Mittwoch, 05.03.1879
James und ich standen uns gegenüber, mit etwa einem Schritt Abstand voneinander, der wie ein Abgrund zwischen uns klaffte.
Ich hatte Angst. Es gelang mir nicht, dieses Gefühl zu beschönigen oder etwas Positives darin zu finden. Es war schlichte, blanke Angst, die mir innewohnte, meine Hände zum Schwitzen und mein Herz zum Rasen brachte. Es war so schlimm, dass ich schon die Tränen spürte, die nur darauf warteten hemmungslos zu fließen. Aber ich konnte es mir nicht erlauben zu weinen. Nicht jetzt.
„Nur noch fünf Minuten", sagte James und ein Blick auf die Uhr bestätigte mir, was er gesagt hatte. Es waren noch genau fünf Minuten, bis die Uhr acht Uhr schlug, noch dreihundert Sekunden, bis ich nach unten in den Salon musste, um das Ritual zu vollziehen, dass absurderweise etliche Parallelen zu einer Hochzeitszeremonie aufwies.
Jetzt gab es wirklich kein Zurück mehr für mich. Ich hatte gedacht, ich hätte die absolute Besiegelung meines Schicksals schon vor Tagen hingenommen, aber jetzt wusste ich, dass das nicht stimmte. Ich würde es nie gänzlich akzeptieren können seine Dienerin zu sein - ein Wort das mir an sich schon vollkommen missfiel und nicht im Geringsten beschrieb, was es ausdrücken sollte.
Eine einzelne Träne hatte es doch geschafft mir zu entwischen und lief einsam meine Wange hinab. James bemerkte es sofort, schloss die Lücke zwischen uns mit einem Schritt nach vorne und strich sie mir sanft weg. Seine Hand ließ er dort verweilen.
„Bitte habe keine Angst", sagte er eindringlich und ich wünschte mir ich könnte seinen Worten bedingungslos Glauben schenken. „Denk daran, dass nur ich es bin und kein Fremder. Du weißt doch, dass ich nicht die Absicht habe, dir etwas Böses zuzufügen."
Ich wusste es. Mein Kopf wusste es. Und doch war dieses Wissen für meine Gefühle vollkommen irrelevant. Ich konnte die Angst nicht aus meinem Körper verbannen. Es war unmöglich.
Trotzdem beschloss ich, mich zusammenzunehmen. Vielleicht gelang mir so der Selbstbetrug und ich wäre in der Lage, das Kommende zu ertragen.
Doch bevor ich mich weiter damit befassen konnte, gab James mir eine willkommene Ablenkung. Er nahm meine Hände in seine, zog mich sanft noch näher an ihn heran. Unsere Gesichter waren sich so nah, dass wir uns einfach hätten küssen können, aber das taten wir nicht. Stattdessen lehnten wir aneinander, Stirn an Stirn. Er gab mir die Kraft, die ich ihn diesem Moment brauchte, nahm es mir ab alleine aufrecht stehen zu müssen. Es tat gut die Wärme seiner Haut zu spüren, die für mich in diesem Moment gleichbedeutend mit seiner Menschlichkeit wurde.
Wir erschufen uns für die Zeit, die wir so dastanden eine eigene kleine Welt, in der es keine Sorgen gab, denn da waren nur wir beide, die wir einander vertrauten und uns aufeinander verlassen konnten. Es war eine Welt, in der es ihm nicht darum ging, mein Blut trinken zu wollen, sondern wir waren einfach nur ganz gewöhnliche Liebende, wie die Welt sie schon tausende Male gesehen hatte. Wir waren nicht Romeo und Julia, nicht einmal Elizabeth Bennet und Mr Darcy. Es war eine Beziehung ohne jegliches Drama, die einfach so entstanden war. Und in dieser Einfachheit schwelgten wir und blendeten die Wirklichkeit aus. Zumindest ich tat das.
Dieser Moment war so kostbar, dass ich ihn nicht einmal mit Küssen vergeudete. Es wäre so einfach gewesen, meine Lippen auf seine zu legen und es war für uns mittlerweile fast zur Normalität geworden, es zu tun, wann immer sich die Gelegenheit dazu bot, aber eine Liebesbeziehung bestand nicht nur aus den körperlichen Aspekten, wie ich in den letzten Wochen festgestellt hatte und auch das, was wir miteinander teilten, war mehr als das.
Und so holte ich mich selber zurück in die Realität und diese traf mich so plötzlich, dass ich nicht mehr länger vermochte, meine Tränen zurückzuhalten. Ich schluchzte nicht, bebte nicht einmal, obwohl ich bisher nie in der Lage gewesen war, leise zu weinen. Das hier war das erste Mal in meinem Leben, dass die Tränen einfach nur nach unten flossen und irgendwann auf den Boden tropften, wo die Fasern des Teppichs sie in sich aufsogen.
Ich war mir sicher, dass James sah wie ich weinte, aber ich wollte es vor ihm verbergen, konnte es jetzt nicht ertragen mir diese Blöße vor ihm zu geben. So irrational diese Gedanken auch waren, noch irrationaler war es, dass ich mein Gesicht in seiner Halsbeuge vergrub, damit er meine Tränen nicht sah, die jetzt den Kragen seines Hemdes ruinierten, aber was kümmerte mich das schon?
Ich ließ meinen Tränen freien Lauf, James ließ irgendwann meine Hände los und legte schließlich beide Arme um mich, was mir letztlich dabei half, die Tränen versiegen zu lassen.
Man durfte nicht vergessen, dass uns nur noch fünf Minuten blieben, bloß dreihundert Sekunden, und diese waren schneller vergangen als mir lieb war.
„Komm, wir gehen jetzt herunter", lauteten die Worte, die zum gefühlt hundertsten Mal die Endgültigkeit besiegelten.
James löste sich nicht von mir und wartete darauf, dass ich es tat. Langsam brachte ich immer mehr Abstand zwischen uns, sodass wir uns wieder in die Augen sehen konnten. Erneut wischte James mir eine letzte, einsame Träne aus dem Gesicht. Wie konnte mich diese kleine Berührung nur so sehr beruhigen, zumindest für den Augenblick? Sollte ich jetzt nicht beginnen, mich vor ihm zu fürchten? Aber ich konnte nicht. Das hier war James. Mein James, wie ich es nun zu denken wagte.
Und mein James legte mir jetzt sanft die Hand auf den Rücken und geleitete mich langsam in Richtung meiner Zimmertür.
Den Weg nach unten legten wir schweigend zurück. Mit jedem Schritt wuchs meine Anspannung und mir wurde so schlecht, dass ich kurzzeitig dachte, ich müsste mich gleich übergeben. Nach außen hin gab ich mich stoisch, verzog keine Miene, aber ich vermutete, dass man mir an der Leere meines Blickes ansehen konnte, dass ich innerlich ein Wrack war.
Im Salon erwarteten uns vier Personen. Lord und Lady Hamilton, sowie Annabeth und Theodore. Lord Jonathan war derjenige, der das Ritual leitete, seine Gattin und Annabeth waren von James als seine Zeugen erwählt worden und ich hatte mich für Theodore entschieden.
Dieser sah mich ohne Mitleid an, als ich den Raum betrat, aber ich erwartete auch nicht von ihm, dass er mich bemitleidete, wie ich es mit ihm getan hatte. Es war Verständnis, das in seinem Blick lag und obwohl ich es nicht hatte wahrhaben wollen, war Theodore genau der Richtige, um mein Zeuge zu sein. Wenn es darauf ankäme würde er mich verteidigen und sich für mich einsetzen. Er würde bedingungslos auf meiner Seite stehen, ganz gleich, was wir voneinander hielten. Hierbei kam es nicht darauf an, dass man einen Freund an seiner Seite hatte, sondern eine Person, die einen in dieser einen Sache unterstützte und das würde er tun.
Der geschmackvoll eingerichtete Salon, der allerhöchste Anständigkeit vermittelte, kam mir nicht wie der richtige Ort vor, um eine solche Zeremonie in ihm zu vollführen, wie wir es beabsichtigten. Es war schlichtweg falsch. Wenn überhaupt erwartete ich so etwas in einer Seitengasse im East End, aber sicherlich nicht bei einer sonst kultivierten, adligen Familie. Der Kontrast wirkte stärker auf mich als er es sonst tat. Ich war also wirklich gut darin geworden, zu verdrängen, was hier eigentlich vor sich ging.
Lord Jonathan begann ohne Umschweife und redete mit desinteressierter Stimme, als sei es nur eine leidige Pflicht, der er zu erledigen hatte.
„Wir werden heute die Verbindung von James Hamilton und Evelyn Whiting besiegeln. Es ist ein Band, das nicht gebrochen werden soll. Alle hier Anwesenden kennen ihre Aufgabe, daher erachte ich weitere Ausführungen nicht für notwendig. Ich bitte dich nun, Evelyn, einen deiner Ärmel hochzukrempeln und dein Handgelenk freizulegen."
Das hier war nicht das feierliche Ritual, das ich erwartet hatte. Mir wurde keine Zeit gelassen, um weitere Gedanken an Schmerzen zu verschwenden und ich konzentrierte mich nur darauf, den Ärmel meiner Bluse soweit nach oben zu schieben, dass er nicht mit meinem Blut befleckt werde würde.
Lediglich eine Gänsehaut, die sich über meinen ganzen Körper zog, zeugte davon, dass meine Angst noch immer da war.
Sobald ich getan hatte, wie mir befohlen wurde, kam auch langsam wieder mehr Unruhe auf und ich suchte James Blick. Dieser war aber nur auf mein Handgelenk fixiert, wo man deutlich meine Schlagader erkennen konnte.
Ohne weitere Anweisungen nahm er meinen Arm, seine Finger warm auf meiner Haut, eine gewohnte Berührung. Das ist nur James, redete ich mir ein, aber wo war mein James auf einmal? Hatte ich ihn etwa in meinem Zimmer verloren oder war er mir in dem Moment entronnen, als ich ihm meine Vene offenbart hatte?
Ich konnte es nicht sagen.
Es kamen keine weiteren Instruktionen von Lord Jonathan, also führte James mein Handgelenk zu seinem Mund. Als ich die Zähne auf meiner Haut spürte, wollte ich urplötzlich wegrennen. Ein Instinkt in mir war geweckt worden, der vorher irrwitziger Weise nicht existiert oder sich im hintersten Winkel versteckt hatte. Und gerade jetzt, im entscheidenden Moment, entschied mein Körper sich doch dazu, sich zu wehren. Sei es nur durch Flucht.
Und dann war der Schmerz da. Die spitzen Zähne waren in meine Haut eingedrungen, durch alle Schichten meiner Haut hindurch, bis zum Blut. Es tat weh, mehr als ich es erwartet hatte und ich musste mich zusammenreißen, um es stumm zu ertragen.
Ich fühlte mich zurückversetzt in mein neunjähriges Ich, das damals von einem Hund gebissen wurde, weil ich ihn zu sehr provoziert hatte. Ich war schon immer eher zurückhaltend gewesen, hatte andere nie beeinträchtigt und mich immer richtig verhalten, aber ich war nur ein Kind und Kinder machen Fehler, testen ihre Grenzen aus und versuchen, sich selbst zu finden. An dem Tag, als der Hund mich biss, hatte ich mich nicht gefunden. Oder vielleicht doch, denn seitdem hatte ich selten jemanden herausgefordert, aus Angst, deswegen leiden zu müssen.
Und was tat ich jetzt? Ich handelte so, wie ich es mir selbst immer vorgeschrieben hatte, so wie ich war, so wie ich mich in den letzten acht Jahren entwickelt hatte und doch musste ich jetzt Schmerzen ertragen, erdulden, akzeptieren, aufgrund meines Verhaltens. Was war das für eine verquere Welt, in die ich hier hereingeraten war? Ich erinnerte mich auch zurück an meine kurze, aber prägende Auseinandersetzung mit Lord Jonathan, die letztlich dazu geführt hatte, dass wir Theresas letzte Tage so gut wie möglich gestaltet hatten. Damals, vor nur etwas mehr als einem Monat, hatte ich wieder provoziert - und war dafür belohnt werden. Durfte ich hier überhaupt ich sein, um unbeschadet wieder herauszukommen?
Es waren so viele Gedanken, die in den wenigen Augenblicken, die James von meinem Blut trank, durch meinen Kopf schwirrten, dass ich zuerst gar nicht merkte, dass er seinen Mund wieder von mir gelöst hatte. Auf seinen Lippen sah ich mein Blut schimmern. Nicht irgendwelches Blut. Mein Blut. Mein Leben. Auf den Lippen meines James.
Und anstatt sich die Lippen zu lecken, was er unauffällig hätte tun könne, griff James nach einer Serviette und tupfte sich den Mund ab. War das Dekadenz? Zeugte es davon, dass er anständig war? Ein anständiger, Blut trinkender junger Mann?
Auch ich bekam ein Tuch, keine Serviette, aber immerhin ein Tuch aus weichem Stoff, das ich mir auf die Wunde drücken konnte, die natürlich immer noch blutete. Es war Anna, die es mir gab, die heute eigentlich gar nicht wegen mir hier war. Und doch war sie es, die sofort auf mich achtete.
Es war schnell gewesen. So schnell, dass ich es gar nicht fassen konnte. Es war vorbei, war geschafft. Wenigstens ein allererstes Mal. Wann würde es wieder so weit sein?
Ich war jetzt seine Dienerin. Seine Sklavin, wie ich es besser auszudrücken wusste als die Hamiltons selbst, die wahrscheinlich wirklich an ihre Euphemismen glaubten.
„Komm, Evelyn, ich werde die Wunde versorgen", sagte mir Anna und machte sich daran, den Raum zu verlassen.
Ich warf einen Blick zu James, aber er schien mich kaum wahrzunehmen. Wirkte das Blut wie eine Droge auf ihn? Wie ein Opiat? Bei Anna schien dies aber nicht der Fall zu sein.
Da ich mich nicht an ihn klammern wollte, folgte ich lieber Annabeth, deren Freundschaft ich jetzt mehr denn je gebrauchen konnte.
Ich muss sagen, ich bin absolut nicht zufrieden mit dem Kapitel. Es ist mal wieder viel zu kurz geraten, war teilweise sehr wirr, was Evys Gedankengänge betrifft und und und... Trotzdem hoffe ich, dass man wenigstens erkennt, worauf ich hinauswill und dass jetzt der zweite Abschnitt der Geschichte beginnt.
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