Montag, 24.03.1879
Es war ein ganz gewöhnlicher Montag und Lady Elizabeth hatte eine ihrer Freundinnen zum Tee besucht, weswegen sie nicht zugegen war, als die frohe Botschaft ins Haus flatterte. Eigentlich flatterte sie auch gar nicht, denn es war Lord Jonathan, der an jenem verregneten Frühlingstag ungewöhnlich früh heimkehrte und dabei eine ausgesprochen gute Laune aufwies, die uns alle - eingeschlossen der Dienerschaft - neugierig machte.
Ich hörte wie Mary und Matilda zu tuscheln begannen und war mir sicher, dass Mr. Nesbitt sich ihnen angeschlossen hätte, wäre er nicht stumm und ein Mann noch dazu. Mrs. Chapman dagegen nutzte gerade ihren freien Nachmittag, den die Lady ihr großzügig gewährt hatte und war in ihrem Zimmer, sodass sie gar zuerst gar nicht mitbekam, dass eine ungewöhnlich heitere Stimmung sich wie ein Lauffeuer im ganzen Haus ausbreitete.
Den Vormittag hatte ich mit Annabeth in der Stadt verbracht und wir hatten dort allerlei Schnickschnack gekauft, unter anderem Schmuck, den wir jetzt unseren Kleidern und anderen Stücken zuordneten, um später einfacher kombinieren zu können. Es war Annas Wunsch gewesen, die immer noch versuchte, unsere Freundschaft über solche Ausflüge zu stützen, obwohl das gar nicht nötig wäre. Ich schlug ihr diese Ideen trotzdem nicht ab, denn sie waren immerhin eine Beschäftigung und brachten Abwechslung in unseren Alltag, der sonst von den immer gleichen Strukturen geprägt war. Seit Isabella dieses Thema angesprochen hatte, fiel es mir immer wieder auf.
Der heutige Tag versprach jetzt aber noch ungewöhnlicher zu werden, denn der Hausherr ordnete an, dass wir uns alle zum Tee versammeln sollten. Das hieß, dass es wirklich gute Nachrichten gab und ich stellte fest, dass alle sich zu freuen begannen, ohne überhaupt zu wissen, warum. Mich eingeschlossen.
Mrs. Chapman wurde doch noch herbeordert und innerhalb kürzester Zeit war eine Teetafel hergerichtet, die auch einem hohen Besuch hätte präsentiert werden können. Wir fanden uns für den Tee alle im Speisezimmer ein, wo jedem erst einmal eine Tasse eingeschenkt wurde. Der Geruch kam mir bekannt vor und ich stellte fest, dass es sich um eine der Sorten handelte, die meine Eltern mir geschickt hatten.
„Für einen besonderen Anlass, einen besonderen Tee", flüsterte die Haushälterin mir mit einem Augenzwinkern zu, als sie mich bediente, was eine Aufgabe war, die sie sonst niemals übernehmen würde.
Ich schenkte ihr als Antwort ein mehr als dankbares Lächeln und als sie es erwiderte, öffnete sich mein Herz noch ein Stück weiter. Was sollte heute noch schiefgehen?
Es dauerte einige Minuten, bis Lord Jonathan zum offiziellen Grund für die Einberufung dieser Teegesellschaft kam. Zuvor unterhielt er sich noch mit Annabeth, die ihm haarklein berichten durfte, was sie heute getan hatte. Es war ein Thema, das einen Mann schrecklich anöden musste, aber er liebte seine Tochter über alles und das Interesse an ihren Erzählungen schien nicht geheuchelt zu sein.
Letztlich war es dann aber doch soweit und der Lord, der am Kopfende des Tisches thronte wie ein König, räusperte sich und begann zu sprechen. „Ich habe heute sehr erfreuliche Neuigkeiten erfahren, die es nun zu teilen gilt. Endlich ist es uns gelungen, herauszufinden, wer die Gerüchte in die Welt gesetzt hat."
Er legte eine rhetorische Pause ein, die bei einer richtigen Rede den Zuhörern Zeit gegeben hätt, um zu klatschen. Da es sich aber nur um ein familiäres Zusammenkommen handelte, geschah nichts weiter und hätte der Lord nicht so viel nach außen scheinende Würde besessen, wäre es ein peinliches Schweigen gewesen, das geherrscht hätte.
„Es war keine leichte Suche, aber sie war doch von Erfolg gekrönt. Wir konnten Arthur Carter-Heffley dieses Vergehens an und beschuldigen und werden uns in naher Zukunft um ihn kümmern, sodass bald keine Gefahr mehr drohen wird und wir in Frieden weiterleben können."
Seine Worte hatten ein fast einlullendes Pathos an sich, sodass ich zuerst gar nicht bemerkte, dass es der Name Carter-Heffley war, der genannt wurde. Was hatte das zu bedeuten? Wer war dieser Arthur überhaupt, denn der Name war mir noch nicht begegnet und Isabella hatte mir bei unserem Treffen einiges über ihre angeheirateten Familienangehörigen erzählt.
Ich hatte aber keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, denn der Lord hatte noch nicht zu Ende gesprochen und das, was noch folgte, zog meine Aufmerksamkeit sofort wieder auf ihn.
„Und wir haben diesen Erfolg nicht zuletzt Evelyn zu verdanken, durch die wir die Verbindung zu den Carter-Heffleys herstellen konnten und die außerdem so glaubwürdig gehandelt hat, dass wir fast jetzt schon auf der sicheren Seite sind. Ohne deinen bedingungslosen Einsatz für unsere Familie, wären unsere Probleme jetzt deutlich größer, so ungern ich das auch zugebe. Dadurch hast du bewiesen, dass es die richtige Entscheidung war, dich zu uns zu holen."
Sollte ich mich geschmeichelt fühlen? Ich konnte nicht. Das war eine Lobrede auf eine fatale Lüge, die von mir verbreitet wurde und großen Einfluss gehabt hatte. Einen gewissen stolz gelang es mir aber nicht zu unterdrücken und in mir begannen sich zwei Stimmen zu streiten und den Kampf der Moral auszufechten, den ich immer wieder versuchte in Schach zu halten, was mir auch erstaunlich gut gelang. Bis jetzt.
Ich war froh, dass Elizabeth nicht da war, denn ich war mir sicher, sie würde mich immer noch missbilligen. Sie würde mich nie akzeptieren, dessen war ich mir in den Wochen seit dem Ritual bewusst geworden. Sie konnte jetzt nicht mehr verhindern, dass ich James' Dienerin war, aber sie konnte auch ihre Meinung von mir deswegen nicht schlagartig ändern.
Lord Jonathan war dessen aber offensichtlich fähig und ich glaubte an die Wahrheit seiner Worte. Es gab für ihn keinen Grund mich zu loben, wenn es seiner Ansicht nach nicht auch begründet wäre.
Ich spürte die Blicke aller Anwesenden auf mir und vor allem der von James riss mich entzwei und entfachte den Kampf in meinem Inneren wirklich. Er sah so glücklich aus, wie ich ihn noch nie gesehen hatte. So liebevoll hatte er mich noch nie angesehen. Wieso tat er es dann ausgerechnet jetzt? War es für ihn nur die Taten die zählten? War ich für ihn nichts weiter als ein schmucker Blutlieferant, den er glaubte zu lieben? Ich konnte nur beten, dass es nicht so war.
Ich stürzte mich nahezu zerstörerisch auf Tee und Gebäck, um wieder mit der guten Laune angesteckt zu werden, was mir letztlich auch gelang. Ich hatte in den letzten Monaten ein Talent dafür entwickelt jede freudige Gelegenheit zu verinnerlichen. Dass ich das tat, hatte ich erst letztens festgestellt, denn seit dem Ritual war ich mir vieler Dinge bewusster als zuvor.
Ich ließ mich sogar in eine Unterhaltung mit Lord Jonathan verstricken, die weder ganz persönlich, noch ganz geschäftlich war und ich konnte mich im Nachhinein nicht mehr daran erinnern, wie es dazu kam, aber ich fragte dann doch genauer nach, was es denn mit Arthur Carter-Heffley auf sich hatte.
„Er ist der Cousin von Richard", merkte Annabeth an, die unserer Konversation stumm gefolgt war.
„Das ist richtig", meinte ihr Vater. „Aber ich möchte die Details nicht weiter vertiefen. Es ist ohnehin nichts, womit sich Weibsbilder beschäftigen müssen."
Ich hatte es nie angezweifelt, dass es Dinge auf der Welt gab, die Frauen besser lagen und welche, die den Männern vorbehalten. Allein der unterschiedlichen Physis wegen war es eine feste Gegebenheit, die es nicht anzuzweifeln galt. Dennoch erzürnten mich seine Worte an dieser Stelle, denn eben hatte er mich noch gelobt, weil ich so gut gehandelt hatte. Er hatte zugegeben, mich auf einer bestimmten Ebene für fähig zu halten und das hatte er jetzt mit einem einzigen Satz wieder zunichte gemacht.
Ich wollte den Lord aber nicht wieder gegen mich aufbringen und schwieg stattdessen. Vielleicht sollte ich es zukünftig immer so halten. Auch Annabeth schien empört zu sein und zeigte es ihrem Vater deutlich, aber nicht auf verbale Art. Sie wusste, dass sie eine Diskussion gegen ihn verlieren würde, selbst dann, wenn sie ihm eigentlich überlegen wäre.
Die Teezeit ging vorbei und wir verließen alle das Esszimmer. Ich bemerkte allerdings noch, dass James von seinem Vater zurückgehalten wurde, der mit ihm sprechen wollte. Ich vermutete, dass es sich immer noch um die Angelegenheit mit den Gerüchten handelte und wusste, dass weitere Einmischung meinerseits zwecklos war, wenn Jonathan dabei war.
Ich würde James später fragen, wenn wir allein waren. Er würde das Lob an mir wahrscheinlich konsequenter umzusetzen wissen als Lord Hamilton es tat.
-
Ich kam erst nach dem Abendessen dazu, mit James zu reden. Wir gingen in mein Zimmer, wo wir in der Regel ungestört waren und auch niemand auf die Idee kam, unsere Privatsphäre anzutasten.
„Was ist jetzt genau mit Arthur Carter-Heffley?", fragte ich unverblümt, nur wenige Augenblicke, nachdem ich die Tür sorgfältig hinter mir geschlossen hatte.
James, der nicht damit gerechnet hatte, dass ich das Thema noch einmal ansprechen würde, sah mich zuerst verdattert an. „Was willst du genau wissen?"
„Alles. Wie es dazu kam, dass er überhaupt so viel erfahren hat und vor allem, wie ihr jetzt weiter mit ihm verfahren wollt."
„Mein Vater sagte doch schon, dass es nichts ist, worüber du dir deinen Kopf zerbrechen musst, Evelyn", sagte James liebevoll und ich bekam den Eindruck, dass er dachte, ich hätte immer noch Angst vor einer Entlarvung.
„Ich will es aber wissen. Ich denke, ich habe verdient, es zu verfahren. Schließlich mag ich Isabella sehr gerne." Ich hoffte, dass der Verweis auf meine Freundschaft zu einer Angehörigen der Familie ihn milde stimmen würde.
„Es tut mir Leid, aber ich soll und will es dir nicht sagen. Das ist nichts, womit sich eine Frau abgeben sollte. Es würde dir mehr schaden als nutzen und ich möchte nicht, dass du noch mehr in Sorge gerätst."
Ich wollte ihm sagen, dass ich deswegen gar nicht mehr besorgt war und lediglich mehr in Erfahrung bringen wollte, um nicht mehr das Gefühl zu haben machtlos zu sein und in jeglicher Hinsicht umgangen zu werden, weil ich nichts weiter als ein Spielzeug für ihn war, aber das brachte ich nicht über die Lippen. Ich wollte ihn nicht verletzen, auch wenn es mich sehr verärgerte, dass auch er - gerade er - nicht bereit war, mir mehr zu erzählen.
„Aber...", setzte ich noch an, aber mir fiel nichts mehr ein, womit ich ihn überreden könnte.
Als er mich fragend ansah, winkte ich ab. „Schon gut."
Danach herrschte kein eisiges Schweigen zwischen uns, aber ganz wohl fühlte ich mich nicht mehr in seiner Gegenwart, sodass ich sehr darauf drängte, dass wir uns wieder in den Salon begaben.
Dort saß Annabeth, las in einem Buch und schien gänzlich darin versunken. Ich beobachtete sie eine Weile, unentschlossen, was ich jetzt tun sollte, als mir plötzlich eine Idee kam.
„Anna, können wir kurz unter vier Augen reden?", fragte ich sie leise und zum Glück hörte sie es sofort, sodass wir unauffällig den Raum verlassen konnten.
„Ich will unbedingt erfahren, was jetzt mit Arthur Carter-Heffley geschehen wird", erzählte ich ihr, als wir uns in einem kleinen Raum, der nichts weiter bot als ein Sofa und einen Sessel, hingesetzt hatten. Ich war noch nicht in diesem Zimmer gewesen, aber jetzt kam mir seine Existenz, die ich vorher nie wahrgenommen hatte, gerade recht.
„Oh ja", pflichtete Annabeth mir bei. „Ich auch."
„Glaubst du es gibt einen Weg, wie wir deinen Vater oder James dazu bringen können, uns wenigstens etwas einzuweihen?"
Sie schüttelte den Kopf. „Ich fürchte nein. Nicht einmal Theo will mit mir darüber reden und er bekommt noch mehr erzählt als wir beide. Das ist eine Sache für Männer und sie wollen nicht zwei junge Frauen dabeihaben, die ihnen alles vermasseln könnten."
Sie verdrehte dabei die Augen vor Unverständnis.
„Ich verstehe", sagte ich. „Also werden wir nie erfahren, was genau jetzt geschehen wird, es sei denn eines Tages steht in der Zeitung, dass seine Leiche gefunden wurde?"
Ich war überrascht vom Pragmatismus, der meinen Worten innewohnte. Das Wort „Leiche" ging mir über die Lippen als hätte ich ein Unverfängliches Wort benutzt.
„Mir fällt da eine Sache ein, die wir tun könnten", sagte Anna nachdenklich. „Aber es müsste geheim bleiben und niemand dürfte auch nur eine Kleinigkeit davon mitbekommen."
„Was kann schon schlimmer sein als das, was wir sowieso schon tun?", dachte ich laut.
„In den Augen des Rates vieles", antwortete Annabeth. „Aber ich gehe das Risiko ein, denn ich sehe es nicht ein, meinem kleinen Bruder gegenüber benachteiligt zu werden."
Ich brachte ein schwaches Lächeln zustande angesichts des geschwisterlichen Zwistes, der immer zwischen Anna und James zu herrschen schien. „Was ist es denn, was wir tun könnten?"
„Nicht wir direkt", meinte Anna. „Aber ich kenne deinpaar Leute, die es können."
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