Freitag, 21.02.1879
Als ich aufwachte, fühlte ich mich so ausgeschlafen wie schon lange nicht mehr. Ich wusste nicht, ob es an meiner gestrigen Unterhaltung mit James lag oder der Tatsache, dass mich dunkelgrüne Wände womöglich bedrückten, aber es war ein befreiendes Gefühl und es half mir es gelassener hinzunehmen, dass ich heute wenigstens ein neues Kleid bekommen würde, um mich am morgigen Abend bei einer Soiree zu präsentieren.
Beinahe erwartete ich, dass draußen gutes Wetter herrschte, aber als ich die Vorhänge zurückzog war der Himmel grau wie eh und je und Schneeregen ließ die Welt noch farbloser werden.
Dennoch war meine gute Laune noch nicht verflogen und als zehn Minuten Mary kam, um mich zu wecken, begrüßte ich sie mit einem Lächeln auf den Lippen. Sie half mir schnell, meine Korsage zu schnüren und anstatt wie sonst üblich ein Morgenkleid anzuziehen, kleidete ich mich direkt in die Kleidung, die ich mir gestern herausgelegt hatte, denn wir wollten direkt nach dem Frühstück zur Schneiderin fahren.
Im Salon fand ich Annabeth, Theodore und James vor. Anscheinend nahmen wir unser Frühstück heute dort ein und es erleichterte mich, dass von Lord und Lady Hamilton jede Spur fehlte.
Der Tisch, an dem wir aßen war klein und rund und ich setzte mich auf den Stuhl neben James. Nur wenige Zentimeter weniger Abstand und unsere Beine könnten sich berühren. Ich fragte mich, ob diese Nähe ungebührlich war, aber Anna und Theodore wären die letzten, die die Berechtigung hätten mir so etwas vorzuhalten und ich war mir sicher, dass auch das Personal hier ausgezeichnet darin war zu schweigen.
„Was möchtest du trinken?", fragte James mich.
„Kaffee, bitte", antwortete ich und sofort war Mr Nesbitt zur Stelle und schüttete mir etwas von der dampfenden, dunklen Flüssigkeit in meine Tasse. Ich dankte ihm und er zog sich wieder in den Hintergrund zurück.
Ich fügte noch Milch und ein wenig Zucker in meine Tasse hinzu und nahm vorsichtig einen Schluck, denn der Kaffee war immer noch heiß. Mit Freuden stellte ich fest, dass er gut gebrüht war. Cornelias Kaffee war mir immer viel zu stark gewesen und ich hatte schnell angefangen Tee zu trinken.
„Mr Nesbitts Kaffee schmeckt großartig, nicht wahr?", merkte Annabeth an.
Ich nickte nur, denn gerade hatte ich ein Stück von meinem Toast abgebissen.
„Ich hatte angenommen, dass die Tochter von Teehändlern einen guten Kaffee nicht zu schätzen weiß, aber anscheinend habe ich mich geirrt", sagte Theodore und ich konnte nicht sagen, ob er mich aufzog oder es freundlich meinte.
Ich ließ es deswegen unkommentiert und nahm stattdessen einen weiteren Bissen meines Toasts, um beschäftigt zu wirken. Ich hatte bei Theodore nicht das Bedürfnis höflich zu sein und nicht einmal die Stimme der Vernunft in meinem Kopf, die geprägt war von meiner guten Erziehung, machte mir ein schlechtes Gewissen.
„Wo sind eigentlich unsere Eltern?", fragte James nach einer Weile an Annabeth gewandt, die ihren Toast gerade mit Orangenmarmelade bestrich.
„Mama hat sich spontan mit irgendeiner ihrer Freundinnen zum Frühstücken getroffen, weil sie ihr Sozialleben in den letzten Monaten wahrscheinlich schmerzlich vermisst hat und Papa will das genaue Gegenteil, indem er schon vor acht Uhr morgens das Haus verlässt und sich in seine Arbeit stürzt. Aber frage mich nicht, welche Art von Arbeit."
Sie seufzte und biss in ihr Brot.
Es wunderte mich mit welcher Gelassenheit sie so beinahe abschätzig über ihre Eltern sprach. Ich wusste, wie sehr Anna ihre Eltern liebte.
„Du weißt, dass dein Vater so viel arbeiten muss", sagte Theodore, ohne sie anzusehen.
Annabeth schürzte die Lippen. „Und du hilfst ihm viel zu viel dabei. Es wäre eigentlich James' Aufgabe, sich in das Familienunternehmen einzubringen."
„Das tue ich auch", erwiderte James kühl.
„Sicherlich", gab Annabeth mit sarkastischem Unterton zurück. „Du warst letztens ein Wochenende lang mit ihm fort. Eine fabulöse Leistung, Bruderherz."
Damit war jeder Zweifel, um welche Art des Familiengeschäfts es hier ging, verloren. Am liebsten würde ich den Raum verlassen, denn ich wusste, dass es hier um Themen ging, von denen ich lieber nichts wissen wollte. Ich hatte gerade die Gedanken an Theresa im Keller hinter mir gelassen und wollte nicht schon wieder daran erinnert werden, mit welcher Art von Menschen ich hier konfrontiert war. Und wegzuhören war keine Option.
„Habe ich dich jemals etwas für unsere Familie tun sehen, Anna?", war James Antwort. „Seit ich denken kann, tust du nur das, was dir als richtig erscheint, ohne einen einzigen Gedanken an uns andere zu verschwenden. Darf ich dich daran erinnern, dass du vor fünf Jahren fast unser aller Leben aufs Spiel gesetzt hast?"
Annabeth starrte ihren Bruder mit eiskaltem Blick an. Er hatte nicht geschrien, aber das hier war nicht der James gewesen, für den ich die zärtlichen Gefühle entwickelt hatte, die eine der wenigen Lichtblicke in meinem Leben waren. Es war der James, den ich bis jetzt erst selten zu Gesicht bekommen hatte, der meine Zuneigung als etwas Selbstverständliches hatte einfordern wollen und der jetzt alles tat, um seine Schwester zu provozieren.
„Du bist ein elender Heuchler, James", sagte Anna mit bebender Stimme. „Es ist nicht deine Aufgabe mir Vorwürfe zu machen. Du bist nicht das Unschuldslamm, das du immer vorgibst zu sein und das wissen wir alle hier. Und gib nicht vor, als hättest du damals nicht hinter mir gestanden und dich..."
„Anna, es ist genug", schritt Theodore ein und griff nach Annabeth' Hand. Sie verstummte augenblicklich und richtete den Blick auf ihren Teller. Innerhalb weniger Augenblicke schaffte sie es, sich so weit zu beruhigen, dass sie James wieder ansehen konnte, ohne dass man ahnte, dass sie kurz zuvor noch seinetwegen aufgebracht gewesen war.
Wir aßen stumm weiter. Annabeth hielt die ganze Zeit über Theos Hand und ich war mir sicher, dass das der einzige Weg war, um ihre Rage zu bändigen.
Es war kurz vor neun, als wir alle nach unangenehm langer Zeit des Schweigens unsere Mahlzeit beendet hatten und Mr Nesbitt und Mary begannen abzuräumen.
Als der Butler die Kaffeetassen mit sich nahm, lobte ich ihn noch einmal direkt für seinen deliziösen Kaffee. Ich fand er hatte diese netten Worte verdient, nachdem er den vergangenen Streitigkeiten ausgesetzt gewesen war und keine Miene verzogen hatte.
Seine Mundwinkel deuteten ein leichtes Lächeln an und er nickte mir zu, wie er es häufig zu tun schien. Ich hatte noch kein einziges Wort aus seinem Mund gehört.
Als ich mir sicher war, dass er gerade in der Küche war und uns nicht hören konnte, hielt ich meine Neugierde nicht weiter zurück.
„Wieso ist Mr Nesbitt so stumm? Er scheint äußerst nett zu sein, aber ich habe ihn noch nichts sagen hören und wir sind jetzt fast einen ganzen Tag lang hier."
„Das liegt daran", antwortete mir Theodore, „dass man ihm die Zunge herausgeschnitten hat."
Ich spürte, wie mein Mund sich langsam öffnete und meine Lippen ein „O" formten. Eilig schloss ich ihn wieder und presste die Lippen fest aufeinander.
„Wir hatten damit nichts zu tun. Sei unbesorgt", fügte James noch hinzu, den meine erschrockene Reaktion anscheinend beunruhigte.
„Es ist in Ordnung", sagte ich beinahe tonlos und dann etwas lauter: „Anna, wollten wir uns nicht auf den Weg machen?"
„Natürlich, die Kutsche wird gerade bereitgemacht", sagte Anna, die sich mittlerweile von Theodore gelöst hatte und gemeinsam verließen wir den Salon.
-
Es dauerte nicht lange, bis wir das Atelier der Schneiderin erreicht hatten. Noch immer hing eine unangenehme Spannung in der Luft und ich erhoffte mir, dass diese durch die Trivialität des Kleideraussuchens verschwinden würde.
Wir wurden schon von der Schneiderin erwartet, einer fülligen Frau namens Élodie Gaspard, die uns mit ihrem leichten französischen Akzent willkommen hieß.
„Ich habe sofort einige Kleider herausgesucht, als Lady Hamilton mich gestern benachrichtigt hat", ließ sie mich ohne Umschweife wissen. „Eines davon werde ich bis zum morgigen Nachmittag ihren Maßen anpassen und ich garantiere Ihnen, dass sie fantastisch aussehen werden, Miss Whiting. Warten Sie einen Moment, ich werde Ihnen jetzt die drei Abendkleider präsentieren, die zu Ihnen passen könnten."
Sie verschwand im hinteren Teil des Ladens und ich begann, meinen Mantel aufzuknöpfen, denn das Atelier war gut beheizt.
Die Schneiderin trug nacheinander drei verschiedene Abendkleider herein. Eines hatte ein dunkles Grün, das andere ein helles Rot und das letzte hatte einen hellen rosa Farbton. Erst dann wandte Madame Gaspard wieder uns ihre Aufmerksamkeit zu.
„Ach, was bin ich unhöflich", entfuhr es ihr. „Ich habe vergessen Ihnen die Mäntel abzunehmen. Es tut mir wirklich sehr leid, aber für gewöhnlich bin ich nicht alleine im Atelier und meine Assistentin kümmert sich um das Wohl unserer Kunden."
Eilig half sie uns aus den Mänteln und hängte diese an eine Garderobe neben der Eingangstür.
„Wenn ich Sie so betrachte, Miss Whiting, dann kann ich Ihnen jetzt schon sagen, dass das Rote nicht zu ihnen passt. Es würde Sie zu blass aussehen lassen."
„Und das rosa Kleid würde das nicht tun?", fragte ich skeptisch.
„Nein, nein", entgegnete die Schneiderin energisch. „Das Rote würde sie ungesund blass aussehen lassen, während das rosa Kleid ihrem Teint schmeicheln würde. Aber ich schlage vor, dass Sie jetzt eines anprobieren und ich mir selber ein Bild davon machen kann. Welches möchten Sie zuerst sehen? Das Grüne oder das Rosafarbene?"
Sie ließ mir anscheinend keine Wahl, was das rote Kleid betraf.
„Ich würde gerne das Grüne anziehen", entschied ich nach Bauchgefühl.
„Dann kommen Sie mit nach hinten und ich werde Ihnen beim ankleiden helfen."
Annabeth ließen wir im Eingangsraum zurück. Madame Gaspard wusste, dass sie in Eile war und es schien sie nicht zu interessieren, dass sie die Tochter ihrer Auftraggeberin ignorierte.
Anna allerdings störte sich auch nicht weiter daran. Ich vermutete, dass sie mit Madame Gaspards Art vertraut war.
Mit fachmännischer Sicherheit half die Schneiderin mir in das von ihr entworfene Kleid, nachdem ich mich meiner schlichten Kleidung entledigt hatte. Das Kleid lag enger an als ich es gewohnt war und der Ausschnitt, der mit Spitze gesäumt war reichte bis zum Ansatz meiner Brüste. Ich war in der Öffentlichkeit noch nie so entblößt gewesen, aber das Gefühl ein wenig mehr Haut zu zeigen, störte mich nicht im Geringsten.
Das Kleid war in einem einzelnen Farbton gehalten und nur die Spitze und ein paar geschickt platzierte Schleifen sorgten für Akzente. Die dunkle Farbe bot einen Kontrast zu meiner hellen Haut und meinem hellen Haar.
„An diesem hier müsste ich kaum etwas ändern, Miss", erklärte mir Madame Gaspard, die an einigen Stellen schon begann, das Kleid so festzustecken, dass es aussah als würde es mir perfekt passen. „Was halten Sie davon?"
„Es ist wunderschön", antwortete ich wahrheitsgemäß. „Ich würde es trotzdem gerne Annabeth zeigen. Sie weiß besser als ich, was man bei einer Soiree des Adels trägt."
„Nun denn, es sitzt alles fest. Sie können nach vorne gehen ohne befürchten zu müssen, dass Ihnen das Kleid herunterrutscht."
Als ich wieder in den vorderen Raum trat, hellte sie Annas Miene bei meinem Anblick auf. Ein großer Stein fiel mir vom Herzen.
„Du siehst wunderschön aus, Evelyn."
„Danke", sagte ich und ich warf einen Blick in den Spiegel. Das Kleid war zweifellos sehr schön und es passte mir jetzt schon fast wie angegossen, aber ein Detail störte mich. Es dauerte einige Momente und dann begriff ich, dass es die Farbe war. Es hatte dieselbe Farbe wie die Wand in meinem Zimmer auf Hamilton Manor. Als mir das bewusst wurde, war meine Entscheidung klar.
„Ich würde gerne noch das andere Kleid anprobieren."
„In Ordnung, Miss. Dann kommen Sie bitte wieder mit nach hinten."
Das rosa Kleid war nicht einfach nur rosa. Feine goldene Elemente zogen sich in Form von Spitze und Fäden durch das ganze Kleid hindurch. Es hatte auch keine große Tournüre, sondern war genauso eng geschnitten wie das Kleid, das ich vorher anprobiert hatte. Ich vermutete, dass dies der neuen Mode entsprach, die den Körper eindeutig mehr betonte. In der Mitte des Dekolletees war eine Blume aus einen Stoff, der mich an Tüll erinnerte.
Ich fühlte mich wohl, als ich das Kleid trug. Es war zwar an ein paar Stellen zu weit und an anderen zu eng, aber das störte mich für den Anfang nicht.
„Ich nehme es", sagte ich, ohne mich überhaupt im Spiegel betrachtet zu haben.
„Dann werden wir es jetzt der jungen Lady Hamilton präsentieren", wies die Schneiderin mich an und mit strahlendem Gesicht trat ich vor Annabeth.
Sie war derselben Meinung wie ich und als ich mich im Spiegel ansah, wusste ich, dass ich das perfekte Kleid gefunden hatte, um mich selbstbewusst bei der Soiree zu präsentieren und den Frauen der Aristokratie in nichts nachzustehen.
„Es ist perfekt", sagte ich zu Madame Gaspard.
„Das freut mich sehr", antwortete diese. „Aber ich habe heute und morgen noch einiges an Arbeit vor mir, um es pünktlich für Sie fertig zu haben. Ich werde jetzt sofort anfangen müssen und wenn Sie noch andere Kleider haben wollen, müssen Sie an einem anderen Tag wiederkommen."
„Das nehme ich gerne in Kauf", erwiderte ich freudestrahlend.
-
Wir verließen das Atelier einige Zeit später, nachdem die Schneiderin meine Maße genommen und das Kleid an den entsprechenden Stellen zurechtgesteckt hatte.
„Dieses Abendkleid ist so wunderschön", schwärmte ich vor mich hin, als wir in die Kutsche stiegen.
„Das ist es wirklich", stimmte Annabeth mir zu. „Die Männer werden ihre Blicke nicht von dir ablassen können."
„Meinst du das wirklich?", fragte ich. „Das ist meine erste Saison. Ich habe mich noch nie dem Werben der Männer aussetzen müssen... oder können."
„Sie werden dir nicht direkt den Hof machen, vertrau mir, aber vielleicht wird der ein oder andere zufällig mit dir ins Gespräch geraten. Halte dich einfach an mich. Das ist jetzt meine dritte Saison und wenn ich dieses Mal niemanden finde, der mich heiraten will, dann bin ich wohl eine alte Jungfer. Immerhin werde ich im nächsten Monat zwanzig Jahre alt."
Sie lachte.
„Aber du kannst nicht einfach so einen reichen Mann, der deinem Stand entspricht und der dir gefällt, oder?", hakte ich nach.
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, das kann ich nicht. Ich werde den Mann heiraten, den meine Gesellschaft für richtig hält. Aber wir werden es so aussehen lassen, als wäre ich auf vollkommen normale Weise mit ihm zusammengekommen. Wäre es nicht auffällig, wenn ich mich nie irgendwo blicken lassen würde? Ich hatte schon zwei oder drei Männer, die interessiert daran waren, mich näher kennenzulernen und einer hatte sogar schon das Wort Verlobung im Mund, aber mein Vater hat sie alle abgewimmelt."
„Hättest du deinen von ihnen geheiratet, wenn du gekonnt hättest?", fragte ich.
Annabeth schüttelte erneut den Kopf. „Ich liebe Theo. Und ich kann mir nicht vorstellen jemals einen anderen zu lieben. Wenn ich bei der Wahl meines Gatten eine Wahl hätte, dann würde ich ihn wählen und auch wenn ich deswegen arm wäre und für mein Überleben arbeiten müsste, das wäre es mir wert. Ich kann kaum einen Tag ohne ihn sein."
Und ich fragte mich, ob dasselbe auch für James und mich galt und welche Hoffnungen ich darauf hatte, überhaupt jemandes Ehefrau zu werden.
Eigentlich war der ganze erste Teil des Kapitels nur dazu gedacht, um zu erklären, wieso Mr Nesbitt nicht redet. Well, that escalated quickly. Die vier kann man auch keine Minute allein lassen xD
Ich hoffe aber ich konnte so noch etwas mehr Einblick in die Beziehungen der Figuren untereinander geben und Theodore endlich auch mal wieder ein paar Zeilen sagen lassen.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top