Mittwoch, 11.12.1878

Die Tage spielen keine Rolle mehr. Die Stunden spielen keine Rolle mehr und die Sekunden auch nicht. Zeit ist zu etwas Bedeutungslosem geworden.

Ich esse, ich trinke, ich schlafe, ich rede, wenn es sein muss. Aber das Wichtigste ist, dass ich immer noch lebe. Das Kind lebt auch noch. Ich bin immer noch gespannt, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist, obwohl der Arzt immer noch meint, ich werde es nie erfahren.

Jonathan ist endlich zu mir gekommen. Er hat gesagt, er wäre gerade angekommen. Er ist wirklich ein erbärmlicher Lügner, denn ich hätte ihm das nicht einmal geglaubt, wenn ich nicht schon vorher gewusst hätte, dass er da ist. Er hat ständig auf den Boden gestarrt und nicht Sinnvolles gesagt. Er hat mich gefragt, wie es mir denn gehe und ich musste ein sarkastisches Lachen unterdrücken. Jonathan ist eine Person, die nicht viel auf ihre eigene Meinung gibt. Das wurde mir in diesem Moment klar. Ich frage mich, ob er sich überhaupt sicher ist, dass er Elizabeth heiraten will.

Ich versuche alles zu vergessen, was mir in meinem Leben nicht gefallen hat.

Wahrscheinlich bleibt es bei dem Versuch, denn alles, was ich versuche aus meinem Kopf zu verbannen, kommt mir unweigerlich immer wieder entgegen

Ich habe versucht zu vergessen, wie Jonathan und Samuel mir einen Tag lang ununterbrochen hinterhergelaufen sind und Mutter das ignoriert hat, egal wie sehr ich mich bei ihr beschwert habe. Sie hat gemeint ich solle nicht so unverschämt sein und an meiner Ausdrucksweise und meiner Attitüde arbeiten. Seit dem Tag hatte sich unser Verhältnis geändert. Sie war plötzlich nicht mehr die Mutter, die mich beschützte, sondern eine Mutter, die mich erzog, wie man einen Hund oder ein Pferd erzieht, damit sie aufs Wort gehorchen. Sie wollte, dass ich alle Regeln befolgte, die mir vorgelegt wurden und das war eine Menge.

Kurz danach brachte sie eine junge Frau zu uns nach Hause, sie vielleicht gerade zwanzig Jahre alt, und trank von ihrem Blut. Danach ließ sie mich ebenfalls trinken und sofort spürte ich, wie es mir besser ging. Die Frau tötete sie nicht, obwohl es eigentlich ihre Pflicht gewesen wäre, wie sie mir wenige Tage davor noch erläutert hatte, aber sie schickte die Frau einfach weg, die dann leicht verwirrt, blass und unkoordiniert versuchte, den Weg zurück nach Hause zu finden. Zwei Jahre später, ich war acht Jahre alt, sah ich die Frau wieder. Sie schaute sich die ganze Zeit verängstigt um und wirkte panisch und paranoid. Sie hielt mit ihrer rechten Hand die ganze Zeit das Handgelenk umklammert, von dem meine Mutter und ich lange Zeit zuvor getrunken hatten. Sie hatte es nie überwunden und war ein Wrack. Damit es mir besser ging, musste es ihr schlechter gehen. Diese Erkenntnis gefiel mir nicht, denn ich war schließlich erst acht Jahre alt und ich war jemand, dem Gerechtigkeit sehr wichtig war. Irgendwie hatte meine Mutter es verpasst, mir ihre Ansichtsweise zum Verzehr von Blut darzulegen, deswegen war dies für mich schon immer ein heikles Thema, weil ich mir dazu meine eigene Meinung bilden konnte. Vielleicht liege ich deshalb nun hier und bin kurz davor zu sterben.

Elizabeth? War es ihre Stimme, die ich vor der Tür gehört habe? Ist sie hier? Eigentlich kann sie es nicht sein. Ich bin mir sicher, Jonathan hätte sie so wie es mir geht, niemals in meine Nähe gelassen. Am liebsten wäre es ihm vermutlich gewesen, sie außer Land zu wissen.

Graces Worte flogen nur so an meinen Augen vorbei. Ihre Einträge waren kurz, aber sie brachte ihre eigenen Emotionen mehr ein. Sie war vorher nahezu sachlich gewesen und sie hatte erwähnt, dass sie dieses Tagebuch für ihr Kind schrieb. Ich bin mir sicher, ich würde wollen, dass mein Kind meine Gedanken kennt, falls ich nicht weiter lebe, damit es eine vage Vorstellung von seiner Mutter bekommt. Meine Vorstellung von Grace war unklar. In einem Moment war sie diese verängstigte und besorgte Mutter und im nächsten war sie... anders. Ich konnte dieses „anders" nicht genau erklären. Ich konnte es nicht in mir bekannte Worte fassen.

Schon seit mehreren Stunden hatte ich in ungutes Gefühl in meinem Bauch, das einfach nicht wieder verschwinden wollte. Ständig versuchte ich mir auszumalen, wie ich es erleben würde, wenn Annabeth zum ersten Mal Theos Blut trank und teilweise auch, wie es sich für den Menschen anfühlen musste.

Ich war keine Medizinerin, aber es konnte alles andere als gesund sein, dauerhaft, Theo hatte mir gesagt etwa alle ein bis zwei Wochen wenige Schlucke, als James es mir nicht beantworten wollte, weil er mich nicht unnötig verunsichern wollte, zu wenig Blut im Kreislauf zu haben. Ich überlegte, ob vielleicht seine Wangen einfallen würden, ob seine Haut dünn und noch heller wurde und ob vielleicht sein Körper ein klein wenig an Haltung verlor.

Theodore hatte eine sehr gute, selbstbewusste Körperhaltung und er hatte mir einmal, in der ersten Nacht, die ich bei ihm verbrachte, gesagt, dass das hier ein Kapital war.

Wer gerade ging und furchtlos wirkte, sah gesund und mental stark genug aus, um als Diener herzuhalten. Und da ich getötet werden müsste, wenn ich nicht zu James' Dienerin wurde, blieb mir keine andere Wahl, als meine Haltung zu wahren. Und es hatte funktioniert. Ich hatte das Gefühl, dass Annabeth mich schätzte, als Freundin oder Verbündete, und Lord und Lady Hamilton mich nicht mehr so kritisch musterten.

Mit James verhielt es sich anders. Ich hatte versucht ihm Fragen zu stellen, aber er beantwortete sie nicht und seine einzige Begründung war jedes Mal, dass es alles mit der Zeit kommen müsste. Gleichzeitig versuchte er aber auch, stur unser Verhältnis zu bessern, was ich jedoch nicht zuließ, da er mir meine Fragen nicht beantworten wollte. Es war ein steter Kreislauf.

Man konnte uns vielleicht mit zwei Gladiatoren vergleichen, die in die Arena gesperrt wurden, um gegeneinander zu kämpfen, aber nicht angreifen, weil sie wissen, dass der andere regieren wird. Es ist als würden wir umeinander herum gehen, im Kreis herum, unsere Runden drehend, darauf wartend, dass der andere endlich reagiert und in den Kreis hineinbricht, auf einen zu gerannt kommt und als einziger Angriff die Verteidigung bleibt.

Bei uns ging es nicht vielleicht nicht ganz so blutrünstig zu, wie in einer Kampfarena, aber ganz unblutig würde es auch nicht bleiben.

„Heute ist ein großer Tag", sagte Annabeth, als ich sie bei ihrer Kleiderwahl beriet. Ich fragte mich, weshalb es ihr überhaupt so wichtig war, welches Kleid sie trug.

Sie war in einer euphorischen Stimmung, aber es war nicht ganz unerträglich für mich. Es lockerte mich eher, weil ich wusste wie viel Theo ihr bedeutete, abgesehen davon, dass er ihr Diener wurde (ich benutzte das Wort immer regelmäßiger und es kam mir immer leichter über die Lippen).

Nun sah ich sie, wie sie mir Röcke und Mieder zeigte und musste sie ständig mit dem aufgewühlten Theodore vergleichen, den ich gestern erlebt hatte.

Annabeth Hamilton besaß viel Kleidung. Vieles war schon aus der Mode gekommen, aber alles hatte Stil. Und vor allem war alles prächtig. Sie hatte vielleicht nur ein oder zwei Teile, die vollkommen ohne Schnickschnack waren (dafür waren sie aber aus edlen Stoffen).

Ich fragte mich, weshalb sich Annabeth schön machen wollte. Reichte es ihr nicht, so auszusehen, wie sie es immer tat? Warum war ihr das nicht genug?

Sie hatte mir nicht genau erzählt, was geschehen würde. Ich wusste nicht, ob ich zusehen müsste, wenn sie Theo biss. Ich wollte das nicht sehen.

„Hast du einen Vorschlag, wie ich mein Haar hochstecken soll?"

Sie sah mich nicht an, als sie das sagte. Sie war damit beschäftigt, sich im Spiegel zu betrachten. Sie prüfte ihre sehr reine Haut auf unreine Stellen.

„Die Frisur muss fest sitzen und nicht so schnell verrutschen. Keine einzelnen Strähnen sollten heraushängen. Aber du kannst dir Kriterien bestimmt selbst nennen..."

Ich antwortete ihr nicht. Annabeth war in einem Monolog gefangen.

„Meine Haare sollten nicht zu straff an der Kopfhaut anliegen. Und es sollte natürlich zu meiner Gesichtsform passen, sonst ..."

Ich blendete sie aus. Ich konnte mich keinen weiteren Belanglosigkeiten wie ihrer Frisur auseinandersetzen.

„Annabeth", unterbrach ich sie schließ, als ich es wirklich nicht weiter ertragen konnte. „Wie ist der genaue Ablauf? Habe ich etwas mit der Sache zu tun oder nicht?"

„Du bist nervös?"

Sie ließ mich zappeln. Wozu?

„Bitte, sag es mir", flehte ich sie förmlich an. War sie jetzt wütend auf mich, weil ich ihr unnützes Gerede unterbrochen hatte?

„Wenn du es nicht willst, liegt die Entscheidung bei Theo", war ihre beinahe kryptische Antwort.

„Das heißt genau?", hakte ich nach.

„Wir können uns jeder einen oder zwei Personen aussuchen, die überwachen, dass alles zugeht wie es zugehen soll. Zeugen. Ich werde meinen Vater nehmen und wenn du willst auch dich, aber wenn du es nicht willst, dann nicht. Sorge dich nicht darum."

Doch ich tat es. Es kümmerte mich, was ich zu erwarten hatte. Aber was konnte ich jetzt noch weiter tun, als alles auf mich zukommen zu lassen?

Annabeth strahlte. Theodore versuchte es. Wenigstens, aber er konnte sein Unwohlsein nicht verbergen. Er vermied Blickkontakt und redete nicht viel.

„Annie, würdest du uns nun sagen, wen du ausgewählt hast?", erkundigte sich der Lord bei seiner freudestrahlenden Tochter.

Wir, Lord und Lady Hamilton, Annabeth, Theodore, James, Florence, Cornelia, Henry und ich, befanden uns im Vestibül. Ich wusste nicht, dass diese Zeremonie, oder wie man es auch immer nennen wollte, so überaus wichtig war, dass sich auch das Personal einfand, obwohl es mir nachher gar nicht mehr so verquer erschien, denn schließlich waren Cornelia und Henry Diener, so wie Theo und ich Diener werden sollten. Was Florence betraf hatte ich keinen blassen Schimmer. Ebenso fragte ich mich jetzt, was wohl ihre Funktion im Haushalt Hamilton war, aber ich zwang mich, nicht weiter darüber nachzudenken. Nicht jetzt. Nicht hier.

„Anfangs hatte ich nur überlegt, dich zu nehmen, Papa", sagte sie und ließ eine Kunstpause, um die Spannung zu erhöhen und es trieb mich in den Wahnsinn. Sie hatte doch nicht etwa doch mich ausgewählt und mich so hintergangen?

„Aber dann", fuhr sie fort und ließ jetzt sogar zwischen den einzelnen Wörtern winzige, jedoch bemerkbare Pausen, „fiel mir ein, dass es Florence vielleicht interessieren könnte, dem Ganzen beizuwohnen und ich hoffe meine Entscheidung war richtig."

Sie beendete den Satz mit einem aufgesetzten Lächeln.

Im Stillen dankte ich ihr, weil ein Teil von mir doch fest damit gerechnet hatte, dass sie mich aufrufen würde, dass sie mein Vertrauen bloß ausgenutzt hatte, um den Schrecken in meinem Gesicht zu sehen und meinen darauffolgenden Hass auf sie zu genießen. Aber das war nicht geschehen und sie erntete weiter mein Vertrauen.

„Theodore", forderte Jonathan Hamilton Theo auf, der aschfahl im Gesicht war.

„Ich", (ich erwartete an dieser Stelle, dass er zu stottern begann, aber er tat es nicht, er war wohl zu abgebrüht) „habe zwei Personen ausgewählt. James und Evelyn."

Nüchtern, ganz nüchtern sagte er es. So, dass ich es am Anfang gar nicht richtig realisierte, aber meinen Namen zu hören setzte in meinem Kopf etwas in Gang. Eiskalter Hass begann mein Blut zum Sieden zu bringen. Langsam hatte ich angefangen ihm zu vertrauen. Ich hatte mich sogar gefreut, gestand ich mir im Nachhinein ein, dass er mich verstand, weil es für ihn genauso schrecklich sein musste wie für mich und jetzt tat er mir das an. Ich wollte es nicht sehen, ich hatte nicht damit gerechnet es mit ansehen zu müssen. Konnte er nicht verstehen, dass es jetzt besser war alles erst einmal auf Abstand zu halten?

Im ersten Moment überlegte ich, ob es sich wohl lohnte zu protestieren. Ich wusste zwar von keiner Regel, die besagt man hätte freie Wahl, ob man diese Position annahm oder nicht, aber ich kannte diese Gesellschaft in die ich unfreiwillig hineingeraten war nicht gut und deswegen war meine Hoffnung auf ein glimpfliches Entrinnen aus dieser Situation sehr hoch.

„Ich werde es nicht tun", sagte ich bestimmt. „Er hat vor mir jemand anderen genannt, also gehe ich nicht davon aus, dass es eine Notwendigkeit ist, dass ich an der Sache... teilnehme."

Es stellte sich wahrscheinlich nicht als gut heraus, direkt so mit der Tür ins Haus zu fallen, aber sie wollten, dass ich stark war und ich fand es war sehr stark, auch einmal die Regeln der Gesellschaft zu brechen und meine Meinung zu sagen.

„Evelyn, ich fürchte, ich muss Sie enttäuschen", sagte Lady Elizabeth, „aber Theodore hat Sie ausgewählt und Sie werden anwesend sein müssen."

Keine Erklärung. Keine Begründung.

„Dürfte ich wenigstens fragen, weswegen?"

„Wir waren nachsichtig mit Ihnen, Evelyn. Wir haben Rücksicht genommen, weil wir Ihnen zugetraut haben, sich schnell mit der Situation zu arrangieren, wie ich Ihnen bereits sagte und ich war nie der Ansicht, dass sich Probleme auftun könnten. Seien Sie vernünftig und lassen Sie es über sich ergehen, wenn Sie nicht bereit sind, es zu schätzen."

Die Stimme des Hausherrn klang neutral. Er hörte sich weder wütend noch enttäuscht an, aber auch nicht teilnahmslos. Er ließ mir Rätsel offen.

Ich protestierte nicht. Würde ich noch etwas erwidern, würden sie es unverschämt finden und ich hatte Angst, mich in etwas hineinzureiten.

„Wann und wo soll ich da sein, Lord Hamilton?", fragte ich und versuchte, nicht zu lächeln. Ich hatte viel zu oft in letzter Zeit aus reiner Höflichkeit gelächelt, aber das passte jetzt nicht.

„In einer Stunde treffen wir uns hier", antwortete Lady Hamilton für ihren Gatten. „Anna, komm mit mir mit."

Zusammen gingen sie weg. Der Lord machte sich auf den Weg in sein Arbeitszimmer, in dem er viele Stunden am Tag verbrachte und James, Theodore und ich blieben stehen.

„Warum hast du das getan?", warf ich Theo vor. Ich flüsterte fast, weil ich es nicht riskieren wollte, gehört zu werden. Aber jetzt war es mir egal, dass James hörte, dass ich ihn duzte. Theo hatte alles verbockt. Ich hatte ihm vertraut, aber er hatte mich einfach so im Stich gelassen. Er wollte fliehen und das mit mir zusammen planen. Er konnte doch unmöglich denken, dass ich ihm eine Hilfe war, wenn er mich psychisch vollkommen ruinierte. Er musste doch wissen wie viel Angst ich davor hatte mir so was auch nur noch ein einziges Mal anzusehen, geschweige denn an mir selbst zu spüren.

„In einer Stunde, Evelyn, und denke nicht daran, dich in deinem Schlafzimmer einzuschließen. Sie haben einen Zweitschlüssel."

Mit diesen niederschmetternden Worten ging er.

James versuchte einen Arm um mich zu legen, aber ich stieß ihn weg.

„Lass mich!", zischte ich ihn an. „Lass deine Finger von mir! Für wen hältst du dich eigentlich? Ich..." Meine Stimme brach ab.

„Ich weiß nicht, warum er sich dir gegenüber so verhält. In den Jahren, die wir jetzt hier schon in einem Haus wohnen, ist er quasi mein Bruder geworden, aber er hat sich noch nie jemandem gegenüber so verhalten..."

„Wen soll er denn schon kennengelernt haben, James?", wisperte ich.

Er schwieg mich an.

„Manchmal habe ich das Gefühl, du wärest besessen", wagte ich es schließlich in die Stille zu sagen. „Ich weiß nicht von was, aber da ist etwas. Vielleicht hat es mit dem zu tun, was du bist, aber bei den anderen spüre ich es nicht."

„Du musst keine Angst vor mir haben."

„Was ist, wenn es genau das ist, was dieses Gefühl ausmacht? Vielleicht wird es besser, wenn du mir sagen kannst, weshalb du mich wolltest."

„Weshalb ich dich will, Evelyn", verbesserte er mich und sah zu Boden. Er wusste, dass es das war, was mich verängstigte. Es schein als wäre er von mir besessen. Nicht bloß von etwas. „Wollen wir vielleicht Schach spielen? Wir könnten uns nach unten setzen. Da haben wir einen Schachtisch. Mein Vater war besessen davon, es mir beizubringen, aber er hat selbst über die Jahre die Lust daran verloren und wir benutzen ihn kaum."

Er gab sich Mühe, dass ich ihm vertraute. Schon wieder.

Ich nickte. „In Ordnung."

Es würde ein stilles Spiel werden. Keiner von uns beiden würde ein Wort sagen. Wir waren beide gut. Es war möglich, dass wir die Partie nicht einmal beenden konnten.

„Wir müssen gehen."

Ich schüttelte den Kopf. „Nein. Ich will das nicht. Ich bin nicht bereit dafür. Ich werde nie bereit dafür sein. Lass uns wenigstens noch das Spiel zu Ende bringen."

„Nein, Evelyn, komm."

Ich biss die Zähne zusammen, um nicht gleich loszuheulen. James hielt mir seine Hand entgegen, um mir aufzuhelfen.

„Ich werde dir versprechen, dass es anders sein wird, als das was du gesehen hast. Ich verspreche es dir hoch und heilig. Und wenn es dazu kommen wird, dass du zu meiner Dienerin wirst, dann wird es gar nicht schlimm sein. Ich habe es dir schon gesagt."

Ich wandte mein Gesicht von ihm ab.

„Evelyn, sei bitte nicht dumm!"

„Ich werde nicht mitkommen", wiederholte ich noch einmal. Ich wollte es ihm kein weiteres Mal sagen.

„Doch!", knurrte James. Er sah mich mit finsterem Blick an. Seine Mimik hatte sich innerhalb weniger Momente schlagartig geändert. Er machte mir Angst, bloß diesmal schien es ihm vollkommen egal zu sein.

Ich presste die Lippen zu einer dünnen Linie zusammen und verfinsterte meinen Blick ebenfalls. James ließ das vollkommen kalt. Er trat einen Schritt näher an mich heran.

„Komm mit, Evelyn."

Ich schüttelte den Kopf. Ich stand kurz davor zu weinen, aber ich drängte die Tränen zurück. Ich durfte nicht weinen. Nicht jetzt.

Ich sah seine hervorschnellende Hand zu spät. Mit festem Griff packte er mein Handgelenk und zog mich auf. Ich hatte keine Zeit zu reagieren. Ich wollte mich ihm wieder entziehen, aber seine Hand blieb fest.

„Hör auf du tust mir weh!"

„Ich lasse dich los, wenn du mitkommst." Er hatte sich vorgebeugt, seine Lippen berührten beinahe mein Ohr, als mir zuflüsterte. „Bitte."

Er wirkte auf mich immer noch unkontrolliert wütend und auch weiterhin bereit, handgreiflich zu sein. Selbst als ich nickte, lockerte sich sein Griff nicht.

„Ich...", setzte ich an, aber was konnte ich schon sagen? Mir fiel nichts ein, mit dem ich ihm Paroli hätte bieten können. Einen weiteren Versuch etwas zu sagen sparte ich mir. Ich stand kurz davor wirklich in Panik auszubrechen.

Als ich ein weiteres Mal versuchte meinen Arm zu befreien, drückte er so fest, dass ich den Schmerz nicht still ertragen konnte.

„Sei nicht dumm", raunte James mir zu. „Ich weiß, dass du es nicht bist, denn sonst wärst du nicht hier, aber bitte lerne, dass du hier nicht alleine überleben kannst."

Mit diesen Worten ließ er mich los. Die Tränen, die in meinen Augen darauf warteten herauszubrechen waren in diesem Moment am stärksten, aber ich hielt sie dennoch weiter zurück, egal wie viel Kraft, Mühe und Konzentration es einforderte.

Als er mir dreister Weise anbot, mich bei ihm unterzuhaken, lehnte ich nicht ab. Ich konnte dafür keine Kraft mehr aufbringen. Es wurde mir erst klar, dass er gewonnen hatte, als wir ins Vestibül traten, wo Annabeth stand und uns anlächelte. Ihre spitzen Eckzähne blitzten im Schein der Lampen auf.

Wieso besaß sie auf einmal solche Zähne? Sie musste sie auch gehabt haben in der Nacht, in der sie den Mann aus der Oper umbrachte, aber sonst waren sie mir nie an ihr aufgefallen. Sie sahen gefährlich aus und ich versuchte die Erinnerung an Annabeth wie sie den ekelhaften Kerl aussaugte aus meinem Kopf zu verdrängen.

„Ihr seid da. Jetzt fehlen bloß noch Vater und selbstverständlich Theo. Oder hat er vielleicht doch Angst bekommen?", scherzte sie und ließ ein leises Lachen hören. Das war nicht die Annabeth die ich glaubte zu kennen.

Eines musste ich James lassen. Er lachte nicht mit. Er blieb stumm an meiner Seite und hielt so viel Abstand von mir wie im das möglich war. Anscheinend bereute er seinen Wutausbruch, aber gerade deswegen hatte ich das Gefühl, dass ihm so etwas noch öfter passieren würde.

Wir fielen in ein verhaltenes Schweigen, das erst etwa eine Minute später gebrochen wurde, als Lord Hamilton oben an der Treppe erschien und uns nach oben rief.

„Theodore wartet schon im kleinen Salon. Kommt."

Anna raffte ihren Rock und eilte ziemlich undamenhaft die Treppe zu ihrem Vater hinauf.

„Papa, wieso bloß den kleinen Salon? Ich habe fest geplant, dass wir Mutters nehmen werden. Sie hatte es mir fest versprochen..."

„Annie, beruhige dich bitte und halte dich mehr zurück. Es gehört sich nicht für eine junge Dame zu reden, selbst wenn sie in ihrem eigenen Haus ist", ermahnte sie der Lord. „Deine Mutter hat sich entschlossen den Salon heute selber zu nutzen und ich möchte dich daran erinnern, dass sie die Vorrechte für diesen Raum hat. Sie hat ihn eingerichtet und sie nutzt ihn im Gegensatz zu dir täglich."

Annabeth nickte und rauschte an ihrem Vater vorbei, der ihr rasch folgte.

„Ihr Verhältnis zu unserer Mutter ist in letzter Zeit getrübt", flüsterte James mir zu. „Sie ist in der Gunst unseres Vaters weiter oben denkt sie und ist damit vielleicht sogar Recht, aber gelegentlich nimmt sie sich zu viel heraus." Er kicherte dabei. „Wir wurden anders erzogen als du, aber du scheinst auch die eine oder andere Freiheit gehabt zu haben im Gegensatz zu manchen adligen Töchtern, die ich getroffen habe."

„Ich bin nicht adlig", antwortete ich und lächelte ihn an. „Und ich denke nicht, dass du besonders viele getroffen hast."

„Ich sagte, ich habe manche getroffen. Ich habe nie behauptet, viele Leute zu kennen. Aber", fügte er hinzu, „wir sollten jetzt wohl ein wenig ernster werden."

Er sagte es mit einer Heiterkeit, die seine Stimme erhellte. Unsicher, ob ich es als ein gutes oder ein schlechtes Zeichen werten sollte, schwieg ich einfach, um zu vermeiden, dass er wieder aggressiv wurde. So nah wie ich ihm gerade war, begann ich nämlich, ihm mein Vertrauen zu schenken – ohne, dass sich etwas in mir dagegen sträubte.

Das einzige, was den kleinen Salon vom Mobiliar vom größeren unterschied, war, dass es keinen riesigen Ebenholzflügel gab. Für diesen Luxus fehlte wirklich der Platz. Als klein konnte man ihn aber dennoch nicht beschreiben.

Annabeth stand brav neben Theodore, die Hände übereinander gelegt, den Mund verschlossen, sodass man die spitzen Reißzähne nicht mehr sah.

Theo schien im Gegensatz zu ihr nervös zu sein. Ich ertappte ihn sogar dabei wie er mir einen Blick zu warf. Vielleicht hatte er davor auch schon länger auf mir geruht. Ich meinte, etwas Entschuldigendes in seinen Augen zu erkennen. Wenn er mich von dem, was mich jetzt erwartete, befreite, könnte ich mir noch überlegen ihm zu verzeihen, aber jetzt ging das nicht.

Die Tür hinter uns war geschlossen. Es gab jetzt kein Zurück.

Der Lord wollte beginnen, etwas zu sagen, als ihm seine Tochter ins Wort fiel.

„Es muss nicht viel gesagt werden, Papa", sprach sie mit sanfter Stimme. „Lass uns einfach anfangen. Ich denke, das wäre eine gute Lösung."

Dabei lächelte sie mir aufmunternd zu. Aufrichtig.

Ich holte tief Luft. Zum einen, weil ich Angst hatte, dass sie jetzt wirklich begann, ihre Zähne in Theodores Haut zu graben, zum anderen, weil ich befürchtete, ihr Vater würde sie rügen dafür, dass sie ihm ins Wort gefallen war.

Aber nichts dergleichen geschah.

„Nehmt Platz", wurden wir von Annabeth aufgefordert. Ich setzte mich neben James auf einen Zweisitzer. Lord Jonathan machte es sich in einem großen Sessel mit hoher Rückenlehne bequem, ließ sich ganz zurücksinken und wirkte beinah abwesend.

Anna krempelte den Ärmel von Theodores Hemd hoch. Sie war dabei ganz behutsam, den Blick hielt sie auf die blau schimmernde Vene gerichtet, die sie gleich treffen wollte.

„Ich habe Angst", wisperte ich und hatte das Glück, dass nur James es hörte.

Wir sahen uns kurz an, bevor er mir seine Hand hinhielt.

„Es ist in Ordnung", flüsterte er zurück und ich nahm sein Angebot an.

Seine Hand war im Gegensatz zu meiner eigenen riesig groß und umschloss meine zarten Finger. Er hielt sie locker, so, dass ich mich geborgen fühlte.

Was jetzt geschah, entsprach nicht meinen Erwartungen.

Als ich zusammenzuckte, als Annabeth sich hinunterbeugte, biss sie ihn nicht einfach, sie spitzte die Lippen und küsste die Innenseite seines Handgelenkes, die Zähne waren nicht zu sehen. Erst, als sie sich ein wenig aufrichtete sah ich, dass sie noch gar nicht vorgehabt hatte, anzufangen. Dieser Kuss war ein Zeichen ihrer Ehrerbietung gewesen. Es war anders als mit dem Mann aus der Gasse. Ich vermutete, dass sie den dreckigen Kerl bloß als Mittel zum Zweck angesehen hatte, Theodore aber wirklich liebte. Daran bestand kein Zweifel mehr. Ihre Beziehung war vollkommen außergewöhnlich. Sie liebten sich so, wie sich Eheleute lieben, aber sie besaßen auch diese Anziehung zwischen einem Diener und dem, dem er sein Blut gab. Diese Anziehung, die es auch zwischen James und mir schon gab, die mir sagte, dass es das Richtige war, die aber immer wieder durch sein Verhalten angefochten wurde und kurz bevor sie zu zerreißen drohte wieder in ihre Ausgangsform zurückversetzt wurde.

Meine Finger suchten Halt an James Hand. Ich hielt sie ganz fest, denn ich wusste, dass es nicht bei dem bleiben würde, was schon passiert war.

Ich bemerkte gar nicht richtig wie Annabeth ihr Zähne in Theodores haut bohrte, ein paar Schlucke trank, ein Stück Stoff nahm und es vorsichtig auf die Wunde drückte, die sie hinterlassen hatte.

Theo hatte sein Gesicht in keinem Moment verzogen, aber ich fühlte, dass es ihm wehgetan hatte. Es musste unwahrscheinlich geschmerzt haben, als die Zähne seine Haut durchbrachen. Er war stark geblieben, hatte es tapfer durchgehalten. Ich auch.

Das hier hatte nichts zu tun mit Annabeth' bestialischem Mord. Die Menge Blut, die sie genommen hatte, musste sehr gering gewesen sein und sie war so vorsichtig gewesen, dass es wohl nur kleine Löcher in der Haut hatte und keine klaffende, blutende Fleischwunde.

Jonathan Hamilton stand träge auf. „Eine gute Nacht wünsche ich", sagte er noch, bevor er das Zimmer verließ, ohne seine Tochter zu loben oder ein nettes Wort an Theo zu richten.

Es war ziemlich kurios, dass ich dachte, es wäre eine Qual mitansehen zu müssen, wie Annabeth Theodores Blut trank, obwohl es keineswegs schrecklich gewesen war. Ein wenig grausam möglicherweise, aber es war so kurzweilig gewesen, dass meine Erinnerung jetzt nach wenigen Sekunden nur noch so vage war, dass ich nicht wusste, ob das was ich glaubte gesehen zu haben, Wirklichkeit war. Es war James gewesen, auf den ich mich fokussiert hatte. Es war James, der mich beruhigt hatte, obwohl er die hitzigste Person war, die ich kannte.

Es dauerte einen kurzen Moment, bis ich bemerkte, dass seine Hand immer noch um meine geschlossen war. Ich wollte Anstalten machen, loszulassen, aber ich wollte es nicht. Ich war gefangen in seinem Bann, in der Geborgenheit, die er mit bot.

Es war wohl wie das Gift einer Schlange, das einen einschläferte und einem ein gutes Gefühl gab, bis der Schmerz kam und dann nichts mehr.

„Evelyn, ich weiß nicht, ob es jetzt angebracht ist, das zu fragen, aber könntest du mir vielleicht dabei helfen, die Wunde zu versorgen? Sie muss ganz sauber sein und gut verbunden werden und ich kann nicht sagen, dass ich Erfahrung mit solchen Dingen hätte", sagte Annabeth zu mir, die noch immer das Tuch gegen Theodores Wunde drückte.

„Ich helfe dir gerne", antwortete ich, obwohl ich genau wusste, dass es genauso unehrlich klang wie es gemeint war. Ich traute mich aber nicht etwas zu sagen, was sie unter Umständen dazu brächte, mir nicht länger zu helfen.

James ließ meine Hand los, bevor ich es tat und übergab mich dem bekannten Gefühl der Angst, die sich mit Unsicherheit paarte.

„James, gehst du das Mittel holen, das Vater immer vor uns versteckt? Du bist besser als ich darin, es unauffällig mitzunehmen."

Er ging, er ließ mich mit Annabeth und Theodore allein. Annabeth würde ebenfalls gehen und das zusammensuchen, was sie brauchte um die Wunde zu verarzten und ich würde warten. Mit Theodore alleine in einem Raum. Allein mit dem Verräter. Er wollte mit mir reden. Er wollte immer reden. Er wollte sich entschuldigen und dann rechtfertigen, was er getan hatte und weswegen er sich nicht hätte entschuldigen müssen. Ich wusste genau, was er jetzt von mit wollte, aber ich wollte es ihm nicht geben. Das dachte ich zumindest.

„Du kommst mit mir", forderte Annabeth mich unerwartet auf.

Ich stand auf, ging unsicher zu ihr. Mit dem Gefühl bei jedem Schritt stark zu wanken.

„Er kann alleine zusehen, dass er nicht verblutet", scherzte sie, so, dass Theodore es nicht hören konnte. Sie war wieder vollkommen sie selbst. So, wie ich dachte, dass es ihre gewöhnliche Persönlichkeit und Laune war, obwohl ich noch nicht vollkommene Sicherheit hatte, dass sie auf meiner Seite war und mir helfen würde.

Als wir auf dem Weg nach unten waren – ich vermutete wir gingen zur Küche -, begannen wir zu reden, wie wir es schon oft getan hatten. Es war ein lockeres freundschaftliches Gespräch, doch diesmal hatte es eine Bedeutung.

„Du weißt, wie sehr ich ihn liebe. Das stimmt doch, oder?", fragte Annabeth mich auf einmal, ohne mir in die Augen zu sehen.

„Ja", lautete meine Antwort, „ich denke schon. Ich weiß, dass er dir mehr bedeutet, als er dir wirklich bedeuten sollte. Ich denke nicht, dass dein Bruder mich so behandeln wird, wie du Theo behandelst."

„Er wird besser zu dir sein, das kannst du mir glauben." Sie lächelte. „Du hast ihn nicht in der Zeit erlebt, bevor du gekommen bist. Er war vollkommen euphorisch. Er hat ständig mit mir über deine Ankunft geredet, hat mich angefleht, ich solle mich bloß mit dir anfreunden oder zumindest Sympathie heucheln. Ich muss zugeben, ich war vermutlich die Einzige zu der er so offen war. Mir hat er auch zuerst gesagt, dass du die diejenige bist, die er als seine Dienerin haben will. Alle anderen hätten ihn für verrückt gehalten, weil er dich ja nicht einmal kannte. Er hatte dich einmal gesehen und war dir schon verfallen. Ich sage dir gerade vermutlich mehr als du wissen wolltest und wissen solltest, aber du hast verdient, alles zu wissen."

Ich konnte nicht anders als zu schweigen. Ich hatte James im November, vor nicht einem Monat zum ersten Mal gesehen. Wo und wann war ich ihm aufgefallen? Ich war versucht, Annabeth Fragen zu stellen, aber ich hielt mich zurück. Das war nicht das, worüber ich jetzt mit ihr reden sollte. Wir sollten über Sachen reden, die rationaler waren.

Wir gingen tatsächlich in die Küche, aber anstatt dort in einem der Schränke nach Verband oder einer Wundheilsalbe zu suchen, gingen wir durch die Küche hindurch zu einer Tür die in der Ecke hinter einer Anrichte verborgen war, wenn man nicht im hinteren Teil des Raumes stand. Als Anna die Klinke hinunterdrückte ging die Tür nicht auf.

„Verdammt!", fluchte sie. „Entschuldige."

Ich ignorierte ihren Fluch, einfach ignorieren.

„Entschuldigung, wirklich", betonte Annabeth nochmals, während sie begann sich nach einem Schlüssel umzusehen. „Wir sind nicht wirklich gläubig. Das hast du bestimmt schon mitbekommen, aber solche Wörter sind doch zu uns durchgedrungen. Ich werde mir vornehmen ab jetzt nicht mehr zu fluchen. Versprochen."

„Es ist... in Ordnung", sagte ich schnell, um mir nicht anmerken zu lassen wie überrascht oder eher schockiert über ihre Erziehung war. „Wie sieht eigentlich der Schlüssel aus und warum schließt ihr eure Medizin weg?"

Annabeth ging schnellen Schritts zur gegenüberliegenden Wand und durchstöberte da Krüge und Töpfe und ein Regal mit exotischen Gewürzen. „Es ist ein normaler Schlüssel", antwortete sie leicht genervt. „ich weiß nicht genau wie ich ihn beschreiben kann... Und es ist auch gut, dass es ihn gibt und er so gut versteckt ist, denn es sind nicht nur Medikamente, die wir in dem Raum lagern, aber wahrscheinlich habe ich zu viel verraten. Ich rede für gewöhnlich auch nicht so viel und vor allem nicht in diesem Tonfall, als ob ich keine grundlegende Erziehung genossen hätte, aber anscheinend mag ich dich."

Das unterstrich sie mit einem kurzen Lächeln. Ich hatte schon beinahe vergessen, wie sie mich bei unserem ersten Treffen angesehen hatte. Genau verstanden, weswegen sie so feindselig gewesen war, hatte ich immer noch nicht.

„Hast du nicht die geringste Ahnung, wo sie den Schlüssel aufbewahren könnten?", fragte ich, um eine banale Unterhaltung zu erzwingen.

„Meine Eltern wissen es, Cornelia oder Henry vielleicht und Florence ganz sicher.... Schlussendlich bleiben uns bloß die Optionen zu fragen oder weiterzusuchen. Meine Eltern kann ich nicht fragen, sie würden mich niemals hineinlassen und alle anderen werden reden."

„Warum erlauben sie dir nicht etwas zu holen?"

„In falschen Dosierungen können auch unsere Medikamente gefährlich werden. Es ist keine übliche Medizin wie du sie vielleicht kennst. Sie ist anders. Sie ist besser, wirkt schneller und hilft auch wirklich gegen die Beschwerden gegen die sie entwickelt wurde. Wir machen einen Teil unseres Geldes damit und besitzen eine eigene Fabrik vor London, die nur für diesen Zweck errichtet wurde."

„Erzählst du mir nicht gerade ein wenig zu viel?", fragte ich sie nachdenklich.

„Auf keinen Fall. Du wirst es in den nächsten Wochen oder Monaten erfahren und ob früher oder später spielt keine Rolle mehr. Je mehr Geheimnisse oder Unwissenheit wir aus der Welt schaffen können, desto besser ist es für dich. Das ist meine Sicht der Dinge. Ich weiß nicht, was James davon hält oder meine Eltern, aber mich wird niemand dafür bestrafen und dich auch nicht. Sei unbesorgt und genieße meine Erzählungen, Evelyn."

Der Schlüssel lag zwischen zwei Büchern. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie Annabeth auf dieses Versteck gekommen war und das innerhalb weniger Minuten, aber ich stellte keine Fragen. Nicht einmal, als sie zielstrebig auf die richtige Regalreihe zugegangen war, ohne auch nur ein einziges Mal zu zögern.

Als die Tür aufschwang, war ich leicht aufgeregt. Mein Herz flatterte, aber die Aufregung legte sich schnell wieder, als ich in einen winzigen Raum blickte, der vielleicht als Vorratskammer gebaut worden war und dessen Regale sich jetzt mit Flaschen, Phiolen, Karaffen und auch Verbandszeug füllten.

Es gab keine Lampe, weswegen Annabeth sich eine kleine Kerze anzündete, die auf einem der Regalbretter lag. Direkt neben einer Packung Streichhölzer, die noch ganz gefüllt war.

Immer da, wo der flackernde Lichtschein der Kerze den Raum erhellte, konnte ich die dicke Staubschicht erkennen, die sich auf allem abgesetzt hatte. Bei manchen Gefäßen konnte man die Aufschrift kaum noch erkennen.

„Meine Eltern beziehen ihre Medizin nie aus diesem Raum. Sie haben eigene Vorräte", erklärte mir Annabeth, während sie mit dem Finger an einer Regalleiste entlangfuhr, den dicken Staub, der sich auf ihrer Fingerkuppe gesammelt hatte, betrachtete und ihn danach wegblies, ohne auch nur eine Spur des Ekels zu zeigen. „Könntest du vielleicht einen der Verbände nehmen?"

Ich tat wie mir befohlen und drückte mich danach nur noch an der Tür herum – (ich ließ meine Blicke sorgsam immer wieder zur Küchentür schweifen).

Annabeth nahm mehrere der Mittel mit sich und als sie im helleren Licht, das in der Küche herrschte, noch ein weiteres Mal überprüft hatte, ob es die richtigen Gefäße waren, gingen wir zurück.

„Hast du schon einmal eine Wunde versorgt?", fragte ich sie, als wir am oberen Absatz der Treppe angekommen waren.

Sie schüttelte den Kopf. „Es ist etwas Intuitives, denke ich, und ich weiß, wozu die einzelnen Mittel gut sind und wie man sie anwendet und möglicherweise hast du ja Ahnung davon, wie man einen Verband anlegt."

„Nein, das habe ich nicht."

„Nun, dann wünsch mir Glück, dass alles so funktioniert, wie ich es geplant habe."

Theodore saß noch genau da, wo wir ihn gelassen hatten, aber er hatte sich etwas gemütlicher hingesetzt und man sah durch den Fetzen, den er sich auf die Wunde presste schon leicht das Blut hindurch.

Ich hätte nicht gedacht, dass eine so kleine Wunde so viel bluten würde.

Im Grunde hatte ich Glück, dass ich jemanden überhaupt bluten sehen konnte. Viele Frauen, und ich war mir sicher, auch einige Männer, konnten das nicht. Das Gefühl des Unwohlseins, als Annabeth ein kleines Tüchlein mit einer farblosen Flüssigkeit beträufelte, um danach die Wunde damit zu säubern, kam nicht von dem vielen Blut.

„Dort drüben habe ich einen kleinen Löffel liegen", wies Annabeth mich an. „Könntest du etwas von dem Extrakt aus der Flasche hier auf den Löffel tun und es Theo geben? Es ist zum Trinken gedacht."

Ihr Blick fiel auf eine kleine Flasche aus dunklem Glas, deren Flüssigkeit auf halber Höhe hin und her waberte, als ich sie hochnahm.

Ich gab den Sirup, der sich in der Flasche befand auf den Löffel und hielt es Theodore hin. Er musterte es kritisch.

„Bist du sicher, dass man das trinken muss?", fragte er Annabeth skeptisch.

„Natürlich bin ich mir sicher", antwortete sie ohne auch nur hochzuschauen, denn sie war gerade dabei, den Verband fest um Theodores Handgelenk zu wickeln. „Denkst du etwa, ich gäbe dir ein Gift zu trinken? Es soll auch gar nicht so übel schmecken. So ähnlich wie Ahornsirup, meinte Mutter einmal. Es hilft dabei, die Wunde zu verheilen und neues Blut in deinem Körper entstehen zu lassen. Ich frage mich, wie das wohl funktionieren mag, aber das wissen wahrscheinlich nicht einmal die gelehrtesten Mediziner, die auf einer Universität ihr Studium abgeschlossen haben."

Sie seufzte theatralisch und befestigte schlussendlich den Verband.

„Komm, Theo. Trink es doch einfach. Du bist wie ein kleines, ungezogenes Kind."

Annabeth schien es zu gefallen ihn zu necken und ihn brachte es zum Lächeln.

Zuerst verzog er den Mund, als er sich den Löffel widerwillig in den Mund schob (wirklich wie ein kleines Kind), aber danach lockerte sich seine Miene wieder.

„Ich hoffe das hilft mir auch wirklich", sagte er und stand auf. „Ich glaube, ich gehe jetzt schlafen. Gute Nacht."

Es schien in diesem Haushalt gang und gäbe zu sein, einfach so zu gehen, ohne einen ersichtlichen Grund dafür zu haben und sich angemessen zu verabschieden.

„Jetzt sind wohl nur noch wir zwei hier, Evelyn."

„Es scheint so...", antwortete ich unbeteiligt.

„Findest du es nicht auch bedenklich, dass er alles so hinzunehmen scheint?", fragte Annabeth mich und begann, alles was sie benutzt hatte, um die Wunde zu versorgen so zusammen zu räumen, dass sie es einfach nehmen konnte.

„Ich denke schon. Ich weiß nicht, ob ich so ruhig sein könnte."

Anna schraubte die Flasche zu, in der das eigenartige Gebräu war, das Theodore hatte trinken müssen und stellte es auf den Tisch, bevor sie mir antwortete.

„Bitte, denke jetzt nicht darüber nach, was du machen würdest. Das würde dich mit der Zeit nur immer wahnsinniger werden lassen und ich kenne niemanden, zu dem wir dich zur psychischen Betreuung schicken könnten. Aber um darauf zurückzukommen, worüber wir eigentlich reden... Cornelia ist immer noch ganz weiß im Gesicht, wenn unser Vater sie zu sich ruft, aber sie kann es gut vertuschen, denn sie hegt immer noch die Hoffnung, dass sie für ihn etwas anderes sein könnte als seine Dienerin. Sie hegt Gefühle für ihn, die es nicht geben dürfte, die Arme, aber unser Vater erteilt ihr keine Abfuhr. Das könnte er nicht, denn er liebt sie auf eine völlig andere Weise, jedoch so, dass er sie nicht verletzen könnte."

„Wie schafft er es, dich so zu lieben?"

Sie zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass wir es niemandem sagen dürfen. Erst recht nicht meinen Eltern. Sie müssen wissen, was Theo für mich empfindet, es ist schließlich fast unvermeidbar, aber sie halten es für einseitig. Sie wissen rein gar nichts."

„Sie können ihn dir nicht mehr wegnehmen, Annabeth."

„Wenn sie es wollen, dann können sie es, glaub mir. Meine Mutter hält sich streng an alle Regeln, die ihr gegeben werden und mein Vater tut wenigstens so. James rebelliert gerne und ich halte mich möglichst zurück, halte michbedeckt. So geht es bei uns seit Jahren zu und es ändert sich nichts. Wenn du eines nicht tun solltest, dann ist es, deine Einstellung zu ändern, denn dann bringst du alle ins Wanken. Ein gut gemeinter Ratschlag für die Zukunft."

Wir redeten nicht mehr lange weiter und gingen auf unsere Zimmer. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass die Sonne schon untergegangen sein musste.

Ich zog die Vorhänge zurück. Der Himmel war bedeckt, aber es schneite nicht. Eher sah es danach aus, als würde der Schnee schon wieder zu schmelzen beginnen. Hier drinnen bekam man nicht mit, wie das Wetter war. Man war gefangen. Es gab keine Möglichkeit hinauszugehen, denn man war gefangen. Ein Gefängnis so luxuriös wie es nur sein konnte, aber ich konnte mir vorstellen, dass die armen Kerle, die in einem richtigen Gefängnis vor sich hin schmorten, weil sie eine Perspektive für die Zukunft hatten. Meine Zukunft war ungewiss, aber vielleicht war das Licht am Horizont doch keine Einbildung. Vielleicht musste ich Theodore weiterhin vertrauen. Wir konnten uns befreien, hatte er gesagt und die Zeit, in der ich beginnen konnte ihm zu verzeihen, was er mir heute zugemutet hatte, sollte schneller kommen, als ich zu anfangs vermutet hatte.


An dieser Stelle will ich mich endlich mal für die fast 50 Votes und über 300 Reads bedanken, die diese Geschichte mittlerweile schon hat. Ich bin echt erstaunt, wie viele noch dabei sind und dass es Leute gibt, die sich von einer Geschichte fesseln lassen, an der ich selber irgendwann mal die Lust verloren habe. Wenn es irgendwas zu kritisieren gibt, würde ich mich übrigens sehr freuen, wenn ihr es anmerken könntet. 
LG

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