Mittwoch, 25.06.1879
Der Sommer des Jahres 1879 erschien mir bis jetzt so, als wollte er die warmen Tage einfach überspringen und direkt in einen stürmischen Herbst überleiten. Daher kam es mir gar nicht so falsch vor, tagein tagaus im Haus zu verweilen und mich dort wie auch im Winter zu beschäftigen und ich musste zugeben, dass es mir immer leichter fiel, nicht in vollkommene Lethargie zu verfallen.
Dennoch, obwohl ich mich auch blendend ohne die Gesellschaft anderer beschäftigen konnte, verbrachte ich erstaunlich viel Zeit mit Theodore und das hauptsächlich, weil ich seine Worte suchte, das, was er mir alles mitzuteilen hatte und was mehr Zeit in Anspruch nahm, als ich zunächst gedacht hatte.
Wir nutzten dafür die Zeit, die Lady Elizabeth für sich beanspruchte und hielten uns für alle Augen sichtbar im Salon auf, denn wir wollten keinesfalls einen Affront erregen, zumindest lag es nicht in meiner Absicht. Ich hegte die mehr als nur vage Vermutung, dass Theo dem weniger Beachtung schenkte, als ich es tat und dieser Eindruck wurde mir bestätigt, als er mich am Vormittag des dritten Tages von James' Abwesenheit fragte, ob ich nicht Lust auf einen Spaziergang hätte.
„Ich zweifele daran, dass Elizabeth es begrüßen würde, wenn ich das Haus verließe", äußerte ich meine Bedenken, noch ehe ich darüber nachdachte, ob ich überhaupt nach draußen gehen wollte.
„Sie würde es ohne eine Begleitung nicht zulassen, aber das würde selbst deine eigene Mutter nicht, vermute ich", versuchte Theodore weiterhin, mich zu überzeugen.
Meine Erwiderung kam prompt. „Es ist ziemlich hoch gegriffen, dass du dich als eine adäquate Begleitung ansiehst. Ich vermute kaum, dass das gerne gesehen wäre."
„Ich lebe hier schon lange genug, um zu wissen, dass ich Elizabeth als Begleitung für dich vollkommen genüge, weil es sie nicht im Geringsten kümmert, ob du ein tugendhaftes Mädchen bist oder nicht."
Ich glaubte, dass diese Aussage nicht einmal eine kleine Stichelei sein sollte, aber dennoch fühlte ich mich augenblicklich beleidigt, weswegen ich es nicht unterlassen konnte, ihm dies durch einen pikierten Blick zu signalisieren. Da wir aber mittlerweile beide zu wissen schienen, dass wir nie friedlich miteinander umgehen konnten, wenn wir nicht Kompromisse eingingen, beließ ich es dabei und wägte stattdessen im Stillen für mich ab, ob ich nun mit ihm nach draußen gehen wollte oder nicht. Ich hatte das Haus zwar nicht mehr verlassen, seit wir vor einigen Wochen aus London zurückgekehrt waren, doch ich verspürte auch nicht das drängende Bedürfnis danach, es zu tun. Vielmehr genoss ich gerade die Behaglichkeit, die der Salon mir gerade bot.
Meine Antwort erfolgte nur, um ein unangenehmes Schweigen zu vermeiden, im Grunde genommen ohne jegliche Überlegung, die zu einem genauen Ergebnis geführt hätte und aus der Tatsache heraus, dass es mir leichter fiel, Ja zu sagen als Nein.
So kam es, dass ich keine zwanzig Minuten später durch die große Eingangstür nach draußen trat, zumindest äußerlich bereit für einen Spaziergang.
„Wenigstens regnet es nicht", seufzte ich und ließ meinen Blick über die Landschaft streifen, die mir kein bisschen vertraut war, obwohl ich nun schon so lange Zeit hier lebte und ich konnte es nicht bloß auf den langen und kalten Winter schieben, der ganz Großbritannien monatelang unter einer dicken Schneedecke begraben hatte. Felder, ein Wald, das Anwesen und Straßen, mal breiter und schmaler. Das und jede Menge Wind, der die Wolken in rasendem Tempo, doch ohne jemals für eine Lücke zu sorgen, über den Himmel trieb und mich leicht frösteln ließ, doch so auch hoffentlich den Regen noch eine Weile von uns fernhielt.
„Ich denke auf besseres Wetter für einen Spaziergang können wir nicht hoffen" entgegnete Theodore und bot mir wie selbstverständlich den Arm an.
Er wollte wohl einfach nur ein Gentleman sein, doch ich konnte diese Geste unmöglich annehmen, obwohl niemand hier draußen war, der uns beobachtete. Oder vielleicht auch gerade deswegen. Wir waren uns nicht so nah, als dass wir das tun sollten. Allerdings merkte er auch schnell genug, dass ich so dachte und führte seinen Ellbogen wieder zum Körper.
„Dann lass uns losgehen", meinte ich, um die Stimmung nicht kippen zu lassen, wartete allerdings darauf, dass er vorging, um den Weg zu weisen.
Wir schlugen denselben Weg an, den ich auch mit James an Heiligabend zurückgelegt hatte. Zumindest erschien es mir so, jetzt, da die Welt nicht länger unter einer dicken Schneedecke begraben lag. Kaum zu glauben, dass es jetzt schon ein halbes Jahr zurücklag, denn während die ersten Wochen bei den Hamiltons mir erschienen waren wie ein halbes Leben, waren die letzten Monate im Eiltempo an mir vorbeigezogen. Und wie es schien, hatte ich dabei gänzlich vergessen, dass es noch eine Welt außerhalb des Kosmos' gab, in dem ich gefangen war.
Nie hätte ich geahnt, wie sehr ich es vermisst hatte, an der frischen Luft zu sein, unter freiem Himmel, war er auch noch so wolkenverhangen. Und nie hätte ich davon erfahren, wenn ich mich nicht dazu hätte überreden lassen, einen Spaziergang mit Theo zu unternehmen. Dieser zeichnete sich zwar weniger durch eine gepflegte Konversation als Schweigen aus, aber es gab ohnehin nichts über das wir sprechen konnten, was uns nicht augenblicklich wieder ins Innere des Hauses befördert oder daran erinnert hätte, dass wir nicht mehr gemeinsam hatten als den Hamiltons klaglos unser Blut zu überlassen.
Über die Gründe des Anwesens zu schreiten, seinen Blick über die Landschaft streifen zu lassen und den Wind zu fühlen, der versuchte unter die Kleidung zu dringen, um einen trotz der milden Temperaturen frösteln zu lassen, weckte immer stärker das Gefühl in mir, zwischen zwei Welten zu wandern. Das Haus war die eine, die, an die ich gebunden war und die mich festhielt, während die restliche Welt draußen nach mir rief, gerade in diesem Moment.
Und was hielt mich schon davon ab, nicht dorthin zu gehen, anstatt mich meine Füße wieder ins Herrenhaus tragen zu lassen? Niemand beobachtete uns oder zumindest nahm ich das an. Wer sollte mich schon davon abhalten und was würde mich schon Schreckliches erwarten, was ich nicht ohnehin schon durchgestanden hatte?
„Würdest du mich davon abhalten, jetzt zu gehen?" Mein Blick fiel auf die Stallungen, die gedrungen nahe des Hauses standen und im Gegensatz dazu winzig wirkten. „Ich könnte mir ein Pferd nehmen, um schneller zu sein."
„Ich weiß es nicht, aber es ist töricht darüber nachzudenken, denn du trägst keinen einzigen Penny bei dir. Wie weit willst du so schon kommen?"
„Würde es nicht genügen, die nächsten Häuser zu erreichen und ihnen davon zu erzählen, was sich hier abspielt?"
Er schüttelte den Kopf. „Sie würden dich für wahnsinnig halten und bis zum Ende deines Lebens in ein Irrenhaus sperren, in dem es dir sicherlich nicht besser ergehen würde als hier. Aber denkst du ernsthaft darüber nach, zu flüchten?"
„Sonst hätte ich es dir wohl kaum gesagt, oder?"
Er zog einen Mundwinkel leicht nach oben, so als würde er sich an einem Lächeln versuchen wollen und es dann doch aufgeben. „Vielleicht bist du doch stärker, als ich dachte."
„Danke. Aber wer weiß, ob wir diese Chance noch einmal haben?"
„Du kannst, was das angeht, nicht von ‚uns' sprechen. Ich werde hierbleiben."
Ich hegte keinen Zweifel daran, dass er es wirklich so meinte und dass es an dieser Meinung nichts mehr zu rütteln gab, dass er sie in vollem Bewusstsein und wohlüberlegt getroffen hatte.
„Und das nur wegen Annabeth?", hakte ich nach. Ich konnte immer noch nicht verstehen, was es war, das die beiden verband und sie nur zu zweit zu einer sich vollständig fühlenden Person werden ließ.
„Ich habe kein anderes Leben als dieses hier und wenn ich daran denke, wie es vorher war, bin froh darum." Er zuckte die Achseln, so als wolle er mir weismachen, dass es ihm unwichtig war, über andere Möglichkeiten nachzudenken, die sich ihm woanders womöglich böten. Und immer noch schien er sich seiner Sache unheimlich sicher zu sein.
„Es gehört sich nicht, das zu fragen, aber wenn ich trotzdem herausnehmen darf nachzuhorchen, würde es mich freuen, wenn du mir sagst, was das für ein Leben war, das du geführt, bevor du zu den Hamiltons gekommen bist."
Er sah nicht weg, aber ich merkte, dass er mir dennoch ausweichen wollte, was er letztlich auch tat. „Ein anderes Mal. Das ist kein Thema, über welches ich während eines Spaziergangs reden möchte, der dazu dienen soll, unsere Sorgen zu vergessen."
Ich nickte eifrig. „Natürlich, das verstehe ich und will auch nicht weiter drängen. Allerdings muss ich dir noch sagen, dass dieser Spaziergang seinen Zweck erfüllt hat, danke."
„Dann sollten wir ihn noch so lange wie möglich genießen, denn da hinten kommt eine dunkle Wolkenfront auf", antwortete Theo und zeigte in Richtung des Waldes, wo die Wolken über den Baumwipfeln tatsächlich eine deutlich dunklere Farbe angenommen hatten.
So machten wir uns gemächlich wieder auf den Weg zurück zum Haus, welches wir einmal in großem Bogen umrundet hatten, wie ich jetzt im Nachhinein feststellte. Wir hatten uns auch gar nicht so weit entfernt, doch immerhin weit genug, dass es zu wachsen schien, als wir ihm wieder näherkamen und ich kam wie auch vor fast zwei Monaten, wie ich jetzt mit Erschrecken bemerkte, nicht darum herum, es mit einer uns alle verschlingenden Bestie zu vergleichen.
Doch sollte es nicht leichter werden, dieser Bestie zu entkommen, je öfter ich mich zu ihr und wieder von ihr fortbegab? Theodore hatte nämlich recht. Es wäre töricht gewesen, vollkommen unvorbereitet fortlaufen zu wollen. Und je mehr ich über solche Vorbereitungen nachdachte, desto realistischer und erreichbarer erschienen sie mir. Sollte ich es vielleicht wahrhaftig zustande bringen, dies hier hinter mir zu lassen?
Langsam aber sicher neigt sich die Geschichte ihrem Ende zu. Ich plane, bis Ende März oder spätestens Mitte April (also Ostern) fertig zu werden. Ist vielleicht auch besser so, denn Evelyn mutiert gerade immer mehr zu selbstmitleidigen, pathetischen Schwurblerin :D
Danke übrigens an alle, die bis hierher gelesen haben, sind immerhin 440 Seiten.
LG, mockingbird
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