeigen würde, dass mein momentanes Auftreten sie in irgendeiner Weise etwas anginge und so konnten wir unsere Unterhaltung fortsetzen, als sei nichts gewesen.

„Es freut mich, das zu hören, Miss, auch wenn ich das nie von Ihnen verlangen würde."

„Ich meine es wirklich ernst, dass ich so eine willkommene Abwechslung vom ganzen Kummer habe, der Samstagabend begonnen hat", erwiderte ich und spürte die Erinnerungen langsam hochkommen. Ich musste unbedingt jemandem mein Herz ausschütten und wie bisher auch, würde Florence diese Person sein.

„Dann hoffe ich, diesen Erwartungen gerecht werden zu können, während ich Sie für das Einnehmen des Abendessens herrichte. Lady Elizabeth hat es nicht explizit erwähnt, aber es dürfte in ihrem Interesse liege, dass ich Sie herrichte wie üblich. Vermutlich ist es jetzt das Beste, sich wieder auf die Routinen zu berufen und zu verhindern, dass das Geschehene zu lange in den Köpfen haften bleibt."

Das weckte meine Neugierde. „Das klingt fast so, als würdest du dich auch auf die Gerüchte beziehen, die fast eine Spur zu lange in London umgegangen sind."

„Ja, ich denke auch darauf trifft es zu, Miss." Florence unterstrich ihre Zustimmung durch ein Nicken. „Ich höre eigentlich von allem, was sich ereignet, wenn die Hamiltons nicht hier sind und auch diese Episode ist mir nicht entgangen. Aber wie ich schon sagte, die Routine wiederherzustellen, ist vielleicht die beste Wahl, die wir treffen können, weswegen wir jetzt anfangen sollten, Sie anzukleiden und ihrer Frisur etwas mehr Haltekraft zu verschaffen, sonst fallen sie Ihnen während des Essens noch ins Gesicht."

Es war gut, dass sie mich auf so angenehme Weise dazu leitete, etwas Sinnvolles zu tun oder zumindest etwas Sinnvolles mit mir anstellen zu lassen, bevor ich mich noch in unserem Gespräch verlor und am Ende schlimmstenfalls in Tränen ausbrach, denn diesen war ich zu dieser Zeit erstaunlich nah, auch wenn ich nicht das Gefühl empfand, dass eine akute Gefahr bestünde, wirklich zu weinen.

„Ihre Ankunft hier kam leider so plötzlich, dass ich nicht einmal mehr Zeit hatte, Ihnen ein Kleid hinauszulegen", sagte Florence, während sie sich schon auf zu meinem Schrank machte, um diesen nach etwas Angemessenem zu durchforsten.

„Die meisten meiner Kleider sind noch gar nicht hier", gab ich als Antwort und hoffte, dass sie sich bewusst war, dass sie sich nicht dafür zu entschuldigen musste, da ich gar nicht der Ansicht war, dass es sich um ihre Pflicht handelte. Sie verbrachte ohnehin viel mehr Zeit bei mir, als ich jemals einfordern würde.

„Ich werde dennoch fündig werden", meinte Florence darauf hin und zauberte nach wenigen Sekunden einen schlichten grauen Rock hervor. „Ich denke, der hier sollte genügen. Es ist ja nicht mal die gesamte Familie versammelt."

Hörte ich da etwa einen Hauch von Missachtung heraus? Es war so untypisch und vor allem ungehobelt von Florence, dass es so herausstach. Aber wenn ich ehrlich war, konnte ich ihr nur zustimmen.

Die nächsten Minuten waren von fast vollständigem Schweigen geprägt, denn ich wusste nicht, wie ich auf Florence' neuerliche Einstellung eingehen sollte und sie schien anscheinend auch keinen weiteren Gesprächsbedarf zu haben. Allerdings konnte war sie nicht nur offensichtlich nicht einverstanden mit dem, was geschehen war, sondern auch nicht gänzlich darüber im Bilde, weshalb sie begann, mir Fragen zu stellen, während sie mein Haar bürstete: „Miss, ich möchte Sie nur ungerne bedrängen, doch obwohl ich über alle Vorgänge unterrichtet worden bin, die sich bis zum vergangenen Wochenende ereignet haben, wurde ich über genau diese jedoch im Unklaren gelassen, da es offensichtlich nicht genug Zeit gab, uns alles zu übermitteln. Wären Sie so freundlich, mir zu erzählen, was vorgefallen ist?"

Ehrlich gesagt, hätte ich mir meine Gedanken sowieso früher oder später von der Seele reden wollen und das hätte das Erzählen der gesamten Geschichte eingefordert, weswegen ich dankbar dafür war, dass Florence diese Forderung stellte. Womöglich hatte sie es auch getan, weil sie wusste, dass sie mich so dazu ermuntern konnte, zu reden. Was auch immer davon der Fall war, ich überlegte nicht lange und redete drauf los.

„Sicherlich hast du gehört, dass Charlotte Douglas, Lady Elizabeth' Freundin, mit ihrem Sohn zu Besuch in London war. Solltest du schon ihre Bekanntschaft gemacht haben, wirst du wissen, was für eine freundliche Person sie ist. Sie ist die Art Mensch, die man einfach nicht zu hassen vermag, aber das sei nur am Rande erwähnt, denn das ist einer Gründe, weswegen ich mich frage, wieso Annabeth das nur tun konnte..."

Ich hielt einen Moment inne, bevor ich fortfuhr. Ich sollte mich nicht mit Nichtigkeiten aufhalten. „Ich weiß nicht genau, was letzten Endes geschehen ist, denn ich war nicht selbst dabei, aber auf einmal haben wir das Dienstmädchen Matilda schreien gehört. Lady Elizabeth hat nach dem Rechten gesehen und hat erst einmal versucht, zu vertuschen, dass etwas ganz und gar nicht stimmte, was der Grund dafür war, dass ich erst spät und von Annabeth selbst erfahren habe, was sie getan hat. Ich konnte es selbst kaum glauben, aber sie hat es tatsächlich geschafft, den Jungen Ian so zu bezirzen, dass er sie hat von sich trinken lassen, ohne dass es ihn erschreckt hat. Er muss wohl einverstanden damit gewesen sein, denn er hat seiner Mutter später und ich bete auch jetzt noch nichts davon erzählt."

Florence legte die Bürste aus der Hand auf den Frisiertisch vor mir, fing aber nicht an, meine Haare wieder in Form zu bringen. Stattdessen fragte sie in aller Seelenruhe: „Wieso denken Sie, hat Annabeth das getan, Miss? Gab es denn einen guten Grund?"

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, den gab es nicht. Natürlich gab es den nicht, denn weder hat dieser Junge ihr etwas getan, noch war sie auf sein Blut angewiesen. Sie hat es lediglich getan, weil sie es wollte, auch wenn ich keine einzige Idee habe, was sie dazu bewogen haben könnte."

Langsam kochte Verzweiflung in mir hoch, wenn ich daran zurückdachte, was Anna mir erzählt hatte, beinahe emotionslos, wenn da nicht eine gewisse unterschwellige Zufriedenheit zu spüren gewesen wäre. Es war nicht dasselbe gewesen wie mit dem Mann, den sie im Bücherzimmer getötet hatte. Etwas völlig anderes war in ihr vorgegangen und ich war nicht in der Lage, zu verstehen was. Zudem wollte sie es mir auch nicht offenbaren, hatte sich damit abgefunden gehabt, dass ihr Vater oder sogar der Rat über sie richten würden.

„Ich kann einfach nicht fassen, dass sie so etwas unglaublich Dummes tun konnte. Sie wusste doch, dass es Konsequenzen nach sich ziehen würde. Selbst wenn Matilda sie nicht erwischt hätte, wäre es irgendwie doch ans Licht gekommen. Außerdem wollte Anna sich gar nicht davor drücken, zur Verantwortung gezogen zu werden. Wer tut so etwas?"

Die Tränen kamen nun näher. Bald würde der Damm brechen, meine Unterlippe zitterte schon.

„Es sind verzweifelte Menschen, die solche Taten vollbringen, Miss", sagte Florence, immer noch voller Ruhe. Ich konnte nichts mehr von ihrem kleinen Anfall von Wut spüren.

„Aber wieso ist sie denn so verzweifelt, dass sie sinn- und ziellos alles über Bord wirft?", fragte ich mit zittriger Stimme.

„Wahrscheinlich hat sie einen Nutzen darin gesehen, den wir nicht wahrnehmen..."

„Aber sie hätten sie dafür töten können!", platzte es aus mir heraus und ich begann zu weinen.

„Ich denke nicht, dass Lord Jonathan das zugelassen hätte, Miss", erklärte Florence mir voller Zuversicht. Wie gern ich jetzt hätte, dass sie mich in den Arm nahm...

„Er vielleicht nicht aber der Rat, der aus Leuten besteht, deren Namen ich nicht kennen und die für mich nichts weiter sind als die Bezeichnung ihres Kollektivs. Und sie sollen über das Leben so vieler entscheiden?"

Florence strich mir sanft über die Schulter, um mich zu beruhigen. „Anna ist jung und hat noch kein Kind zur Welt gebracht. Sie ist ihnen zu wertvoll, als dass sie sie töten würden. Allerdings vermute ich, dass die Verlobung nun hinfällig ist, denn sie werden dem Baron den Vorfall melden müssen."

Ich horchte auf. „Also denkst du, sie hat es getan, um nicht verheiratet zu werden?"

Es kam mir so unwahrscheinlich vor, dass Annabeth, die so sehr danach strebte in die Fußstapfen ihrer Mutter zu treten, sich deren Entscheidungen auf so radikale Weise widersetzen sollte. Es war nicht die Annabeth, die ich kannte. Nicht einmal die, die Charles Ruston getötet hatte!

„Es kann gut möglich sein", erwiderte Florence vage, während sie begann, die vorderen Strähnen meiner Haare nach hinten zu strecken und ich die Tränen aus meinem Gesicht wischte. „Allerdings kann nur sie uns diese Frage beantworten."

„Aber sie wird die nächsten Monate in London bleiben müssen, unter Beobachtung der Gesellschaft und ihres Vaters. Ich brauche ihre Antwort jetzt."

„Grämen Sie sich nicht, Miss. Es ist Annabeth' Entscheidung gewesen und Sie haben in keiner Weise etwas damit zu tun. Laden Sie nicht die Last der Bürden anderer auf Ihre Schultern, wenn Sie es gar nicht müssen. Jeder Mensch hat genug mit seiner eigenen zu tragen."

„Aber ich denke, ich bin schuld, dass sie es getan hat", flüsterte ich, weil ich nicht wollte, dass diese Worte zu irgendjemandem drangen. „Sie hat mich gefragt, ob sie etwas riskieren soll und ich habe ihr geantwortet, sie solle es tun."

„Ich glaube nicht, dass sie sie gefragt hätte, wenn sie eine andere Antwort erwartet hätte. Man fragt immer so, dass man das Ergebnis bekommt, das man sich gewünscht hat, ob bewusst oder nicht. Und selbst wenn Sie ihr abgeraten hätten, wäre sie nicht davon abzubringen gewesen, dessen bin ich mir sicher. Ich kenne Annabeth nun schon so viele Jahre, habe sie gehütet, als sie noch ein Kind war und sie war immer entschlossen und wagemutig."

Das Dienstmädchen schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln, das ich durch den Spiegel sah. Ich lächelte zurück, auch wenn es schwach aussah und wenig überzeugt. Wenn Florence' guter Rat doch nur für immer hielte...

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top