Mittwoch, 04.12.1878
Als ich aus dem Schlaf hochschreckte, fiel mir als erstes auf, dass ich nicht geträumt hatte. Ich fühlte mich entspannter als zuvor und konnte der Sache neu ins Gesicht blicken.
Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren und fragte mich, ob bald wieder jemand an meine Türe klopfen würde und wenn ja, wer. Ich rechnete im Gegensatz zu Florence nicht damit, dass mich jemand zu etwas drängen würde. Sie wollten mein Vertrauen, also ließen sie mich in Ruhe. Wenn ich mich dann beruhigt hatte und bereit war mich mit ihnen in einem Raum auszuhalten würden sie mir alles erklären oder mich direkt umbringen, aber das hätte wenig Stil.
Annabeth hatte nicht viel Stil damit gezeigt, dass sie den Mann einfach mit irgendwelchen anzüglichen Versprechungen zu sich gelockt hatte, aber sie hatte ihren Spaß dabei gehabt. Sie liebte Spiele. So schätzte ich sie ein, so würde sie jeder einschätzen.
Es klopfte wieder. Langsam war ich es Leid ständig gestört zu werden. Ich würde die Tür kein Mal mehr öffnen, egal wie überzeugend Florences Logik war.
„Evelyn?", hörte ich draußen leise James' Stimme. Mir wurde auf einmal übel. Ich erinnerte mich zurück an den Kuss. Er war mir so nahe gewesen und ich hatte es nicht für abartig empfunden, weil ich zu dem Zeitpunkt noch nicht wusste, dass er mit seinen Lippen das Blut von anderen Menschen aufgesogen hatte.
„Würdest du mir die Türe öffnen? Bitte. Ich habe dir nichts angetan."
Er klang aufrichtig und das machte mir ein schlechtes Gewissen, weil ich mich gestern so gut mit ihm verstanden hatte. Aber konnte ich ihm vertrauen?
„Du hast mir noch nichts getan", zischte ich. Es klang nicht böse, denn meine Stimme versagte zum Ende des Satzes hin.
„Es tut mir leid, dass du das mit ansehen musstest. Es war nicht richtig, es war nicht einmal geplant, dass du alles jetzt schon erfährst. Wir wollten warten und sehen ob du es überhaupt verkraftest", er machte ein kurze Pause, „verstehst du?"
„Es ist nicht sehr kompliziert, das zu verstehen", erwiderte ich abschätzig.
Ich könnte schwören, ihn vor meiner Tür seufzen zu hören. Es hörte sich nicht genervt an sondern nur enttäuscht, aber nicht über mich sondern über sich selbst.
„Lasse wenigstens jemanden zu dir herein, der dir essen bringt und dein Zimmer reinigt. Cornelia kann das machen und ich denke du öffnest ihr die Tür. Du hast herausgefunden, wer hier ein Mensch ist und wer nicht. Ich habe von Anfang an gemerkt, dass du uns einschätzen kannst. Das haben wir vorher noch nie gesehen. Ich meine damit, dass noch nie jemand so viel in der Eingewöhnungsphase gesehen hat wie du ohne, dass es absichtlich geschieht. Und jetzt möchte ich bitte zu dir herein kommen, weil ich dir etwas sagen möchte, dass man nicht auf dem offenen Flur bespricht."
Ich zögerte. „Ich weiß nicht..."
„Bitte", flehte er.
Bevor ich auch nur einen anderen Gedanken fassen konnte hatte ich den Schlüssel umgedreht und die Klinke durchgedrückt.
Er stürzte in mein Zimmer und ich musste zurückweichen, damit er mir nicht auf die Füße trat.
„Endlich", sagte er und atmete erleichtert auf.
Er sah kein bisschen gefährlich aus. Er war nicht gefährlich. Noch nicht
„Was willst du, James?"
Ich versuchte, neutral zu klingen, aber es war eine Mischung aus Angst, Verachtung und eine vollkommen deplatzierte Freude darüber, dass er nicht darauf versessen war, mich auf der Stelle um die Ecke zu bringen.
„Es wird von ihnen verlangt, dass wenn du das hier nicht bewältigst, sie dich töten. Es steht so in unseren eigenen Gesetzen. Wir benötigen diese Richtlinien, um in einer Welt in der fast keine von uns leben zu überleben."
„Was seid ihr?", fragte ich, weil dies die erste Frage war, die man sich in dieser Situation stellen sollte und ich wollte so schnell wie möglich Klarheit.
Er zögerte und ein mulmiges Gefühl breitete sich in meiner Magengrube aus.
„Wir wissen es nicht genau", begann James immer noch zögerlich. „Wir sind anders entwickelt und nennen uns auch nicht Menschen. Wir nehmen ihr Blut, um zu überleben; damit wir nicht krank werden müssen wir das Blut von Menschen trinken. Deswegen haben wir auch diese spitzen Eckzähne, die wir weiter ausfahren können." Er verstummte. „Habe ich dir zu viel erzählt?"
Ich schüttelte den Kopf.
„Nein, hast du nicht. Ich wollte es wissen. Unbedingt. Ich..."
Er war immer noch derselbe James, der er vor wenigen Tagen gewesen war. Dessen war ich mir sicher.
„Wenn du das hier überlebst, Evelyn, wirst du ein Teil dieser Familie sein. Ich hoffe du willst das, denn die einzige andere Alternative ist der Tod."
Ich schluckte. Ich hatte mit meinem Tod gerechnet, aber nicht mit der Option, ein Teil seiner Familie zu werden.
„Bin ich dann... ihr? Wenn ich ein Teil der Familie werde."
„Nein", sagte er. „Ganz bestimmt nicht. Sieh dir Cornelia oder Henry an. So wirst du sein."
Er senkte den Blick.
„Gefällt dir, was du bist?", fragte ich.
James zuckte mit den Schultern.
„Es ist Gewohnheit. Wir vertragen keine Sonne." Er schnaubte. „Wir leben genauso wie ihr und vielleicht etwas länger, weil wir euer Blut nehmen. Es gefällt mir nicht anders zu sein als du. Es gefällt keinem, aber wir haben uns ideal damit arrangiert und das ist die Hauptsache. Wir leben eine eigene Kultur mit anderen Bräuchen und zusätzlichen Regeln, denn auch wir müssen das Gesetz achten. Grundsätzlich wenigstens. Du hast gesehen was Annabeth mit Charles Ruston getan hat...."
Ich konnte nichts mehr sagen. Mir fiel nichts mehr ein. Er hatte mich erstaunt.
„Warum liegt dir so viel an mir?", fragte ich dann doch, weil ich wusste, dass er ehrlich war.
„Weil du diejenige bist, deren Blut ich trinken werde. Du wirst mir so unendlich viel bedeuten. Ich habe dich ausgewählt für mich und ich möchte dich nicht verlieren."
Bevor ich etwas machen konnte, strich er mir mit zwei Fingern an der Kehle entlang und ich schauderte.
„Du wirst mein Leben sein."
Tränen stiegen mir in die Augen. Tränen aus Angst. Ich wollte ihn nicht hier bei mir haben.
„Raus!", rief ich. „Verlasse dieses Zimmer, James Hamilton!"
Er schüttelte den Kopf.
„Es ist mein Haus. Ich werde dieses Zimmer nicht verlassen", sagte er und hielt mich fest am Handgelenk. Es tat weh.
Ich versuchte, mich aus seinem Griff zu winden, aber er war zu stark. Ich wollte schreien, aber ich hatte die Tür verschlossen, so dass niemand mir helfen konnte. Und wer würde mir überhaupt helfen wollen? Sie waren alle für ihn, alle für meinen Tod.
Ich wollte mich ihm nicht beugen. Ich konnte es nicht zulassen.
„Lasst mich nach Hause!", forderte ich.
„Das geht nicht", sagte James ruhig und verständnisvoll, aber der Druck um mein Handgelenk wurde immer stärker. „Es wäre ein Risiko, dich mit diesem Wissen fort zu lassen."
„Du hättest mir nicht noch mehr erzählen müssen!"
Ich spuckte auf sein weißes Hemd und er hatte keine Skrupel, leise zu fluchen.
Ich wollte ihn auf übelste beleidigen, aber ich hielt mich zurück. Ich hatte noch nie in Beisein einer anderen Person schlimme Dinge gesagt und so sollte es auch bleiben.
Nachdem James realisiert hatte, dass ich ihn angespuckt hatte, ließ er mich los, drehte den Schlüssel um und öffnete die Tür. Während er schon dabei war das Hemd aufzuknöpfen drehte er sich noch einmal um.
„Irgendwann wirst du es auch wollen", sagte er. „Irgendwann wirst du mich anbeten und zu mir aufschauen, als wäre ich ein Gott."
Dann ging er endgültig und ich machte die Türe zu. Ich schloss sie nicht mehr ab. Es würde niemand einfach so eintreten. Das schickte sich nicht.
Ich würde James nie anbeten wie einen Gott. Er war nicht göttlich, er war... Ich konnte ihn nicht genau beschreiben. Er war freundlich zu mir gewesen. Hauptsächlich. Vielleicht lag ihm etwas an mir, vielleicht war ich ihm einfach nur egal.
Wer war James Hamilton wirklich?
Sollte ich das je erfahren?
Was geschah nun mit mir?
Wer klopfte wohl als Nächstes an meine Tür?
Niemand störte mich mehr. Die meiste Zeit saß ich nur stumm da und versuchte alles um mich herum auszublenden. Ich setzte den Fokus auf mein Inneres und versuchte, mich zu ordnen.
Ich versuchte schöne Erinnerungen an die Oberfläche zu holen, die ich hier verdrängte. Es waren Feste, Tage, die ich mit meiner Familie oder Freunden verbrachte.
Ich zweifelte daran, dass so etwas noch einmal in meinem Leben vorkommen würde. Ich war dem Tode geweiht, aber ich traute mich noch nicht so richtig ihm ins Gesicht zu blicken. Ich war immer noch in einem Zwiespalt zwischen Zweifel und Vertrauen gefangen.
Der Tag musste sich schon dem Ende zuneigen, als ich mich schließlich dazu entschloss, mein Zimmer zu verlassen.
Ich trat ohne einen Gedanken an die Gefahr zu verschwenden auf den Flur und sah mich schnell um, wie vorgestern, als ich in das Arbeitszimmer des Lords eingebrochen war.
Es war niemand da. Vielleicht saßen sie auch gerade alle beim Essen.
Ich wusste nicht wohin ich wollte, aber es trieb mich doch zur großen Eingangstür. Vielleicht war sie in der Nacht nicht verschlossen, denn es war logisch, dass zu dieser Zeit alle ein und aus gingen.
Ich sah mich ein weiteres Mal vorsichtig um und ein Schauer lief mir über den Rücken, denn nur wenige Lampen brannten und das Licht war dementsprechend spärlich.
Ich bemühte mich wieder leise zu gehen. Ich trug immer noch den Morgenmantel. Je mehr ich mich der Tür näherte, desto kühler wurde die Luft um mich und ich begann leicht zu frösteln. Der Winter hatte endgültig Einzug gehalten.
Ich drückte ebenso leise, wie ich gegangen war die Klinke hinunter, aber ich konnte sie nicht ganz durchdrücken. Die Tür war wieder verschlossen.
Das war wie ein Schlag in die Magengrube für mich. Was sollte ich jetzt machen? Die einzige Fluchtmöglichkeit war mir versagt.
Ich spürte, wie ich anfing zu weinen. Schon wieder weinte ich. Ich lehnte meine Stirn gegen das kühle Holz und es beruhigte mich ein wenig. Ich empfand das Bedürfnis mit meinen Fäusten auf die Tür einzuhämmern bis sie aufsprang, aber das käme einem Selbstmord gleich. Es wäre sinnlos und man konnte es überall hören.
Alle Ordnung, die ich in den letzten Stunden irgendwie in meinen Kopf gebracht hatte war zunichte gemacht worden durch einen einzigen winzigen Moment.
Ich stand einfach nur da, unfähig und unwillig, mich von der Stelle zu bewegen. Erst eine niedergeschlagene Stimme löste mich aus meiner Trance.
„Sie ist verschlossen, wann sehen Sie es ein?"
Es war Theodore, der dort auf der Treppe stand, groß und gut aussehend, fein gekleidet, gesund wirkend, selbstbewusst, aber doch sehr niedergeschlagen.
Ich antwortete ihm nicht. Ich wollte nicht schwach wirken. Ich hasste ihn so sehr dafür, wie er mich behandelte. Konnte er mich nicht einfach in Ruhe lassen?
„Sie wissen nichts, Evelyn. Sie sind wie ein Kleinkind... aber Sie können laufen und sprechen lernen."
Ich schluckte. Was bedeutete das? Dass ich zu Lord Hamilton gehen sollte, um zu sagen, dass ich mit allem, was sie mit mir taten einverstanden war?
Ich sah Theodore in die Augen.
„Was wollen Sie von mir? Sprechen Sie nicht weiter in Rätseln."
Er schüttelte leicht den Kopf. „Das tue ich nicht. Nicht immer. Sie müssen sich langsam dafür entscheiden, wem Sie vertrauen."
Dann drehte er sich um und ging einfach.
Wie gerne ich doch hinter ihm hergelaufen wäre, aber ich tat es nicht. Ich würde erst auf jemanden eingehen, wenn ich die ganze Wahrheit kannte und das ging nur indem ich mich diesen menschlich wirkenden Dämonen stellte.
Ich wusste nicht, wo sie gerade waren. Ich hatte von nichts eine Ahnung. Ich war wirklich das kleine Kind, für das Theodore mich hielt.
Ich war nicht für hier geschaffen, aber wer hatte veranlasst, dass ich hierherkam? James?
Vielleicht war es auch einfach nur das Richtige mich direkt in die Höhle des Löwen zu begeben. Ich wusste wo das Arbeitszimmer des Lords lag und ich fühlte mich dort sicher. Ich wusste immer noch genau, wo sich was im Raum befand und so sollte ich keine Schwierigkeiten damit haben zu fliehen, falls es nötig wurde.
Ich musste mich nur genügend zusammenraffen. Ich lief schon wieder frei durch dieses Haus, weil es schon seit längerer Zeit mein Gefängnis war und ich immer noch lebte. Ich verdrängte, was ich fühlte, was meine Instinkte mir sagten. Ich musste das tun, was mein Verstand mir sagte, was taktisch klug war oder sich einfach nur richtig anfühlte, aber auf meine wirklichen Instinkte hörte ich nie. Jeder andere würde sich irgendetwas einfallen lassen, aber ich hatte nicht einmal Angst mit ihnen zu reden. Sie hatten jetzt schon jemand anderen aus mir gemacht, jemand der mehr zu ihnen passte und den sie eines Tages töten konnten, ohne dass er es bemerkte, weil er einfach so auf sie fixiert war. Es war ein Trauerspiel.
Ich begann, mir einen Dialog mit Lord Hamilton zurechtzulegen, aber ich kannte keine Antworten. Ich versuchte mir jede erdenkliche Situation vor Augen zu führen aber immer hatte ich das Gefühl ich hatte etwas vergessen und ich gab meine sorgfältige Vorbereitung auf.
Ich beeilte mich nicht damit zu meinem Ziel zu gelangen. Ich zögerte vor jedem Schritt und wollte nicht dorthin, aber ich überwand mich auch jedes Mal.
Als ich klopfte bekam ich erst mal keine Antwort, was mich verunsicherte. Es war natürlich möglich, dass er nicht da war. Das Haus war groß genug.
Ich wollte gerade wieder gehen, als die Tür geöffnet wurde und Annabeth wütend heraus gerauscht kam. Sie würdigte mich keines Blickes. Ihre Frisur wippte beim Gehen leicht auf und ab, als sie um die Ecke verschwand, den Rock leicht gerafft.
Am Schreibtisch saß Jonathan Hamilton und sah müde aus. Als ob er viel zu lange gearbeitet hätte. Er machte eine kleine Handbewegung, die mich dazu auffordern sollte zu ihm zu kommen.
Ich zögerte. Ich war mir plötzlich nicht mehr sicher, ob ich das hier wirklich wollte. Andererseits wollte ich den Lord auch nicht verärgern. Ich trat also vorsichtig in den Raum und schloss die Tür hinter mir. Ich ging vor bis zu seinem Schreibtisch und blieb davor stehen.
Ich hielt den Blick leicht gesenkt, aber versuchte doch ihn anzusehen.
„Meine Tochter hat einen Fehler gemacht", begann er.
Das wusste ich schließlich schon, aber ich nickte zur Bestätigung.
„Sie sollten es nicht erfahren. Noch nicht", fuhr er fort. „Wir geben uns so viel Mühe, alles ideal zu gestalten, sodass es Ihnen nicht auffallen sollte. Aber auch schon da haben sich Fehler eingeschlichen, die uns fast das ganze Vorhaben gekostet haben, sie langsam mit der Sache vertraut zu machen, aber das können wir nun alles wieder vergessen."
„Warum?", fragte ich und ließ ihm so Spielraum in seiner Antwort.
Lord Jonathan seufzte.
„Weil wir es brauchen. Deswegen. Sie haben noch nicht die geringste Ahnung davon, was sie erwartet, aber ich kann Ihnen sagen, dass es nicht der Tod ist, der Ihnen auflauert. Charles Ruston haben wir aus dem Weg geräumt und ihn gleichzeitig für uns genutzt, weil er gestört hat. Er hat viele Diebstähle unterstützt und überall sein Unwesen getrieben. Wir haben mit seinem Tod allen geholfen, aber wir wissen auch, dass Töten nicht immer richtig ist."
„Ich möchte, Mylord, Ihre Erzählungen nur ungern unterbrechen, aber ich verstehe wirklich rein gar nichts. Mir wird alles nur bruchstückhaft vor Augen geführt und ich – ich fürchte mich immer noch."
Meine Stimme klang honigsüß und leicht kindlich-unschuldig. Perfekt.
„Ich kann es sehr gut nachvollziehen, aber ich weiß nicht, wo ich beginnen sollte. Verstehen Sie? Sie wissen einiges aber es gibt Lücken, die gefüllt werden müssen und ich habe nicht die geringste Ahnung, wo wir beginnen sollten."
„Wie wäre es mit dem Anfang", schlug ich vor. „Alles hat einen Anfang. Die Menschheit auch und da Ihre Art nicht so sehr von uns abweicht muss es einen Anfang geben."
Der Lord seufzte und lehnte sich weiter zurück.
„Es gibt eine Geschichte, aber es steckt wohl kaum ein Funke Wahrheit in ihr. Vielleicht sollten wir trotzdem damit beginnen." Er hielt kurz inne. „Heute Abend, wäre wohl ein angebrachter Zeitpunkt dafür, wenn es Ihnen Recht ist, so früh wieder mit uns zusammenzusitzen."
Was blieb mir auch für eine Wahl?
„Nein", sagte ich, „nein, es macht mir absolut nichts aus."
Ich konnte mir selbst nichts vormachen, aber vielleicht ihnen.
„Ich hoffe sehr für Sie, dass Sie ehrlich zu mir sind, Miss Whiting. Sie müssen nicht verängstigt sein, aber ich weiß nicht, wie ich Ihnen das begreiflich machen soll."
Sie konnten es mir nicht begreiflich machen, aber sie konnten es versuchen.
„Zeigen Sie mir, dass Menschlichkeit in Ihnen steckt und dass Sie sich nicht ausschließlich von Instinkten und Trieben leiten lassen, die Sie nicht unterdrücken wollen."
Hatte ich zu viel gesagt? Ich versuchte die Miene von Lord Jonathan zu deuten. Aber anscheinend ließ er meine Forderung unkommentiert und fuhr fort, denn das, was er sagte war keine direkte Antwort, auf das, was ich gesagt hatte.
„Wir alle sollten unser Leben als etwas Endliches wahrnehmen und uns nicht vormachen, dass wir ewig leben könnten. Manche streben dieses Ziel an, aber würden Sie ewig leben wollen, während alle um Sie herum alt werden und sterben? Wohl kaum. Das ist etwas, was uns verbindet."
Ich sagte nichts dazu. Ich fand es überflüssig weiter mit ihm zu reden.
Als er auch nichts weiter erwiderte, ging ich einfach. Auch das blieb unkommentiert und ich fragte mich, ob es an mir lag, dass er nun auf einmal so schweigsam war.
Ohne weiter nachzudenken fand ich den Weg in mein Zimmer. Zuerst wirkte alles so, als wären niemand hier gewesen, aber beim zweiten Blick fiel mir auf, dass das Bett gemacht war und sich ein wohliger Geruch von Essen ausbreitete, denn dort stand, verdeckt unter einer Haube damit es sich nicht abkühlte, ein Teller mit einem warmen Gericht.
Sollte ich nun beunruhigt sein, weil mein Zimmer nach etwa zwanzig Minuten Abwesenheit so aussah und sich wieder jemand einfach so Zutritt verschafft hatte? Oder sollte ich doch dankbar sein für die Diskretion des Personals?
Bevor ich auch nur sah, was es zu essen gab, wagte ich einen Blick in mein Badezimmer. Es roch nach etwas leicht säuerlichem, aber überwiegend süßem Geruch und der Boden war blitzblank gewischt. Keine Spur meines Erbrochenen mehr.
Ich versuchte nicht, mir vorzustellen wie sehr sie mir hinterher spioniert haben mussten, um zu wissen, wann ich mein Zimmer verließ, aber ich konnte es nicht vermeiden mich zu fragen, was sie noch alles beobachtet hatten. Ich fühlte mich noch nicht einmal so, als wäre ich unter Beobachtung. Sie waren einfach viel zu unauffällig.
Andererseits schienen sie noch nichts von dem Tagebuch bemerkt zu haben.
Das brachte mich auf die Idee, wieder darin zu lesen. Es konnte mich vielleicht ablenken.
Gerade als es ich nach dem Herausholen aufschlug, fiel mir ein, dass Grace eine von ihnen war. Sie war Lord Jonathans Schwester. Mir wurde mulmig. Hatte Florence mich damit vorwarnen wollen auf eine diskrete Art und Weise? Wohl eher nicht. Sie hatte es vielleicht auch als Lektüre gedacht, die mir half alles besser zu verarbeiten. Möglicherweise passte alles was ich las genau zu der entsprechenden Situation in meinem Alltag.
Endlich geht es mir wieder besser. Mein Körper gewöhnt sich langsam an den neuen Lebensstil und die Entzugserscheinungen sind weniger geworden. Ich fühle mich befreit, sehe und spüre wie das Kind in mir wächst und führe ein unbeschwertes Leben.
Alle Schatten, die sich über mich legten, sind verschwunden und hinterließen strahlendes Sonnenlicht. So lässt sich wohl am ehesten beschreiben, wie ich mich fühle.
Dies ist das erste Mal seit fast einem Monat, dass ich mir wieder die Zeit nehme zu schreiben. Ich war beschäftigt mit so vielen Dingen und so glücklich darüber, dass es mir nach und nach immer und immer besser ging. Auch mein Ehemann ist wie ausgewechselt. Ich spüre endlich wieder die Verbindung zwischen uns und er beginnt mich zu verstehen, weil er sieht, dass mein Vorhaben kein fruchtloses Unterfangen ist.
Aber ich will nicht nur von der puren Freude schwärmen, die mich durchströmt und mein Denken beeinflusst, sondern auch von dem, was Tatsache ist und nicht von meinen überschwänglichen Emotionen durchsetzt ist: Ich habe mich seit dem Besuch meines Bruders mit seiner Verlobten Elizabeth nicht mehr aus dem Haus getraut, aus Angst ich könnte erkranken.
Diese Gefahr ist so allgegenwärtig, dass sie schon alltäglich geworden ist. Sollte ich mich nicht davor fürchten wie sich auch mein Charakter immer mehr verändert? Zwar nur in kleinen Nuancen, aber für jemanden, der mich gut kennt dennoch deutlich spürbar?
An dieser Stelle endete der Eintrag.
Ich gab es auf, weiterzulesen. Wieder einmal musste ich kapitulieren. Ich verstand kaum den Sinn, der Wörter, die dort standen. Es ergab für mich einfach keinen Sinn.
Außerdem rückte der Abend immer näher und es bereitete mir ein großes Gefühl von Angst. Ich wollte gar nicht mit ihnen beisammensitzen, wo sie mich doch in jeder Sekunde töten konnten.
Ich wollte nicht nur eine Option zur Auswahl haben.
Ich wagte den Blick auf die Uhr und musste feststellen, dass ich nur noch etwa eine Stunde Zeit hatte, um alles genau zu überdenken. Die Zeit war viel zu schnell vergangen, obwohl ich die meiste Zeit dieses Tages mit stummem dasitzen verbracht hatte.
Im Badezimmer machte ich mich frisch und bürstete mindestens zehn Minuten meine Haare, bis sie begannen seidig zu glänzen und einigermaßen passabel aussahen.
Mein Gesicht wirkte eingefallen, ich hatte dunkle ringe unter meinen Augen und meine Haut sah mehr als ungesund blass aus. Da ich bestimmt nicht erfreut gucken konnte, wollte ich wenigstens distanziert und unantastbar wirken. Ich übte meinen Blick im Spiegel, aber immer wieder gab ich die Fassade auf, weil ich mir selbst nichts vormachen konnte.
Je länger ich mich betrachtete, desto erbärmlicher wirkte ich. Irgendwann hatte ich mich selbst satt und begann dunkle Schatten und dergleichen so gut wie möglich mit Puder zu kaschieren. Ich zögerte, ob ich zu Rouge greifen sollte, weil es nicht meine Absicht war, vollkommen in Ordnung auszusehen. Sie mussten schon bemerken, dass mich das ziemlich mitnahm.
Trotzdem entschied ich mich für leicht rosa Rouge, aber es war kaum auffällig und zauberte nur ein wenig Leben in mein Gesicht.
Ich entschied mich für ein unauffälliges Kleid und war froh, dass man innerhalb weniger Stunden nicht viel abnehmen konnte.
Annabeth blieb auf Abstand. Sie vermied sogar Blickkontakt zu mir und war still. Auch Lady Elizabeth war an diesem Abend keine Freundin großer Worte, aber ich merkte, dass sie sich ihrer Tochter gegenüber solidarisch verhielt.
James schien derjenige zu sein, der die Geschichte erzählte und ich merkte wie es ihm unter den Nägeln brannte, endlich anzufangen.
Wir setzten uns in das Zimmer, in dem ich zuerst gewesen war. Es war auf einmal beängstigend klein und ich musste mich erneut zusammenreißen.
Steif nahm ich auf einem der Sofas Platz. Ich ließ meinen Blick durch den Raum streifen, um nicht eingeschüchtert zu wirken und sie nicht ansehen zu müssen.
Mir gegenüber setzten sich Lord Jonathan und James. Annabeth und ihre Mutter blieben stehen.
„Annie, würde es dir etwas ausmachen nicht dabei zu sein?", fragte Jonathan Hamilton seine Tochter, die ihn entsetzt ansah, aber dann zu mir sah und sich schließlich umdrehte und ging. Ihre Mutter folgte ihr wie selbstverständlich, wie ein Schatten.
Nun war ich alleine mit zwei von diesen Monstern, die mir etwas erklären wollten.
Als niemand etwas zu sagen schien, meldete ich mich zu Wort. Sie wollten ehrlich sein, also glich ich mich ihnen an.
„Bin ich eine Sklavin?", fragte ich.
Eigentlich war mir die Antwort schon vorher klar und spätestens, als James tief seufzte und sich die Haare zurückstrich, was seinen verzweifelten und gequälten Gesichtsausdruck noch unterstrich, wusste ich, welches Schicksal mir unumgänglich drohte.
„Evelyn, wir werden dich eine Dienerin nennen. Die Diener sind längst keine Sklaven mehr", sagte James mit überraschend ruhiger Stimme. „Sie sind ein Teil der Familie mit der sie leben und werden auch als solches behandelt, da sie unser Überleben sichern. Du wirst mein Leben sichern, Evelyn, und du sollst nicht meine Sklavin sein."
„Wann wird es sein?", fragte ich. Er wusste sofort, was gemeint war.
„Nicht allzu bald", beruhigte er mich, aber ich sah den fragenden Blick, den er seinem Vater nun zuwarf und nicht verbergen konnte.
Ich versuchte, mich nicht aufzuregen, aber meine Brust schnürte sich zusammen.
„Wann darf ich meine Familie wiedersehen?", fragte ich. Das war die einzige Frage, über die ich mir noch keine Gedanken gemacht hatte. Eine heikle Frage.
„Manchmal", sagte er, aber es klang ungewiss.
„Was heißt manchmal?", hakte ich deshalb nach.
„Wenn es nötig ist", antwortete James' Vater gnädiger weise. „Das Problem wird nach einiger Zeit natürlich sein, dass man sich fragt wo du bleibst, was du machst und ob du heiraten wirst."
Das stimmte. Was konnte ich meiner Familie erzählen, was würden sie mir glauben?
„Was soll ich tun?", fragte ich. „Soll ich James heiraten? Soll ich angeblich einen Unfall haben oder im Ausland spurlos verschwinden?"
„Es gibt mehrere Wege", meinte James. „Eine Heirat wäre ein Weg – ein sehr guter sogar – aber ich habe irgendwann vor, richtig zu heiraten und eine solche Scheinehe stünde mir im Weg."
Ich atmete kurz erleichtert durch, bis mir einfiel, dass dies die einfachste Option gewesen wäre und mir graute es vor den anderen Möglichkeiten, einen Grund zu finden bei den Hamiltons zu bleiben.
„James, wir sollten wirklich nichts übereilen", warf Lord Jonathan in den Raum. „Wir haben noch mehr als genug Zeit und noch ist nichts entschieden. Wir wollten sie noch zwei Monate austesten. Wir wollten erkennen, wo ihre Grenzen liegen und ob sie wirklich deine richtige Auswahl war."
Seine Auswahl? Er redete über mich, als wäre ich nicht im Raum. Ich wollte entrüstet protestieren, aber da führte James die Unterhaltung zwischen ihm und seinem Vater fort und ich entschloss mich, jedem ihrer Worte gespannt zu lauschen.
„Sie ist die richtige Wahl und sie braucht nicht länger zu beweisen, dass sie es ist. Wie viele Jahre musste Anna warten, dass du ihr zugestimmt hast? Die Antwort ist zu lange, Vater."
Der Lord seufzte. „Es ist nicht zu einfach. Die Entscheidung liegt im Grunde bei Evelyn, aber ihr wurde die Entscheidung dadurch genommen, dass deine Schwester unvorsichtig war und einen Regelverstoß begangen hat. Ich würde sie gerne dafür bestrafen, aber wir dürfen kein Gerücht in die Welt kommen lassen, das uns schadet."
„Es würde uns nicht schaden", widersprach James. „Annabeth hat schließlich alles, was sie wollte. Sie wollte einen Diener haben und zwar vor mir, weil sie schließlich die Ältere ist. Du hast ihr nach Jahren endlich zugestimmt, dass Theo der Richtige für sie ist, obwohl er die ganze Zeit alles wusste. Er war nämlich schlau und hat Forschungen angestellt, wie es die meisten Menschen tun."
Von einer Sekunde auf die andere wurde Lord Hamiltons Gesicht eisig. Seine Augen verengten sich.
„Du kannst es nicht wagen, mich so in Frage zu stellen, Sohn!", blaffte er ihn an. „Theodore war ein neugieriges Kind, als er hierherkam. Nun ist er erwachsen und würde nie auf die Idee kommen sich in die Zimmer zu schleichen, weil ihm etwas merkwürdig erscheint."
„Nun, ich habe mich auf mein Bauchgefühl verlassen und sie klang perfekt und als ich sie zum ersten Mal sah, die Art wie sie sich verhielt überzeugte mich, wusste ich, dass sie die Richtige ist."
„Bauchgefühl ist nicht immer das, was nötig ist, James", sagte Lord Jonathan und stand auf. Er nickte mir kurz zu und verließ das Zimmer.
Ich sah ihm flüchtig hinterher, bis ich mich James zuwandte.
„Wie habe ich mich verhalten?", fragte ich. „Was hat dich von mir überzeugt?"
„Kennst du den Moment in dem du einen Menschen siehst und weißt, dass du ihn mögen wirst?", fragte er. „So war es bei dir. Ich fühlte, dass du die warst, die mir den Rest meines Lebens sichern würdest. Es war vom ersten Moment an klar."
„Für mich nicht", erwiderte ich und mied Augenkontakt.
Er schwieg mich an.
„Es geht nicht um mich, oder?", sagte ich bitter.
Er nickte, aber schwieg weiter.
„Wer bist du, James? Ich kann dich nicht genau erkennen. Du machst so vieles, was sich widerspricht. Mal mag ich dich wirklich, wie an dem Tag, am dem Annabeth nicht da war und dann hast du mir gesagt ich würde dich irgendwann vergöttern. Das ist abartig."
„Es wird so sein", sagte er laut. „Es wird garantiert so sein. Ich weiß, wovon ich rede und du kannst nicht dagegen ankämpfen. Du wirst es noch merken."
„Aber was ist, wenn ich einen anderen Weg wähle?", fragte ich vorsichtig.
Er sah mir direkt in die Augen und zum ersten Mal erschein es mir, als könnte ich ihm in die Seele blicken, als könnte ich eine Persönlichkeit erkennen. Leider verschwand dieser Moment viel zu schnell wieder und er war wieder unnahbar.
„Es bleibt kein anderer Weg, Evelyn", sagte er. „Ich kann es dir noch öfter sagen, aber die Antwort wird sich nie ändern."
Ich straffte die Schultern. Jetzt suchte ich vorsichtig Blickkontakt.
„Es gibt immer einen anderen Weg", erklärte ich ihm mit voller Überzeugung in der Stimme. „Und diesen Weg könnt ihr mir nicht nehmen."
Ich wusste in diesem Moment selbst nicht, was ich meinte, aber irgendetwas würde mir schon einfallen. Ich musste es nur vorsichtig genug formulieren.
Vollkommen unvermittelt stand James auf und setzte sich neben mich. Ich sah ihn nur verwirrt an, aber ließ es kommentarlos im Raum stehen.
Da fiel mir auf einmal eine Option ein, die ich wählen könnte. Ich musste ihn schocken.
„Der andere Weg, den ich meine, ist der Tod", sagte ich.
James zuckte mit den Schultern. „Mir soll es gleich sein."
„Wirklich? Dir ist es egal?"
Er nickte, aber ich nahm es ihm nicht ab.
„Warum hast du mich geküsst, wenn es dir egal ist?", fragte ich provokant. „Ich bin mir sicher, dass du es nicht getan hättest, wenn ich dir nicht nur ein kleines bisschen wichtig wäre, aus welchen Gründen auch immer. Du wolltest, dass ich mich mit dir beschäftige und dass ich mit dir rede. Das habe ich getan und nun musst du mir zeigen, was du willst. Andernfalls hast du verloren. Du hast dann nämlich mich verloren."
„Dann hätte mein Vater recht gehabt. Für mich wäre es kein Verlust, weil ich in dem Moment, in dem ich von deinem Tod erführe, wüsste, dass du... die falsche Wahl warst."
Mir fiel der Moment auf, in dem er zögerte. Hatte er zuerst sagen wollen, dass ich nicht die richtige Wahl wäre und sich dann anders entschieden, weil die falsche Wahl viel härter und auch viel realistischer klang? Gab es nur eine perfekte ‚Dienerin'?
Und wenn ich diese perfekte Dienerin für James war musste ich es noch herausfinden und das am besten ohne, dass er vorher von meinem Blut nahm. Aber wozu sollte ich selber herausfinden? Lag es wirklich an mir, sich die Mühe zu geben und ins kalte Wasser zu springen?
„Zeige mir, dass ich es bin, die du gesucht hast", entschied ich mich schließlich zu sagen. „Du sollst mir zeigen, warum du meinst, dass ich diejenige bin, die ein Leben voller Entbehrungen führen soll, um neben dir und deiner Familie zu stehen, überragt von euren Schatten."
James seufzte und ließ sich gegen die Rückenlehne sinken. „Wenn du ihnen zeigst, dass du dir Mühe gibst, dann werde ich dir auch zeigen können, warum ich dich auswählte und nicht eine deiner Freundinnen oder deine Schwester oder irgendeine Hure, die in der Gosse lebt."
„Meinst du damit, dass ich ihnen, mit denen du wahrscheinlich deine Eltern meinst, zeigen soll, dass ich einen gesunden und ausgeprägten Lebenswillen habe oder soll ich heucheln, dass ich dich mag und immer noch gerne hier bin, weil sich ja augenscheinlich nichts geändert hat?", fragte ich mit einem bösen, zischenden Ton in der Stimme und ich sah einen kurzen Schrecken in James Gesicht. Hatte er gedacht ich wäre naiv und mädchenhaft und nicht in der Lage mich zu verteidigen oder meine eigene Meinung zu vertreten? Ich konnte die Angst, die ich verspürt hatte, als ich Annabeth dabei zugesehen hatte, wie sie einem Mann das Blut aussaugte, bis er tot zusammenbrach, nicht leugnen, aber ich wusste jetzt, dass sie mich noch nicht töten wollten. Warum sollte ich also weiterhin das verängstigte Mädchen sein, das vielleicht nur so tat, als wäre sie mutig?
Ich empfand wirklich keine Angst mehr vor diesen Menschen, was auch immer sie sein mochten, und egal wie tief ich in mich ging, ich fand keine Furcht oder Verunsicherung. Seit James und ich vor wenigen Sekunden diesen kleinen Handel abgeschlossen hatten, wusste ich mit hundertprozentiger Sicherheit, dass mir nichts zustoßen konnte. James war jemand, der seine Versprechen hielt und der immer möglichst gut wegkommen wollte. Das waren die einzigen sicheren Charakterzüge, die ich in den letzten Wochen von ihm festhalten konnte.
„Warum siehst du mich mit so feindlichen Augen?", war James Antwort, eine Gegenfrage, und er sah so betrübt darüber aus, dass ich ihn als Feind betrachtete.
Irgendwie tat er mir Leid. Er könnte beinahe mein Bruder sein, wie er da so saß. Wir hatten beinahe die gleiche Haarfarbe und meine Haut war mittlerweile genauso bleich wie seine. Ich könnet wirklich eine gute Hamilton sein, wurde mir in dem Moment bewusst. Ich hatte blonde Haare, war blass und auch meine Gesichtszüge wichen nicht zu extrem von ihren ab. Natürlich war ich nicht von so umwerfender Schönheit wie Annabeth mit ihrem wirklich goldblonden Haar, dem hübschen Gesicht mit den strahlenden Augen, deren Farbe etwas zwischen grün und blau hatten und der selbstbewussten, strammen, aber trotzdem eleganten Körperhaltung, aber ich konnte lernen diese Haltung zu gewinnen und ich konnte lernen etwas Besonderes in meinen Ausdruck zu bringen, um ihnen ebenbürtig zu werden. Vielleicht konnte ich wirklich eine Hamilton werden. Vielleicht hatte James wirklich die Richtige gewählt.
Nun musste ich ihm antworten. Ich konnte es nicht einfach nicht tun. Ich fragte mich wirklich, weshalb ich ihn als Feind sah. Ich behandelte ihn nicht annähernd so schlecht, wie ich mit ihm redete. Ich brachte meine ganze Wut, die aus der Angst entsprungen war, in meinen Worten unter.
„Wie könnte ich dich auf andere Weise betrachten? Ich habe gesehen zu was deine Schwester in der Lage ist und dir traue ich das gleiche zu. Du hast mir zwar gesagt, dass sie hinterhältig ist, aber ich habe es noch nicht am eigenen Leib erfahren."
„Vor meinem Vater habe ich es nicht erwähnt, aber du solltest wissen, dass Anna wollte, dass du sie dabei beobachtest, wie sie diesen Kerl ausgesaugt hat. Was hat sie dir erzählt, wo sie ihn kennengelernt hat?"
Ich musste nicht lange in mich gehen, um zu antworten, schließlich hatte Annabeth mir es in aller Ausführlichkeit erzählt, mit einem schwärmerischen Ton in der Stimme.
„In der Oper", antwortete ich also, obwohl ich wusste, dass es nicht so war. Sie musste ihn sogar kennengelernt habe, bevor ich hierherkam.
James schüttelte den Kopf. „Das hat sie dir wirklich erzählt?"
„Ja", sagte ich vielleicht eine Spur zu laut. „Sie hat gemeint, dass er hier in der Nähe lebt und dass sie ihn schon vorher gesehen hat, aber zum ersten Mal richtig mit ihm geredet hat sie in einer Pause zwischen den Akten."
„Nun", James strich sich die Haare aus dem Gesicht, „sie hat dich nicht angelogen." Er sah ein wenig enttäuscht darüber aus, dass er nicht beweisen konnte wie tückisch seine Schwester war, aber weil ich trotzdem noch mein Versprechen an Anna halten wollte, nichts von der Kette zu erzählen, egal ob sie nun im Zimmer ihres Vaters lag, sollte er weiter denken, dass sie für mich ein Unschuldslamm darstellte.
„Es gab auch keinen Grund für sie, mir die Unwahrheit zu sagen, wenn sie wirklich wollte, dass ich es mit ansehe, aber ein ungeklärtes Rätsel bleibt wohl, weshalb ich genau zu der Zeit in der Nacht erwachte oder willst du mir nun auch noch weismachen, dass ihr Zauberkräfte besitzt?", machte ich ihn ein wenig lächerlich.
„Du solltest in Zukunft solche Scherze unterlassen", sagte er und versah mich mit einem bösen Blick. „Ich denke wir haben alles geklärt und Weiteres würde uns nur gegeneinander aufhetzen. Ich muss jetzt meinen Vater suchen und mit ihm streiten. Ich hoffe dir bleibt so etwas erspart. Er ist ziemlich auf seine Ideale fixiert und lässt sich nicht leicht davon abbringen. Gebe dir am besten einfach nur Mühe damit, ihnen so zu gefallen, wie sie dich haben möchten. Stark und selbstständig, aber nicht widerspenstig. Du musst dir etwas sagen lassen können."
Das waren seine letzten Worte. Dann stand er auf. Er wirkte auf mich nun doch groß und nicht bloß im Durchschnitt. Vielleicht hatte ich ihn bloß sonst immer mit Theodore verglichen, der ein wirklicher Riese war. Wirklich perfekt für Annabeth.
So ließ James mich einfach in dem Raum mit den tiefroten Sofas alleine, ohne mir zu sagen, was zu tun war. Wahrscheinlich war ihnen alles recht, außer einem Fluchtversuch.
Vielleicht war es an dieser Stelle angebracht, weiter in Florences Tagebuch zu lesen, was nicht ihres war, sondern das von Grace, der Schwester von Jonathan Hamilton. Bei nächster Gelegenheit sollte ich Florence fragen, woher sie das Buch überhaupt hatte.
Ich bin krank!
Es ist das eingetreten, wovor ich mich am meisten gefürchtet habe.
Ich weiß nicht, ob ich es schaffen werde. Es fehlen mir noch drei Wochen, bis mein Kind auf die Welt kommen sollte, aber ich weiß, dass ich diese Zeit nicht mehr habe.
Alle haben begonnen, sich rührend um mich zu kümmern. Ich bekomme mein Essen zu geregelten Zeiten und auch nur in festgelegten Zeiten darf ich aufstehen. Es fällt mir schwer, mich auch nur aufzusetzen, um dies hier zu schreiben. Mein Kind fühlt, dass es mir immer schlechter geht, und mit mir ihm. Trotzdem ist es noch erstaunlich stark. Es ist ständig in Bewegung und es tritt. Es ist schlau. Ich blicke der Antwort auf die Frage ob es ein Junge oder ein Mädchen ist mit großer Sehnsucht entgegen. Ich hoffe sehnlichst, dass ich eine Geburt noch erleben darf. Wenn mein Kind wirklich so schlau ist, dann wird es bald auf die Welt kommen wollen.
Eben, ich weiß nicht genau, wann es war, bekam ich eine Unterhaltung mit, die sich in meinem Zimmer abspielte und die ich wahrscheinlich gar nicht mitbekommen sollte.
Ich wache in den letzten Tagen immer auf, aber halte meine Augen geschlossen. So bemerkten sie nicht, dass ich aufgewacht war. Ich wusste am Anfang aber auch nicht, wer sie waren.
Zuerst drang ein leichter Geruch nach Tabak in meine Nase. Er war sehr dezent, nicht der Geruch eines permanenten Rauchers. Ich kannte diesen Geruch gut. Er hing nur an einem Menschen. Jonathan. Er war hier.
Als sie zu reden begannen, erkannte ich auch Georges Stimme.
Sie sagten schlimme Dinge. Ich würde nicht lange leben. Keine Woche mehr. Ein Arzt hätte es ihnen gesagt. Ich hatte keinen Arztbesuch mitbekommen. Wahrscheinlich geschah auch das, während ich schlief.
Ich entschied mich, die Augen geschlossen zu halten, um zu sehen, wie lange und ob sie blieben. Es interessierte mich, weshalb mein Bruder nun gekommen war. Wir hatten nie große Konflikte gehabt, aber es gab Zeiten in denen wir uns fast fremd erschienen waren. Wir hatten uns in letzter Zeit nicht oft gesehen und ich fragte mich, was Jonathan wirklich nun für mich empfand. Hatte er Angst davor, dass ich bald sterben würde oder war er wütend auf mich und war nur gekommen, um Formalitäten zu klären und weil er es als seine Pflicht ansah?
Hatte er Elizabeth mitgebracht? Die leicht zu verunsichernde Elizabeth, die dennoch niemanden an sich heranließ und es schaffte vor Selbstvertrauen zu strahlen ,wenn man sie nur ließ. Nein, wahrscheinlich hatte er sie daheim gelassen mit den Vorbereitungen für ihre anstehende Hochzeit.
Mein Mann und mein Bruder blieben noch einige Zeit in meinem Zimmer stehen und redeten über meinen Krankheitsbefund, irgendwann dann auch über Jonathans Hochzeit und ob er wegen mir die Pläne änderte. Er verneinte.
Sollte ich mich deswegen nun schlecht fühlen? Tatsache war, dass Jonathan und George danach gemeinsam gingen. Keiner der beiden blieb da, um an meinem Bett zu wachen. Ich nahm es ihnen im Grunde nicht übel, aber vielleicht würde ich mich nun besser fühlen, wenn wenigstens Jonathan auf mein Erwachen gewartet hätte.
Bis jetzt war er immer noch nicht bei mir gewesen und ich wusste nicht mehr, was ich ihm noch bedeutete. Ich konnte verstehen, dass Samuel nicht kam, denn er war zurzeit bei entfernten Verwandten irgendwo in den Vereinigten Staaten und es war ihm fast unmöglich, jetzt noch zu mir zu kommen. Aber wahrscheinlich wollte er es auch nicht, denn nicht einmal meine Eltern kamen. Ich hatte George gefragt.
Meine Mutter Tilda war schon immer jemand gewesen, der sich sehr schnell pikiert gab. Sie konnte nicht verstehen, was ich mit meinem Handeln beabsichtigte und sah es als Fluch für das Kind an, das ich austrug. Meinem Vater war ich in dieser Angelegenheit gleichgültig. Er betrachtete es objektiv und fand, es sei ein Experiment, dessen Ergebnis äußerst interessant sei und große Fortschritte bringen würde. Er war schon immer auf der Suche nach einer Möglichkeit, uns zu verändern und uns besser in die Gesellschaft der „normalen" Menschen zu integrieren.
Der Familiensinn reichte in unserer Generation leider nicht mehr sehr weit, was sehr schade war. Unsere ganze Art hatte einen sehr ausgeprägten Familiensinn und war sehr darauf bedacht, die gesetzten Regeln zu befolgen. Dabei lebten die meisten relativ einfach und zurückgezogen und waren zum Teil arbeitslos, aufgrund unseres Tag- und Nachtrhythmus. Ich hatte eine Perspektive in meinem Leben und die hatte ich aus Sicht einiger andere verworfen.
Nun muss ich aufhören, denn es hat geklopft. Vielleicht ist es Jonathan.
Ich mochte nicht, was Grace geschrieben hatte. Sie zweifelte alles an ihrer Familie an. In einem Moment schrieb sie, dass sie unterstützt wurde, aber dann schrieb sie, wie alle sie missachteten und ihre „Entscheidung". Welche Entscheidung? Ich wollte mir nicht länger den Kopf darüber zermartern, obwohl ich schon eine Vermutung über ihren Verzicht hatte. Blut. Sie wurde krank, weil sie die Gesundheit aus einem Menschen zog. Ich wagte es nicht, anderer Mensch zu denken.
Vielleicht war ich auch einfach zu müde. Es war noch nicht spät und ich vermutete, dass die Sonne noch nicht aufgegangen war. Trotzdem verspürte ich das Bedürfnis, zu schlafen. Ich fühlte mich sicher genug dafür und wenn ich schlief, sah ich die Dinge, wenn ich aufwachte, meistens aus einem ganz anderen Blickwinkel.
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