Mittwoch, 09.04.1879

Es kam mir so, als läge das letzte Mal, als ich mit James allein in einem Raum gewesen war, eine halbe Ewigkeit zurück. Es hatte sich eine gewisse Gewöhnung daran eingestellt, die ich nun nicht mehr verspürte, als wir alleine in meinem Zimmer standen. Es fühlte sich falsch an, ihn in den Bereich zu lassen, der als einziger noch irgendwie mir gehörte, der letzte Teil meines Lebens, der mir noch rudimentäre Geborgenheit gewährte.

Er musterte mich nicht mit dem üblichen Blick, den ich rückblickend fast schon als liebestoll bezeichnen würde. Er wirkte ernsthafter, nachdenklicher, desillusioniert. Ich hatte ihn enttäuscht, indem ich seine Familie und damit auch ihn vorgeblich hatte verraten wollen. Jeder mit einem Funken Verstand begriff das, aber dieses Wissen half mir nicht, damit umzugehen. Vielmehr rief es Schuldgefühle in mir hervor, die ich nicht hätte haben sollen, weil ich ihn mit einer Lüge erzürnt hatte, welche ich mit wenigen Worten aus der Welt schaffen konnte. Nur ein Satz und der Grund für seine Wut wäre vernichtet.

Aber ich hielt meinen Mund verschlossen, versuchte reumütig, aber nicht eingeschüchtert auszusehen und wartete ab, ob er mir Vorwürfe machen würde. Es gäbe viele Sachen, die er mir sagen könnte und alle hatte ich mir zuvor ins Bewusstsein gerufen und mögliche Szenarien in meinem Kopf durchgespielt. Mich mit Schweigen zu strafen, war keine denkbare Option gewesen. Es wäre nicht James' Art, mich zu ignorieren und nicht zu versuchen, mich wieder auf den rechten Weg zu bringen, damit sein Harmoniebedürfnis gestillt war.

Bitte rede endlich, flehte ich innerlich. Bitte bringe es einfach zu Ende und wir müssen uns beide nicht weiter quälen.

Die Stille hing weiterhin in der Luft, drückte immer schwerer, gemeinsam mit der Reue und dem schlechten Gewissen, die sich in den letzten Tagen langsam herausgebildet hatten und sich beinahe so anfühlten wie Angst. Ich hatte jedoch meine Entscheidung getroffen und ich würde nicht wieder versuchen, den Schaden, den ich angerichtet hatte, rückgängig zu machen. Selbst wenn es mir helfen würde, die Tragweite meines Verrats zu mindern und somit auch meine Strafe zu mildern, würde Annabeth dafür büßen müssen und das konnte ich ihr nicht antun. Das war es nicht wert.

„Lege dein Handgelenk frei." Ganz ohne Worte kam James also doch nicht aus, aber es klang wie die Anweisung, die man einer Dienerin gab, denn mehr war ich nicht mehr in seinen Augen und mehr wollte ich nun auch nicht mehr sein, weswegen ich stumm gehorchte und den Ärmel meiner Bluse nach oben schlug, sodass die verkrusteten Bissstellen zum Vorschein kamen, die nie die Gelegenheit hatten, richtig abzuheilen.

Ich hatte mich mittlerweile an diesen Anblick gewöhnt, an das Jucken, wenn der Heilungsprozess gerade begann, meistens kurz bevor James wieder seine Zähne in mein Fleisch stieß. Und auch wenn die beiden kleinen Wunden schon fast wie ein Teil von mir waren, wurde das Nehmen meines Blutes selbst jedes Mal ein bisschen schlimmer. Der kurze Schmerz blieb im Gedächtnis haften und so winzig er doch war, er kumulierte sich immer weiter auf.

Die Erwartung brachte auch jetzt meine Eingeweide dazu, sich zusammenzuziehen, als könnten sie sich davor schützen, was kommen würde, als wäre es genauso nützlich wie wegzurennen. Und vielleicht kam es wegrennen auch am nächsten, denn dadurch, dass man mich zu bewachen schien wie einen Schwerverbrecher, war diese Option auf der imaginären Liste meiner Möglichkeiten nach ganz unten gerutscht.

Jetzt musste ich es ertragen, musste wirklich stark sein.

Seine Fingerspitzen waren eiskalt auf meiner Haut, wodurch ich trotz des Feuers, das schon den ganzen Tag über wärmend im Kamin prasselte, fröstelte. Ein eisiger Schauer jagte mir über den Rücken und einen Moment lang fragte ich mich, ob es wirklich bloß daran lag, dass seine Hände kalt waren oder ob es andere Gründe dafür gab.

Es blieb allerdings bei diesem einen Moment, in dem ich mir diese Frage stellte, denn schon hatte er seine Zähne über die Ader senkte, die blau und dünn schimmerte. Das war der Augenblick, als es für mich an der Zeit war, meine Augen zu schließen, denn ich hatte schon nach dem ersten Mal nicht mehr gewagt zu sehen, wie er mein Blut trank. Es war besser, wenn ich es ausblendete, aus meiner Realität schob. Nichtsdestotrotz war der Schmerz da und ich musste mich zusammenreißen, um meinen Arm nicht einfach seinem Griff zu entziehen und vor ihm zu flüchten, um so wenigstens einen Aufschub zu erhalten.

Erst als er mich nicht mehr mit seiner eisig kalten Hand berührte, wagte ich es, die Augen wieder zu öffnen. Eine Sekunde lang betrachtete ich die beiden dunkelroten Punkte auf der Innenseite meines Handgelenks. Aus einem von ihnen floss noch etwas Blut und suchte sich seinen Weg an meinem Arm hinab, der Schwerkraft folgend Richtung Boden.

Bevor allerdings ein Tropfen den Teppichboden besudeln konnte, reichte James mir einen Lappen, den ich auf die Wunde presste und der half, den Blutfluss einzudämmen. Außerdem verhinderte er die Sicht auf die Verletzung, worum ich froh war. Ich wollte es nicht ansehen, wenn es so frisch war.

Und genauso wenig wollte ich ihn noch länger sehen als nötig, wenn er ohnehin nichts für mich bereithielt außer weiteren Schmerzen und vorwurfsvollen Blicken.

Doch sein Blick war nicht vorwurfsvoll. Er war eher verwirrt.

„Wieso weinst du?", fragte er.

Wieso ich weinte? Weinte ich denn?

Dann spürte ich die erste Träne, die meine Wange herunterlief. Sie sollte die einzige bleiben, einzeln und einsam, aber sie war genug Beweis dafür, dass ich geweint hatte und James hatte es gesehen. Ich wusste nicht, weswegen mir die Tränen in die Augen stiegen, als ich da vor ihm stand, einen weißen Lappen auf mein Handgelenk gepresst, durch den das rote Blut langsam hindurch kam. Vielleicht geschah es nur, weil ich meine Augen eben zu fest zusammenpresst hatte.

„Ich habe dir eine Frage gestellt." Er wiederholte sie nicht, er forderte nur seine Antwort an.

„Ich weiß es nicht", erwiderte ich ehrlich.

„Du weißt doch, dass du davor keine Angst haben musst", lautete seine Antwort, die er in verschiedenen Varianten schon so oft gesagt hatte. „Es ist doch nur die kleine Wunde und ein wenig Blut. Ich werde dir nichts tun. Wir töten niemanden."

Leere Worte, eine Lüge, dachte ich. Und auch, wenn mein Herz noch schlug, hieß das nicht, dass ich wirklich lebte, bloß, dass ich lebendig war.

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