Freitag, 25.04.1879

Das Rouge leuchtete strahlend rot auf meiner viel zu blassen Haut und schaffte es nicht, sie gesund aussehen zu lassen. Dabei waren Lady Elizabeth' Instruktionen sehr deutlich gewesen, denn sie hatte von mir verlangt, mich hübsch zu machen wie für einen Anlass außer Hause und dazu gehörte auch das Schminken, welches ich den letzten Wochen vernachlässigt hatte.

Heute Morgen wurde ich aufgewacht und obwohl ich mich in den letzten Tagen versucht hatte, darauf vorzubereiten, kam es mir ungewohnt vor, meinen alten Routinen nachzugehen. Früher hatte ich Spaß daran gehabt, mich durch Kosmetika zu verschönern, meine Haare zu drapieren und mich im Anschluss in ein Kleid zu zwängen, das meine Figur an den richtigen Stellen betonte. Diese Schritte jetzt auszuführen, um einer Frau und ihrem Sohn zu gefallen, die mein Leben durch ihr Aufkreuzen erneut durcheinanderwirbeln würden, verpasste ihnen einen unguten Beigeschmack und am liebsten würde ich mir mein Nachthemd wieder überstülpen, um mich unter meiner Bettdecke zu verkriechen.

Diesem inneren Drang gab ich allerdings nicht nach, sondern gab mir alle Mühe, mich wieder in das Ich zu verwandeln, welches im November die Pforten des Hamilton Manor durchquert hatte. Zumindest wollte ich mein Äußerliches wieder in seine alte Form bringen, denn mein Innerstes so zu verändern, dass ich wieder der Person von früher glich, war völlig unmöglich. Ich musste vorgeben, immer noch diese junge Frau zu sein, wenn ich auf Charlotte Douglas traf, die am späten Nachmittag eintreffen sollte.

Im Moment konnte ich mir jedoch nicht vorstellen, dass ich unsere Gäste mit einem strahlenden Lächeln würde begrüßen können. Wie konnte ich ihnen so offen ins Gesicht lügen, indem ich ihnen vorspielte, dass die Hamiltons die formidablen Leute waren, für die sie sie hielt? Ich konnte es mir beim besten Willen nicht erklären.

Aber hatte ich es bis jetzt nicht auch immer geschafft? Sie sogar vor Isabella in Schutz genommen und offen gesagt, dass an den Gerüchten nicht ein einzelnes wahres Haar zu finden war. Vielleicht hatte es aber auch nur diese eine weitere Person gebraucht, die sterben musste, damit mir zu Klarheit verholfen wurde.

Was wirklich zutraf, würde ich allerdings erst später klären können, wenn meine Überlegungen nicht mehr nur rein hypothetisch waren, sondern auch eine Auswirkung darauf hatten, was geschah. Bis dahin musste ich mich selbst weiterhin im Spiegel mustern, um mein Gesicht ansehnlich zu machen und vielleicht auch meine Mimik zu schulen, damit mir kein Fauxpas unterlief.

„Sie sehen schön aus, Miss", teilte mir Matilda mit, die geschickt worden war, um mir beim Ankleiden zu helfen. Ein weiterer prüfender Blick in den Spiegel, bevor ich mich erhob, verriet mir, dass es eine reine Höflichkeitsfloskel war. Ich war immer noch ungesund blass, nicht vornehm, und unter meinen Augen erkannte man unverdeckbare Augenringe. Außerdem war mein Haar kraus geworden und sträubte sich dagegen, in einer schönen Form zu bleiben. Ich konnte in dieser äußerlichen Verfassung nur mit einem strahlenden Lächeln und Ausstrahlung überzeugen, die mir leider ebenfalls nicht vergönnt waren. Nicht jetzt.

„Danke", sagte ich trotzdem, weil es sich natürlich so gehörte.

Danach folgte Schweigen, welches wohl peinlich gewesen wäre, wenn sie nicht eine Angestellte gewesen wäre, die mit allerlei Bizarrem zu tun hatte und der eine sich anscheinend merkwürdig verhaltende Person wie ich es gerade war, normal vorkommen musste.

Stumm half sie mir, meine Korsage festzuziehen, sodass mir einen Moment lang der Atem stockte, bevor sie mir in mein Kleid half und es zuknöpfte. Es war von Madame Gaspard geschneidert und ich musste zugeben, dass ich mich auch jetzt noch schön darin fühlte. Vielleicht war dieser schlichte Traum in dunkelblau der Weg, um mich wieder ich sein zu lassen.

Nachdem wir fertig waren, teilte Matilda mir mit, dass es nun Zeit für mich wäre, um nach unten zu gehen und die Uhr bestätigte diese Aussage für mich. Für ein flaues Gefühl im Magen war gar keine Zeit mehr, als ich mich auf den Weg nach unten begab, wo ich in der ersten Etage von James abgefangen wurde.

„Du siehst wunderschön aus", teilte er mir mit so tonloser Stimme mit, dass ich ihn kaum verstehen konnte und erst recht nicht die Gewissheit hatte, in welcher Stimmungslage er sich gerade befand. Er musste mir aber wieder besser gesonnen sein, als zuvor, denn immerhin sprach er mich an, ohne dass es notwendig gewesen wäre. Er tat es nur, um mir ein Kompliment zu machen.

Das Lächeln, das unwillkürlich über mein Gesicht huschte, ließ sich nicht vermeiden. „Ich danke dir. Auch wenn ich ein wenig nervös bin."

„Charlotte ist wirklich ausgesprochen freundlich und wird dich sicherlich mögen." Er strich kurz mit seiner Hand über meinen Arm, zaghaft, aber mit demselben Gefühl, das in letzter Zeit nicht mehr bei ihm gespürt hatte.

„Das immer wieder zu hören, ändert leider nichts daran, dass mir das Herz vor Aufregung in der Brust pocht", erwiderte ich ihm gegenüber offen. Diese alte Gewohnheit kehrte also äußerst schnell wieder zurück.

„Das hier ist kein bedeutendes Treffen, sondern bloß eine Freundin, die zu Besuch kommt, um eine schöne Zeit in der Hauptstadt zu verbringen. Und wenn du noch so skeptisch bist, sie wird dich dazu bringen, sie zu mögen."

Diese Worte aus James' Mund klangen, als hätte sie ihm jemand in den Mund gelegt. Dies klang nach etwas, das Anna mir sagen würde, aber es gab nichts Unwahrscheinlicheres, als dass sie ihm erklärt hatte, wie man eine nervöse Frau beruhigen konnte. Doch anstatt ihm gegenüber zu argwöhnen, drängten sich andere Probleme in meinen Kopf.

„Ich habe den Eindruck erlangt, dass es für deine Mutter durchaus Bedeutung hat und ich bin ihr ein Dorn im Auge, so sehr ich mich auch bemühe, es nicht zu sein."

Doch bevor ich eine Antwort erhalten konnte, rief uns unten eine aufgeregte Mrs. Chapman, die verlangte, dass alles nach dem Plan verlief, den sie mit Lady Elizabeth so sorgfältig ausgearbeitet hatte, als stünde royaler Besuch ins Haus.

Es war beinahe lächerlich wie wir uns alle platzierten, einer neben dem anderen. Ich stand neben Annabeth, die mir einen aufmunternden Blick zuwarf, bevor die Haustüre aufschwang und die Gäste eintraten.

Das Erste, was ich an Charlotte Douglas wahrnahm, war ihr herzliches Lächeln. Es wirkte tatsächlich so, als wäre es ein Teil ihrer Persönlichkeit und ließ mich tatsächlich ein wenig entspannen. Sie schien das exakte Gegenteil ihrer Freundin Elizabeth zu sein, die auch inmitten dieser überschwänglichen Herzlichkeit immer noch eine gewisse Kühle ausstrahlte.

Hinter Mrs. Douglas erhaschte ich einen Blick auf ihren Sohn, der zwar erst zwölf, aber gerade in die Höhe geschossen war, sodass er fast mit mir auf Augenhöhe sein musste. Er wirkte etwas schüchtern, was ihn mir augenblicklich sympathisch machte. Genauso wie ich fand er sich nicht in diese Szene ein, sondern wäre lieber an einem ganz anderen Ort.

Bevor ich mir aber noch weitere Gedanken über den Jungen machen konnte, war die große, hagere Mrs. Douglas bei mir angekommen und wir stellten uns einander vor, tauschten die üblichen Phrasen aus, während ich gar nicht weiter darüber nachdachte, was ich eigentlich tat. Das Lächeln war zurück auf mein Gesicht gekehrt, ganz von alleine.

Und als Mrs. Douglas Seite an Seite mit Lady Elizabeth nach oben ging, um sich in ihrem Zimmer einzufinden und fürs Dinner frisch zu machen, hörte ich sie gerade noch sagen, was für eine reizende junge Dame ich doch sei.

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„Ich muss zugeben, dass ich gehofft hatte, dass das Wetter in London wärmer ist als bei uns im Norden", eröffnete Mrs. Douglas das Gespräch, als wir Frauen und der Junge, der den Namen Ian trug, uns nach dem Abendessen im Salon zusammengefunden hatten. „Natürlich kommt auch hierhin kalter Wind von der See hinübergeweht, aber dass es zu dieser Zeit des Jahres noch so frostig ist wie mancher Jahr im Februar, hat mich wirklich überrascht."

„Ich hoffe, dass diese kleine Enttäuschung nicht die Freuden deines Besuches trübt", antwortete Lady Elizabeth lächelnd. „Die Vorzüge der Großstadt sind ohnehin nicht vom Wetter abhängig."

„Da stimme ich dir zu, denn es geht doch nichts über angenehme Gesellschaft." Mrs. Douglas schenkte ein Lächeln in die Runde.

„Sind die Schotten denn keine angenehme Gesellschaft?", hakte Annabeth nach, wie eh und je zu Grenzüberschreitungen bereit. Eine so offensive Frage zu stellen, hätte ich mich selbst unter mir nahestehenden Personen nicht getraut.

Charlotte Douglas schien sich allerdings in keiner Weise bloßgestellt zu fühlen, sondern lachte, bevor sie antwortete. „Dort oben gibt es ebenso viele Menschen, die man mag oder nicht mag wie hier auch. Und so kommt es, dass ich die, die ich in England zurückgelassen habe, vermisse. Aber die Entscheidung über den Wohnort bleibt einem leider Gottes in den seltensten Fällen selber überlassen, aber wenn man einen Ehemann an seiner Seite hat, den man liebt und eine eigene Familie gründet, ist er kaum noch von Bedeutung."

Es sollte wohl ein mütterlicher Ratschlag sein, den sie Annabeth gab, aber er führte nur dazu, dass ich sah, wie diese einen kurzen Moment den Mund verzog, bevor sie die vollkommene Fassung wiedererlangte. Natürlich wusste Mrs. Douglas noch nichts von einer möglichen Verlobung mit dem österreichischen Baron, denn sie war wie ich ein ganz gewöhnlicher Mensch und selbst unter ihresgleichen schien der ominöse Rat Planungen unter strengem Verschluss zu halten. Ich war mir sicher, dass von den Plänen über die angedachte Verbindung erst Details an die Öffentlichkeit geraten würden, wenn Anna sich bereits auf der Fähre befand, die sie ans Festland bringen würde, hin zu ihrem zukünftigen Gatten.

„Ich werde diese Worte im Hinterkopf behalten, Charlotte", erwiderte Annabeth.

„Ich hege keinen Zweifel daran. Du hast dich wahrlich zu einer fantastischen jungen Frau gemausert. Und wo ich gerade dabei bin davon zu schwärmen, was für reizende junge Damen ich hier vor mir sitzen habe, muss ich natürlich auch Evelyn nennen. Ich darf dich doch mit deinem Vornamen ansprechen, oder nicht?"

„Natürlich", antwortete ich automatisch.

„Dann muss ich aber auch darauf bestehen, dass du mich Charlotte nennst, meine Liebe. Wie könnte ich dir das verwehren?"

Das war eindeutig eine rhetorische Frage, auf die ich keine Antwort geben konnte. Und noch bevor Mrs. Douglas sich weiter in ein direktes Gespräch mit mir verwickelte, schritt Elizabeth ein. Natürlich ging sie nicht mit hartem Ton zwischen uns, aber mir war deutlich, was sie intendierte.

„Evelyn ist wirklich ausgesprochen höflich und hat sich in den Monaten, die sie jetzt schon mit uns verbracht hat immer von ihrer besten Seite gezeigt", heuchelte sie ihrer Freundin vor. „Sie ist genau die Art Mädchen, die ich mir versprochen habe, als ich erfuhr, dass sie für die Zeit, die ihre Eltern geschäftlich in Indien verbringen, bei uns unterkommen wird."

Vielleicht war der letzte Satz nicht einmal gelogen. Ich hatte schließlich die ganze Zeit über gewusst, dass Elizabeth Hamilton von Anfang gegen mich gewesen war. Sie hatte mich verachtet, bevor sie mich je getroffen hatte und in ihrer Gunst aufzusteigen, hatte sich als mehr als schwierig herausgestellt. Umso leichter war es gefallen, in ihrem Ansehen wieder zu sinken und jetzt in einer noch schlechteren Position zu sein, als bei meiner Ankunft auf dem Anwesen.

Mrs. Douglas bemerkte den Seitenhieb gegen mich, der mir selbst so offensichtlich erschien, genauso wenig wie Annabeth' kurzzeitiges Entgleiten ihrer Gesichtszüge zuvor. Vielmehr konzentrierte sich ihr gesamtes Interesse nun auf mich. „Indien!", rief sie aus. „Wie faszinierend es sein muss, dorthin zu reisen. Warst du selbst schon einmal dort?"

Ich nickte. „Ja, als Kind bin ich einmal mit meinen Eltern gereist, aber das Klima dort bekam mir nicht gut, weswegen ich dieses Mal in England geblieben bin. Aber faszinierend ist es dort nichtsdestotrotz. Alles dort ist viel bunter als hier."

„Nun, bei den Massen an grauen Wolken, die hier über dem Himmel schweben, ist das sicherlich kein Wunder", meinte Mrs. Douglas. „Exotik hat schon immer eine große Anziehungskraft auf mich ausgeübt, aber bis jetzt war es mir noch nicht beschieden, über die Grenzen des europäischen Kontinents heraus die Welt zu erkunden. Das Bestreben meines Ehegatten liegt eher im Inneren unseres Landes."

Ich meinte, die Sehnsucht nach mehr aus ihrer Stimme hinauszuhören, empfand aber in diesem Moment kein Mitleid dafür, dass sie unerfüllte Lebensträume hatte. Alles in allem ging es ihr schließlich gut und sie musste nicht täglich um Leben und Gesundheit fürchten, sowie mit dem Gedanken daran aufwachen, nie wieder selbstbestimmt handeln zu können.

„Selbst, wenn ich mit ihnen gegangen wäre, ich wäre immer wieder nach England zurückgekehrt. Es geht nichts über die Heimat." Ich sagte es mit mehr Enthusiasmus, als beabsichtigt und für Mrs. Douglas musste es so klingen, als würde ich das hier als mein Zuhause bezeichnen, als wäre ich in den letzten fünf Monaten schon so sehr an die Hamiltons gewachsen, dass ich mich beinahe schon als Teil ihrer Familie betrachtete oder wenigstens als einen geachteten Gast.

Meine Zweifel in den letzten Tagen hat sich darum gedreht, den Anforderungen dieses Besuchs nicht gerecht zu werden. Stattdessen erfüllte ich sie viel zu gut, sodass ich beinahe wieder in den Selbstbetrug verfiel, den ich viel zu lang durchgeführt hatte. Noch ein oder zwei Stunden mehr und ich könnte mir endgültig selbst glauben.

Dazu wollte ich es aber nicht kommen lassen und Mrs. Douglas schien dem Thema ebenfalls nicht weiter nachgehen zu wollen, denn das Reiz der Ferne hatte sie so sehr in seinen Bann gezogen, dass sie von mir verlangte, dass ich ihr alles erzählte, was ich über die Kolonie des Empire, das am anderen Ende der Welt lag, wusste.

Der gesamte restliche Abend drehte sich um dieses Thema und alle schienen mir gebannt an den Lippen zu hängen, obwohl ich Annabeth schon zur Genüge nach der Ankunft des Pakets an ihrem Geburtstag berichtet hatte und es ihrer Mutter wahrscheinlich nichts fernerlag, als etwas über bunte Kleider und aromatischen Tee zu erfahren. Dennoch erzählte und erzählte ich. Die Worte verließen leicht meine Lippen und es machte mir nichts aus im Fokus zu stehen. Ich freute mich sogar, als der schüchterne Ian begann, Fragen zu stellen, auch wenn ich seine kindliche Neugierde nicht voll befriedigen konnte. Es gab mir das Gefühl, noch nicht zu viel von meiner Menschlichkeit eingebüßt zu haben und immer noch zu funktionieren. Vielleicht würden die nächsten beiden Tage doch wieder mehr Glück in mein Leben bringen.

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