Freitag, 25.07.1879
Es war eine Ewigkeit vergangen, seit ich das letzte Mal Rouge auf meine Wangen aufgetragen hatte. Dennoch fühlte sich das Schminken immer noch wie ein vertrauter Ablauf an; ich dachte nicht darüber nach, was ich tun musste, um die rote Farbe so auf mein Gesicht zu bringen, dass es beinahe natürlich aussah.
Als ich meinen Blick jedoch, nachdem ich fertig war, auf das Gesamtbild richtete, war ich auf einmal nicht mehr zufrieden mit dem, was ich da zustande gebracht hatte. Es lag nicht daran, dass ich untalentiert darin war, das Rouge regelmäßig an der richtigen Stelle aufzutragen. Nein, der Grund für meine Unzufriedenheit lag darin, dass das Rot mich nicht lebhafter aussehen ließ, sondern vielmehr die ungesunde Blässe hervorhob, die immer noch der untrügliche Beweis für das war, was James mir in den paar Monaten angetan hatte, in denen er regelmäßig und wohl immer etwas zu viel von meinem Blut zu sich genommen hatte.
Zwar fühlte ich langsam, dass es mir wieder besserging, dass die allgegenwärtige Müdigkeit aus meinen Knochen wich, doch mein Teint war alles andere als nobel und glich eher dem einer Leiche als dem einer edlen Dame. Hinzu kamen bläulich-violette Augenringe, die vermuten ließen, dass ich die Nacht über nicht geschlafen hatte, was jedoch nicht der Wahrheit entsprach.
Ich wusste nicht genau, ob ich vor ein paar Wochen nicht noch schrecklicher ausgesehen hatte, denn wenn man sich selbst Tag für Tag im Spiegel betrachtete, wurde man blind für die Veränderungen, die schleichend ihren Lauf nahmen. Es benötigte erst einen kontrastreichen Vergleich oder ein anderes Ereignis, um einem die Augen zu öffnen.
Ein solchen Kontrast hatte ich nun reichlich gesehen, weswegen ich den Pinsel frustriert beiseitelegte und mir ein Tuch nahm, um das Rouge schnellstmöglich wieder zu entfernen. Ich war froh, als sich die roten Farbpartikel im weißen Tuch festsetzten und meine Wangen wieder einheitlich kreidebleich aussahen. Nicht schöner, aber vertrauter.
Ein letzter prüfender Blick in den Spiegel versicherte mir, dass ich nicht aussah als an jedem anderen Tag auch. Wieso sollte ich für den heutigen Tag überhaupt eine Ausnahme machen? James hatte Geburtstag und Namenstag, erwartete sicherlich eine kleine Feier, in kleinem Rahmen selbstverständlich, aber zumindest mehr Aufmerksamkeit als an jedem anderen Tag im Jahr.
Und ich hatte mich dazu verleiten lassen, mich für ausschließlich diesen einen Zweck hübsch zu machen, auch wenn es mir erst jetzt richtig bewusstwurde.
Was war ich ihm denn schon schuldig? Ich wollte ihm doch gar nicht gefallen, wollte ihn nicht wieder anlocken, sondern auf so großem Abstand halten, wie er zuließ. Und dennoch entschloss ich mich unterbewusst dafür, mich für ihn schön zu machen – wahrscheinlich, weil man das nun mal so tat, weil ich es so gelernt hatte und ich strikt das befolgte, was meine Eltern mir als angemessenes Verhalten beigebracht hatten. Ich konnte es ihnen nicht einmal zum Vorwurf machen, denn in der Öffentlichkeit wurde nichts anderes erwartet und erbrachte mir dort Vorteile.
Dass hier andere Regeln galten, hatte ich schon an meinem ersten Tag gemerkt, wenngleich es mir nicht Warnung genug gewesen war, um Reißaus zu nehmen. Nun, vielleicht hätte ich auch gar nicht die Flucht ergriffen, wenn mir zu Anfang eröffnet worden wäre, was mich erwartete. Das Leid war erst mit der Zeit gekommen, hatte den ersten Schock ausgenutzt, um sich langsam einzuschleichen und mich infolgedessen niederzustrecken.
Doch was nützten mir diese rückwärts gerichteten Gedanken überhaupt? Sie halfen mir nicht dabei zu entscheiden, wie ich zukünftig handeln sollte, denn wann immer ich vermeintlich erkannte, wie die Regeln, nach denen die Hamiltons lebten, lauteten, schienen sie offenbar willkürlich über den Haufen geworfen zu werden, wodurch es mir unmöglich war, mich auf das, was kommen mochte, einzustellen.
Frustrierte Niedergeschlagenheit war alles, was mich in letzter Zeit auszumachen schien und auch wenn es mir beinahe besser gefiel als in ständiger Angst zu verharren, handelte es sich um keinen Zustand, in dem ich langfristig verbleiben konnte, ohne letztlich daran zu zugrunde zu gehen.
Ich hatte in den letzten beiden Tagen wahrscheinlich mehr über das, was hier geschah, nachgedacht als in allen Monaten zuvor, denn Theodores Geschichte wollte mir einfach nicht mehr aus dem Kopf gehen. Seine Worte hatten sich in mir eingenistet, obwohl er sich mit Details zurückgehalten hatte.
Obwohl ich, währenddessen er erzählt hatte, tiefes Mitgefühl für ihn verspürt hatte, war dieses in den letzten zweiundvierzig Stunden einer Wut gewichen, die ich zum momentanen Zeitpunkt zwar gegen alles und jeden entwickelte, hier jedoch einen klaren Ursprung hatte
Am Mittwochabend hatte ich noch lange wachgelegen und Theodores Geschichte im Geiste immer und immer wiederholt, bis meine Gedanken in die Erinnerung an mein erstes Aneinandergeraten mit ihm übergingen. Ich wusste nicht mehr, welche Vorwürfe er mir genau gemacht hatte, konnte mir seinen genauen Wortlaut nicht einmal ansatzweise wieder ins Gedächtnis rufen, doch die Emotionen, die mich an jenem Tag dazu bewogen hatte, ihn zu ohrfeigen – etwas, das ich nie von mir erwartet hätte und jetzt, den Vorfall einige Monate in der Vergangenheit liegend, wie ein Traum erschien, von dem ich fälschlicherweise angenommen hatte, er sei Realität – kehrten ungedämpft zurück, rückten das Mitleid in den Schatten und veranlassten, dass ich Theos voreingenommene Einstellung mir gegenüber noch weniger nachvollziehen konnte. Er musste ein schrecklicher Hypokrit sein, wenn er seinen bestmöglichen Lebensweg bei dieser Familie suchte, mir aber gleichzeitig vorwarf, gar in Erwägung zu ziehen, meinen ebenfalls hier zu suchen.
Was auch immer es war, Theodore hatte in meinen Augen aufgrund dessen nur kurzweilig die Rolle eines Märtyrers angenommen und war mir nur lieber als James, den ich fürchten musste, jeden Moment zu verärgern und meine Lage noch aussichtsloser werden zu lassen. Theodore hingegen war es, der mich am ehesten aus dieser befreien konnte, so sehr ich mich auch an seinen Ansichten störte, so sehr ich ihn auch gehasst hatte und es teilweise immer noch tat.
Mein aschfahles Gesicht zum wiederholten Male musternd, nahm ich die Dose mit dem Rouge wieder in die Hand, um einen zweiten Versuch zu wagen, die rote Farbe so aufzutragen, dass es mich besser aussehen ließ. Wenn auch nicht für James, sondern für mich selbst. Ich hatte gerade den Pinsel aufgehoben, als das für Florence typische Klopfen an meiner Zimmertür ertönte – kurz, energisch, aber nicht aufdringlich laut.
Ebenfalls nicht aufdringlich, aber dennoch bestimmt war die Forderung, die sie mir stellte, sobald sie mein Zimmer betreten und mich begrüßt hatte. „Es wäre begrüßenswert, wenn Sie heute eines der Kleider tragen würden, die Sie bei Madame Gaspard erworben haben, Miss."
Ich legte Rouge und Pinsel erneut beiseite und wandte mich Florence über die Lehne meines Stuhls hinweg zu. „Wer hält es für begrüßenswert?"
Es war ein ungewohntes Gefühl, dem Dienstmädchen gegenüber so fordernd zu sein, obgleich dies einem normalen Umgangston glich. Es war wohl die liebevolle Strenge, die Florence ausstrahlte, die mich bei ihr in Sicherheit hatten wähnen lassen, bis ich herausgefunden hatte, dass ihr Resolutheit womöglich daher rührte, dass sie ebenfalls aus dem Hause Hamilton stammte. Ich hatte mir gewünscht, mich ihr wieder anvertrauen zu können, doch in Momenten wie diesem merkte ich, dass ich ihr nicht dieselbe Rolle in meinem Leben geben konnte, die ich Theodore zugedacht hatte. Ich konnte im Gegensatz zu Lady Elizabeth, James oder den anderen Hausangestellten mit ihr reden, doch Gedanken darüber, hier zu verschwinden, konnte ich unmöglich mit ihr teilen.
Dass dem so war, verstärkte ihre Antwort umso mehr. „Ich halte es für begrüßenswert, dass Sie sich für James hübsch machen, Miss, und die Lady und er selbst werden dem sicherlich zustimmen."
Ich seufzte, in diesem Moment entschlossen, gänzlich auf das Rouge zu verzichten. Auch wenn es Florence war, die mir dazu riet, mich schön herzurichten, konnte ich mich dem schlichtweg nicht beugen. Sie konnte mir mein Leben in diesem Haus erleichtern, mich jedoch nicht davon befreien. Nichtsdestotrotz gab ich ihr keine Widerworte, denn diese wären nur eine Rebellion gegen sie gewesen und nicht die anderen Mitglieder ihrer Familie.
So schritt ich kurze Zeit später, es musste etwa halb sieben am Abend sein, die Stufen hinab zur ersten Etage, gekleidet in ein Dress, in welchem ich meine Schritte beinahe wie von selbst eleganter, bedachter werden ließ als in den Teekleidern, die ich in den letzten Wochen vornehmlich getragen hatte, was nicht allein an der eng sitzenden Korsage lag, die mich zwar einerseits einengte, andererseits aber stützte und mir ein irrationales Gefühl der Sicherheit verlieh.
Fürs Dinner war es noch ausgesprochen früh, doch Lady Elizabeth hatte es wohl für angemessen befunden, das gemeinsame, kleine Festessen nicht nur durch die Speisen selbst, sondern auch die Uhrzeit, zu welcher es gehalten wurde, hervorheben zu lassen. Der Geruch nach Braten lag leicht in der Luft, lockte ins Speisezimmer, dessen Tür weit geöffnet stand. Als ich in den Raum trat, wurde mein Blick sofort vom reichlich gedeckten Tisch in Anspruch genommen, die vermuten ließen, dass eine Vorspeise heute wegfallen würde.
Erst, nachdem ich das Sammelsurium an Gemüsebeilagen, Braten und auf verschiedene Arten zubereiteten Kartoffeln gemustert hatte, bemerkte ich, dass ich die letzte war, die gefehlt hatte, um die kleine Runde von vier Leuten, die wir am heutigen Abend sein würden, zu komplettieren. Während Lady Elizabeth mich wie üblich abschätzig betrachtete, schien James mich tatsächlich von oben bis unten zu mustern. Vielleicht stimmte ihn mein hellblaues Kleid mit jeder Menge Spitzenapplikationen doch milde.
Theodore hingegen warf mir nur einen flüchtigen Blick zu, bevor er seine Aufmerksamkeit scheinbar auf den Teller vor sich richtete. Ich konnte nicht sagen, worüber er nachdachte, doch ich ließ dieser Überlegung auch nur kurz Zeit, denn es schien mir ratsamer, James im Auge zu behalten.
Stumm ließ ich mich auf meinem angestammten Platz nieder, direkt gegenüber dem Geburtstagskind, alleine gelassen auf meiner Seite des Tisches aufgrund von Annabeth' Abwesenheit, die mir nun zum ersten Mal während er einer Mahlzeit schmerzlich bewusstwurde. Eine Person weniger, die potenzielle Aufmerksamkeit von mir lenken konnte.
„Ich freue mich, dass wir nun alle hier sind, neunzehn Jahre, nachdem mein Sohn auf die Welt gekommen ist", begann Elizabeth ohne Umschweife, die Stimme getränkt in Pathos, der sich falscher anhörte, als wenn ich mich daran versucht hätte. „Und ich möchte nicht lange fackeln, sondern einen guten Appetit wünschen, damit James sich schnellstmöglich auf den Weg nach London machen kann, wo seine Anwesenheit erwünscht wird."
Diese letzten Worte schien sie an mich gerichtet zu haben, denn offensichtlich waren alle anderen im Raum schon darüber informiert gewesen. Niemand sonst zeigte Überraschung darüber, dass James nun doch endlich in die Stadt fahren würde.
Und ebenso wenig zeigte jemand Interesse an meiner Reaktion, denn still und eigenbrötlerisch, begannen Lady Elizabeth, James und Theodore, sich etwas von den Speisen vor ihnen zu nehmen, was mich dazu verleitete, mir selbst etwas zu nehmen. Hatte ich das in diesem Haus überhaupt jemals getan? Waren nicht immer Cornelia oder Florence dafür zuständig gewesen? Doch wahrscheinlich bereiteten sie nur James' baldige Abreise vor.
Ich tat mir von allem ein bisschen auf den Teller. Möhren, Rosmarinkartoffeln, Braten, dessen Saft sich über den ganzen Teller ausbreitete und die anderen Komponenten der Mahlzeit von unten darin tränkte. Es sah lecker aus.
Ich nahm Messer und Gabel mit zitternden Fingern, die hoffentlich nur mir selbst auffielen und ließ meinen Blick unwillkürlich zu Theodore schräg gegenüber von mir gleiten, bevor ich zu essen begann. Er wirkte immer noch abwesend, regelrecht bedrückt, wenn ich es mir nicht einbildete. James neben ihm machte einen ähnlichen Eindruck und nahm nicht einmal Notiz von mir, als ich ihn so lange anstarrte, bis ich meinerseits den stechenden Blick der Lady auf mir spürte.
Was auch immer es war, das in der Stadt vor sich ging und nun doch James' Anwesenheit forderte, es schien alle zu betreffen. War es der Fall der Hamiltons, der sich ankündigte, ein noch glorreicherer Aufstieg oder war es doch nur mein Geist, der mir einen Streich spielte, wie neulich Nacht, als ich Schreie vernommen hatte, die gar nicht existierten?
Ich spießte ein Stück Kartoffel auf meine Gabel und schob es mir in den Mund, zwang mich zu kauen, zu schlucken und es in meinen Magen zu befördern, der nun ein einziger schwerer, schmerzender Stein zu sein schien. Dann wiederholte ich die Prozedur, bis der Teller vor mir geleert war und wartete darauf ab, das etwas geschah.
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