Mittwoch, 14.05.1879
Ich rückte einen meiner letzten beiden verbleibenden Bauern ein Feld nach vorne, obwohl ich genau wusste, dass James' Dame ihn schlagen und danach zu meinem fast ungeschützten König vordringen und ihn in schätzungsweise drei Zügen Matt setzen würde. Schach war nicht meine Leidenschaft und würde es auch nie sein, denn dafür war ich einfach zu schlecht darin. Es gelang mir einfach nicht, die Bewegungen der gegnerischen Figuren vorauszusagen, so sehr ich mich auch anstrengte und auch in dieser dritten Partie hintereinander hatte sich nach kurzer Zeit herauskristallisiert, dass der Sieg erneut an James gehen würde.
Ich hatte mich darauf eingelassen ein paar Runden mit ihm zu spielen, weil es zumeist still war, weil wir beide darüber brüteten, welche Figur wir wohin rücken wollten – auch wenn es bei mir mehr Fassade war und ich diese Zeit nutzte, um mich zu entspannen soweit es ging. Leider konnte ich mich auch hier seinem Griff nicht gänzlich entziehen, denn auch wenn er höflicherweise den Mund geschlossen hielt, um eine konzentrierte Atmosphäre zu ermöglichen, betrachtete er mich permanent. Es erinnerte mich fast an die Blicke, die ich schon am Anfang zwischen Theodore und Annabeth beobachtet hatte, bevor ich gewusst oder gar geahnt hatte, dass die Hamiltons ein grauenhaftes Geheimnis verbargen. Allerdings gab es hier etwas das fehlte, das anders war und auch wenn ich nicht genau in der Lage war zu sagen, um was es sich handelte, gab es für mich keinen Zweifel daran, dass es bloß pure Einbildung meinerseits war.
Mit der Natur dieses Blickes musste ich mich jetzt allerdings nicht mehr weiter auseinandersetzen, denn James vollzog seinen vorletzten Zug auf dem Weg zum Sieg und ich konnte nichts mehr tun, als meinen König ein Feld weiter zu rücken, sodass er nun soweit in die Ecke gedrängt war, dass James seine Dame einmal nach vorne ziehen lassen musste. Das Ende dieser Partie geschah fast automatisch und es gab keinen Anlass, es weiter hinauszuzögern, denn obwohl ich eine Frau war, die er umwarb, war ich es ihm nicht wert, dass er mich gewinnen ließ. Oder es würde sein Selbstbewusstsein schlichtweg zu sehr ankratzen, seine Möglichkeiten nicht voll auszunutzen.
Aber ebenso wenig wie mir noch Zeit geblieben war, ihn beim Spiel zu halten, konnte ich jetzt weiter darüber sinnieren, wie er dachte, denn er hatte schon die nächste Aktivität auserkoren.
„Lass uns einen ruhigen Platz suchen", teilte er mir mit, während er die Figuren wieder auf dem Spielfeld aufbaute.
Ich wusste, was das hieß. Dieser ruhige Platz würde vermutlich mein Zimmer sein, denn in seines hatte wir uns noch nie zurückgezogen – obwohl ich das auch gar nicht anstrebte, denn ich wollte nicht nur mit ihm am einzigen Ort sein, wo er alleiniges Hausrecht besaß. Es war früher als sonst, wenn er beschloss, dass es an der Zeit war, dass ich ihm von meinem Blut gab, aber wenn ihm jetzt die Lust danach war, konnte ich ihm nicht widersprechen. Außerdem hatte ich danach eine Entschuldigung, um mich zurückzuziehen, wenn mir schummrig wurde und ich Gefahr lief, dass mein Kreislauf einen kleinen Zusammenbruch erlitt.
Viel zu schnell war das Schachbrett zur nächsten Runde hergerichtet und James schob seinen Stuhl zurück, um aufzustehen. In einer fast symmetrischen Bewegung tat ich es ihm gleich. Es war fast so, als blickte ich in einen Spiegel, mit dem Unterschied, dass es ein Mann war, der auf der anderen Seite hauste. Wann hatte ich begonnen, dass wir das, was wir taten, so abglichen?
„Komm, wir gehen", sagte er, als sei es nicht offensichtlich, dass ich ihm folgen würde und so ging ich hinter ihm hinaus in den Flur.
„Wo wollen wir hingehen?", fragte ich, als würde ich die Antwort nicht schon genau kennen.
„Nehmen wir deinen Raum. Dort sind wir immer am ungestörtesten", gab er mir seine Antwort, die begleitet wurde von einem Lächeln, das ich unter anderen Umständen als charmant, wenn auch etwas zu fordernd, empfunden hätte.
Der Weg zum Berge Golgota, dachte ich verächtlich, schalt mich aber augenblicklich dafür, denn auch wenn mein Glaube stark gelitten hatte, sollte solch gotteslästerlich anmutendes Gedankengut mich nicht zu einer größeren Sünderin machen als ich schon war. So etwas sah mir nicht ähnlich, hatte ich doch immer Probleme damit gehabt, auch nur ein schlechtes Wort über meine Mitmenschen zu denken. Der erste, der meinen Hass auf sich gezogen und dessen ungezügelte Ausmaße zu spüren bekommen hatte, war Theodore.
Viel zu schnell waren wir allein, die Tür hinter uns geschlossen, wenn auch nicht verriegelt und ich begann schon, meinen Unterarm freizulegen, was sich inzwischen fast so anfühlte wie das Waschen meines Gesichts am Morgen, wenn ich es auch niemals mit dem Atmen oder Herzschlag gleichsetzen würde.
Eigentlich war es James immer gelegen gekommen, wenn ich ihm schon entgegen gekommen war, ohne dass er vorher hatte äußern müssen, was er nun von mir verlangte, aber heute schien er anderer Meinung zu sein. „Warum so hastig?"
Dass ich es möglichst schnell hinter mich bringen wollte, wenn es sich denn nicht gänzlich vermeiden ließ, war keine Antwort, die ich ihm unterbreiten konnte, weswegen ich schwieg und hoffte, einen unschuldigen Gesichtsausdruck aufgesetzt zu haben, der ihn nicht argwöhnen ließ.
„Es gibt keinen Grund zur Eile. Würde die nicht dafür sorgen, dass all das, was zwischen uns ist, verloren ginge? Ich dachte, wir wären darin übereingekommen, dass wir einander wollen."
Wir waren darin übereingekommen, dass wir einander nicht hassten und das hatte ich James in der letzten Woche zur Genüge bewiesen. Ich hatte Zeit mit ihm verbracht, ohne zu klagen, hatte nette Worte zu ihm gesprochen. Ich hätte ahnen müssen, dass es für ihn entweder das eine oder das andere Extrem gab und er ging höchstwahrscheinlich davon aus, dass wir innerhalb kürzester Zeit wieder in so innigem Kontakt standen wie zu Anfang des Jahres.
Doch so sehr ich mir wünschte, dass es mir möglich wäre, ihm wieder so gegenüberzutreten, es würde nie wieder so sein. Und spätestens, wenn er heiratete und eine andere Frau an seiner stünde, wüsste er, wieso ich dieser Ansicht war. Konnte ich so lange warten und ihn in dieser Zeit davon abhalten, mich so zu behandeln, als wäre ich mit ihm verheiratet?
Anstatt meinen Ärmel wieder nach unten zu ziehen, hielt ich ihm mein Handgelenk hin. „Trink", forderte ich ihn auf. Ich konnte mich nicht davon abhalten zu eilen.
„Nun..." James spitzte die Lippen und nahm meinen linken Unterarm in seine Hände. „Wenn du es so unbedingt willst, dann will ich dich nicht davon abbringen."
Die Prozedur nahm ihren Lauf. Dass wir diesmal davor wieder einige Worte ausgetauscht hatten, änderte nichts daran, dass ich am liebsten wegzucken wollte, ihm meinen Arm entziehen, um dem kurzen aber prägnanten Schmerz zu entgehen. Nichts verlief anders; der Moment, an dem ich die Augen schloss, kam und ging und als ich sie wieder öffnete, waren auch die beiden kleinen Wunden an der Innenseite meines Handgelenks wieder offen.
James reichte mir ein Tuch, das ich darauf pressen sollte, aber bevor ich es nehmen konnte, erkannte ich, dass er es gar nicht mir geben wollte, sondern er selbst es auf die blutende Stelle drückte. Er war sanft, vielleicht eine Spur zu sanft, denn ein Tropfen rann an meiner Haut herab und wäre auf dem Boden gelandet, hätte ich ihn nicht mit meinem Zeigefinger weggewischt.
Ratlos, was ich jetzt mit dem Blut an meiner Hand anstellen sollte, blickte ich zu James, der den kleinen Vorfall, der beinahe den Teppich ruiniert hätte, nicht bemerkt hatte, denn er hatte seinen Blick fest auf mein Gesicht geheftet, war mir erschreckend nah.
Da er meinen Arm hielt, war es mir nicht möglich zurückzuweichen, ohne, dass er es als einen Versuch der Flucht vor ihm ansehen würde und ich musste notgedrungen in seiner Nähe ausharren. Wären wir noch dieselben wie vor einem Monat, hätte ich ihn jetzt geküsst.
Dass ich mich jedoch dagegen entschieden hatte dies zu tun, beeindruckte James nicht, denn er war es, der die Initiative übernahm und seinen Lippen langsam in Richtung der meinen bewegte. Ich hätte es unter anderen Umständen sogar zugelassen, wäre da nicht ein störendes Detail.
„Da ist Blut auf deinen Lippen."
Es war eine simple Feststellung und ebenso simpel fasste er sie auf. „Es ist dein Blut."
Nun, wo er mir so nahe gekommen war, musste ich doch ein wenig nach Abstand suchen und wich zurück. „Wie kannst du mich so küssen wollen?"
„Es ist bloß dein Blut, Evelyn. Es fließt durch deinen ganzen Körper und ich kann dir versichern, dass es hervorragend schmeckt."
Ich konnte nicht anders, als mein Gesicht zu verziehen. „Ich bin dennoch nicht gewillt, dich zu küssen, solange du Blut an den Lippen hast. Sei es deines, meines oder das einer anderen Person."
James fackelte nicht lang und nahm den Lappen, den er auf die Wunde gedrückt hatte, um so seine Lippen zu reinigen. Natürlich benutzte er eher dieses Stück Stoff, das zwar schon befleckt war von meinem Blut, aber größtenteils sauber, um sich über den Mund zu wischen, als sich schnell mit der Zunge über die Lippen zu lecken, denn das wäre ja anstößig.
Da der Blutfluss an meinem Handgelenk aber noch nicht gestoppt war, musste ich nun mit meiner anderen Hand Abhilfe tun und mit dieser die Wunde zuhalten, damit sie sich von selbst wieder verschließen konnte.
James warf mir einen fragenden Blick zu, den ich allerdings nicht mit einer ihm erfreuenden Antwort quittieren konnte. „Ich würde dich bitten zu gehen, denn ich muss meine Hände waschen."
Er sah kurz nach unten, wo meine rechte Hand das Gelenk der Linken umklammert hielt und nickte. „Natürlich. Wünschst du, dass ich danach wiederkomme?"
„Es tut mir leid, aber ich denke nicht, dass ich in einer angemessenen Verfassung dafür bin. Ich hoffe, du siehst es mir nach. Du würdest mir allerdings sehr helfen, wenn du Florence zu mir schicken würdest", bat ich ihn so eindringlich ich konnte.
Wenn er verstand, dass es mir schlecht ging, würde er es hinnehmen. Dessen war ich mir sicher. Meine Gesundheit war ihm wichtig, denn die seine hing davon ab. Und wenn es ihm die Aussicht darauf gab, dass ich ihm zukünftig wieder näherkam, würde er sogar Florence für mich suchen, ohne einen zweiten Gedanken daran zu verschwenden, dass es womöglich unter seiner Würde sein könnte.
„Ich hoffe, ich habe dich nicht verärgert..."
„Oh nein, das hast du keinesfalls", beschwichtigte ich ihn schnell.
„Dann werde ich für dich tun, was ich kann", antwortete er und sorgte dafür, dass mir ein Stein vom Herzen fiel. „Dann wünsche ich dir hier und jetzt eine erholsame Nacht."
„Die wünsche ich dir ebenfalls."
Und schon verließ er mein Zimmer, das Stück Stoff immer noch in der Hand, sodass ich als erstes den Waschtisch in meinem Badezimmer aufsuchte, um mir das Blut von den Händen zu waschen. In roten Schlieren spülte ich es den Abfluss hinunter, um dessen Existenz ich äußerst froh war, denn so verschwand es einfach und ich musste mich nicht weiter darum kümmern.
Aus Ermangelung einer besseren Alternative nahm ich eines der Tücher, die ich nutzte, wenn ich meine monatlichen Blutungen hatte und wickelte es halbherzig um meinen Arm. Dann setzte ich mich auf mein Bett und wartete darauf, dass Florence erschien.
Es dauerte zum Glück nicht lange und ein Klopfen ertönte an meiner Tür und auf meine Nachfrage, wer draußen stünde, antwortete mir das Dienstmädchen, das ich eher als meine Freundin und Stütze bezeichnen würde.
„Ist alles in Ordnung mit Ihnen, Miss?", fragte sie sofort, nachdem sie eingetreten war.
„Eigentlich schon, aber es gibt da eine Kleinigkeit, um die ich dich bitten muss, die ich schon fast vergessen hätte."
Florence kannte mich gut genug. „Ich denke, ich weiß, worauf Sie hinauswollen, Miss. Den Schlüssel habe ich sicher verwahrt und werde ihn Ihnen aushändigen, wenn Sie möchten."
Ich nickte. „Sehr gerne."
Das Dienstmädchen hatte ihn selbst unter dem Kragen ihres Kleides um den Hals getragen, wie ich es häufig getan hatte und konnte ihn mir sofort geben. Heute Nacht würde ich in Graces Tagebuch weiterlesen, das schon in Vergessenheit geraten, aber zum Glück nicht ganz aus meinem Gedächtnis verschwunden war. Es konnte mir nicht helfen, aber wenigstens konnte es mich davon überzeugen, dass nicht alle Hamiltons das Böse in sich zu tragen schienen.
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