Montag, 13.01.1879

Wir aßen zu Abend, als sie zurückkamen.

Zunächst kam Cornelia stumm ins Esszimmer und begann, zwei weitere Gedecke auf dem Tisch vorzubereiten. Ich wusste natürlich, was das zu bedeuten hatte, aber es überraschte mich sehr, dass nur kurze Zeit später erneut die Tür aufging und zuerst Lord Jonathan und dann James den Raum betraten. Sie wirkten so, als wären sie ohne Umweg direkt hier hoch gekommen und hätten nur ihre Mäntel vorher abgelegt.

Es wurden keine großen Worte der Begrüßung gesprochen. Niemand fragte, wie ihre kurze Reise verlaufen war und der Inhalt des Tischgesprächs war irgendein Fauxpas, den ein mir unbekanntes Mitglied der oberen Zehntausend während einer bedeutungslosen Soirée begangen hatte. Ich kam nicht umhin zu glauben, dass diese Verschwiegenheit einzig und allein an meiner Anwesenheit lag.

Allerdings konnte ich es ihnen nicht verübeln. Ich selbst zwang mich gerade zum Schweigen, denn nichts täte ich jetzt lieber als mich in aller Ruhe mit James zu unterhalten. Ich traute mich kaum zu ihm hinüberzusehen und starrte die meiste Zeit stur auf meinen Teller, denn ich befürchtete, die anderen würden merken, dass da etwas zwischen uns war.

Ich hatte viel nachgedacht in den letzten Tagen. Es gab wenig anderes für mich zu tun außer nachzudenken und auch beim Einschlafen hatten mich die Gedanken nicht in Ruhe gelassen und waren noch stärker gewesen als tagsüber. Die meiste Zeit waren es nur Erinnerungsfetzen an letzten Freitagmorgen, die sich vermischten mit denen, die ich von unserem ersten Kuss hatte. Manchmal schlichen sich auch noch seine Reißzähne ein und Fragmente von Heiligabend kamen ebenso vor. Ich hatte meine Erinnerung immer weiter verfälscht, ohne es überhaupt zu wollen, aber sie war dadurch zu etwas schönerem geworden. Sie war durchsetzt von meinen Gefühlen für ihn, die so stark in mir brannten, dass es mir vollkommen unmöglich erschien, mich jemals objektiv auch nur an einen einzigen Moment mit James zu erinnern.

Ich hatte Angst davor, dass er alles mit einem einzigen Schlag wieder zerstören würde. Ich hatte mir unzählbare Szenarien ausgemalt, was nun wohl geschehen mochte und einige davon wären früher nicht in meinen kühnsten Träumen vorstellbar gewesen.

Liebesbeziehungen waren für mich immer etwas gewesen, das unendlich weit von mir entfernt war. Ich lebte noch bei meinen Eltern, war ihr Kind und auch wenn ich nicht leugnen konnte, dass mir manche Männer gefielen, so hatte ich zuvor noch nie einen auf diese Art und Weise begehrt. Ich hatte Freundinnen, die schon Männer geküsst hatten und bei einer war ich mir sogar sicher, dass sie noch weiter gegangen war, aber ich hatte das nie gewollt. In meinem Kopf war das Bild einer Familie verankert. Mit einem Mann, den ich unendlich stark liebte und den ich heiratete. Ich hob mich für die Ehe auf, ganz so wie es sich gehörte und ich würde mit ihm bis zum Ende meines Lebens zusammen sein. Es waren schlicht und ergreifend Konventionen, die man nicht so einfach beiseiteschob.

Und jetzt saß ich an diesem Tisch und warf meinen ganzen Lebensentwurf über Bord. Ich war hierhin gekommen, um eine Dame der Gesellschaft zu werden und stattdessen veränderte ich mich eine ganze andere Richtung.

Ich war die Letzte, die ihren Teller geleert hatte, legte Messer und Gabel zur Seite und machte mich innerlich schon bereit für mein Gespräch mit James. Ich würde ihn abfangen, bevor er das Esszimmer verlassen konnte, wir würden reden und niemand würde etwas mitbekommen. Vielleicht wartete er sogar von sich aus. Das war mein Plan.

Tatsächlich waren wir die beiden letzten Personen im Raum, aber er war drauf und dran auch zu gehen.

„Ich würde gerne mit dir reden", sagte ich und er hielt inne.

„Es geht jetzt nicht, Evelyn." Seine Stimme war ungewohnt kühl.

Es gelang mir nicht, meine Enttäuschung im Zaum zu halten, denn meine Mundwinkel bebten.

„Es tut mir leid", fügte James noch hinzu, aber das stellte mich nicht zufrieden. Wollte er mich nicht mehr? War es jetzt ich gewesen, die ihn abgeschreckt hatte?

Ich sagte nichts weiter und schob mich an ihm vorbei hinaus in den Flur und ging in mein Zimmer. Ich wollte alleine sein.

Ich schlief schlecht ein an diesem Abend und nachdem ich endlich in Reich der Träume geglitten war, wurde ich diesem scheinbar sofort wieder entrissen.

Schreie.

Die Schreie waren wieder da und ich hörte klar und deutlich wie sie bis in mein Zimmer drangen. Allerdings klangen diese anders, als die vorigen. Es war eine andere Stimme.

Diesmal konnte ich sie nicht ignorieren.
Ich zündete eine Kerze an und warf einen Blick auf die Uhr. Es war erst kurz vor Mitternacht. Ich hatte nicht eine Stunde geschlafen.

In meinem Morgenmantel verließ ich mein Zimmer und wollte mich auf den Weg zur Treppe machen, als plötzlich eine Gestalt vor mir aus dem Dunkeln trat.

Es war Annabeth.

„Geh wieder schlafen", sagte sie.

„Ich kann nicht schlafen", entgegnete ich. Ich wollte mich von ihr nicht von meinem Weg abbringen lassen.

„Es wird dir nicht gefallen, was du dort vorfinden wirst", meinte Anna. „Ich werde nichts weiter vor dir verheimlichen, aber ich rate dir nur davon ab nach unten zu gehen."
„Dann sag mir, wer dort unten schreit", forderte ich sie heraus.

„Ich kenne ihren Namen nicht."

Ich schluckte. Es musste wirklich schrecklich sein, was sich gerade in diesem Moment in diesem Moment abspielte. Allerdings gelang mir nicht, mir einen Horror auszumalen, der mich dort erwarten könnte, den ich noch nicht gesehen hatte.

„Ich gehe", sagte ich fest entschlossen und Anna versperrte mir nicht den Weg.

„Gib nicht mir die Schuld", sagte sie noch, bevor sie in Theos Zimmer verschwand.

Der Weg nach unten fühlte sich ungewöhnlich kurz an. Ich fand die Tür neben der zur Küche halb geöffnet vor und stellte fest, dass sie in den Keller führte. Vom Fuß der Treppe drang ein Lichtschimmer hinauf und trotzdem war es mir nicht geheuer hinunterzugehen.

Aber ich hatte es mir vorgenommen. Diesen Rückzieher wollte ich nicht machen. Ich war stark und das war die einmalige Gelegenheit es unter Beweis zu stellen.

Ich versuchte so leise zu gehen wie möglich und doch kamen mir meine Schritte viel zu laut und unüberhörbar vor, denn gerade herrschte absolute Stille.

Der Keller war riesig. Natürlich war er das, wenn man die Grundfläche des Hauses bedachte, aber ich hatte es mir trotzdem nicht so weitläufig vorgestellt. Es gab einen großen, breiten Flur von dem verschiedene Türen abgingen. Natürlich war es die Tür am Ende des Ganges, die einen Spalt breit geöffnet war.

Schritt für Schritt ging ich auf sie zu, hielt meinen Kerzenhalten fest umklammert, obwohl der Flur erleuchtet war, was meine Kerze überflüssig machte. War es in Schauergeschichten denn nicht immer dunkel?

Schließlich erreichte ich die Tür und stieß sie ohne zu zögern auf.

Just in dem Moment ertönte der grauenerregendste Schrei, den ich je in meinem Leben gehört hatte und die Frau, die ihn ausstieß, starrte mich mit Augen voller Todesangst an.



Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top