Freitag, 20.06.1879
Als ich aufwachte, hatte ich zum ersten Mal seit langer Zeit das Gefühl, ausgeschlafen zu sein und mich nicht sofort wieder unter meiner Bettdecke verkriechen zu müssen, um ein Defizit aufzuholen, dessen genauer Natur ich mir nicht einmal bewusst war und das in mir nur das bloße Bedürfnis nach etwas nicht exakt Bestimmbarem auslöste.
Mein Schlaf war ruhig gewesen, ohne Störungen oder zumindest ohne solche, an die ich mich erinnerte und ebenso ruhig war mein Erwachen. Ich öffnete die Augen, wurde mir langsam der Welt um mich herum bewusst und es war nicht das Gefühl von Resignation, das mich niederstreckte. Doch es gab auch nichts anderes, das dessen Platz eingenommen hätte, sondern es kam mir lediglich so vor, als wäre eine schwere Last von meinem Körper gehoben worden, wodurch ich nun freier atmen konnte, freier Denken und auch unbeschwert aufstehen.
Nichts hielt mich heute in meinem Bett und sobald ich aufgestanden war, die Vorhänge aufgezogen und mir meinen Morgenmantel übergestreift hatte, fiel mir ein, dass es eine Sache gab, die ich heute als erstes erledigen musste. Ich hätte es schon gestern Abend tun sollen, doch ich war schlichtweg zu erschöpft gewesen. Vergessen hatte ich jedoch nicht, dass ich Theodore meinen Dank dafür schuldete, dass er meine Bürde auf seine Schultern nahm.
Ich wusste, wie verrückt es aussehen musste, wenn ich mich genau jetzt auf die Suche nach ihm begab, noch nicht fertig angezogen, einzelne Haarsträhnen wirr vom Kopf abstehend und die Augen noch voller Schlaf, doch es wären die ehrlichsten Wort, die ich ihm jetzt sagen würde. Je länger ich Zeit bekam, darüber nachzudenken, desto tiefer würden sie sich in meinen Kopf einbrennen, sich dabei verändern und am Ende noch hölzern und unecht wirken. Dennoch konnte ich mich noch zurückhalten und begann, ohne Florence vorher zu rufen, mich anzukleiden.
Ich spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht, um wacher auszusehen, bürstete meine Haare, von denen Unmengen in meiner Bürste zurückblieben, und steckte die, die ich noch auf dem Kopf hatte in aller Eile hoch. Es sah nicht besonders schön aus, doch wenigstens konnte man den guten Willen dahinter erkennen, mich anständig gekleidet zu präsentieren.
Nichts sollte mir ferner sein, als wie das Wrack auszusehen, das ich am gestrigen Abend kurzzeitig gewesen war. Ich sollte und wollte mich nicht davon in die Knie zwingen lassen und betrachtet werden, als könne ich jeden Moment sterben, denn obwohl es mir momentan nicht gut ging, war ich davon noch weit entfernt. Und dass das so blieb, war unter anderem Theodore zu verdanken, den ich nun hoffentlich bald finden würde.
Voller Tatendrang verließ ich mein Zimmer und versuchte mein Glück zunächst in seinem Zimmer, hatte aber keinen Erfolg. Das wäre die angenehmste Variante gewesen, diejenige, bei welcher niemand anderes involviert war, bei der ich mich vor niemandem sonst verantworten musste, doch es hätte sich um einen zu großen Zufall gehandelt, wäre mir dies vergönnt gewesen, selbst an einem Freitagmorgen um halb acht.
Da es aber noch so früh war, zumindest für diesen Haushalt, versuchte ich mein Glück im Speisezimmer, welches ich allerdings noch dunkel und leer vorfand. Hier hatte sich noch niemand dazu entschlossen, sein Frühstück einzunehmen. Doch wo war Theodore?
Die Sucherei war mir unangenehm. Es behagte mir nicht, durch das Haus zu streifen und wann immer ich das tat, kam ich mir vor wie ein Eindringling, dem man bei nur einem falschen Schritt augenblicklich eine Kugel in den Schädel jagen würde und diese Formulierung war bei Weitem nicht übertrieben und die düsteren Gedanken, die sie begleiteten, leider unvermeidbar.
Dennoch ließ ich mich nicht davon abbringen und fragte schließlich Cornelia, die meine Weg kreuzte, ob sie etwas über Theodores aktuellen Aufenthaltsort wisse.
Die Haushälterin verzog für einen kurzen Moment den Mund, bevor sie mir antwortete: „Die beiden jungen Herren befinden sich im Arbeitszimmer des Lords, wenn Sie es wissen wollen, Miss."
Die Art, wie sie mir diese Information mitteilte, suggerierte eindeutig, dass es mich nicht zu interessieren hatte, wo Theo sich gerade herumtrieb, doch ich bedankte mich einfach und ging zum Ende des Flurs, wo sich der Eingang zu Lord Jonathans Reich befand, ohne Cornelia weitere Beachtung zu schenken. Sie selbst hielt es ohnehin nicht anders.
Voller Selbstbewusstsein trat ich in das Arbeitszimmer des Hausherrn, wohlwissend, dass er selbst sich nicht dort drinnen befand, denn ansonsten hätte ich mich wohl auf allerlei Ärger gefasst machen können. Die Anwesenheit von Theodore und James hingegen ließ mich sogar meine Höflichkeit vergessen, das Klopfen kurz halten und erst recht nicht eine Antwort abwarten.
Die beiden standen hinter dem Schreibtisch und redeten anscheinend über etwas, das dort ausgebreitet lag, ein Brief, wenn mich mein Blick nicht täuschte, doch es dauerte nur einen Sekundenbruchteil, bis sie aufsahen und mich im Raum entdeckten. Die Verwirrung, die sich auf dem Gesicht von beiden abzeichnete, war offensichtlich, aber um ehrlich zu sein, hätte ich mir selbst nicht zugetraut, sie einfach bei dem zu unterbrechen, was sie gerade taten.
„Ich hoffe, ich störe nicht", sagte ich, obwohl ich wusste, dass ich genau das tat.
„Natürlich nicht", antwortete James sofort und versuchte sein charmantes Lächeln zu zeigen, das allerdings keines war, welches er erzwingen konnte, wodurch seine Mundwinkel nun nur müde nach oben zuckten. „Brauchst du etwas Bestimmtes?"
Es schien für ihn offensichtlich zu sein, dass ich mit ihm reden wollte und ich fragte mich, wie er reagieren würde, wenn ich forderte, einen kurzen Moment allein mit Theodore verbringen wollte. Nichtsdestotrotz wollte ich dieses Wagnis eingehen.
„Eigentlich war ich auf der Suche nach Theodore", ließ ich meinen Wunsch verlauten. „Ich wollte ein paar Worte unter vier Augen mit ihm führen."
James beäugte mich kritisch, die Augenbrauen zusammengezogen. Es war offensichtlich, dass ihm das nicht gefiel, doch immerhin wetterte er nicht sofort dagegen. „Weswegen denn?"
„Ich wollte ihm danken", erwiderte ich schlicht.
„Das kannst du doch auch jetzt, wenn ich dabei bin." Er fragte nicht einmal, wofür ich Theo danken wollte. War es so klar oder scherte es ihn gar nicht, welche Belange ich hatte?
Ich schürzte die Lippen. „Nun, du lässt ihn gerade nicht einmal selbst zu Wort kommen."
Während ich das sagte, wandte ich mich Theodore zu, der unseren kleinen Disput halb amüsiert, halb besorgt beobachtet hatte und jetzt mit verschränkten Armen dastand.
„Will Theo denn etwas sagen?", forderte James heraus und es klang, als kämen diese Worte aus dem Mund eines kleinen Kindes. Wäre ich zu Scherzen aufgelegt gewesen, hätte ich wahrscheinlich sogar darüber gelacht.
„Ich habe nichts zu sagen, solange Evelyn mir nicht gesagt hat, was sie mir sagen will", meldete Theodore sich nun auch zu Wort, der es anscheinend doch nicht dabei belassen wollte, James und mich über eine Kleinigkeit in Streit zu geraten.
„Dann soll sie es doch sagen", meinte James daraufhin, eindeutig genervt klingend. Er war heute wieder launisch und ich war froh darüber, ihm in nächster Zeit aus dem Weg gehen zu können und keine Verpflichtungen ihm gegenüber erfüllen zu müssen.
Doch so froh ich darüber auch war, ich wollte nicht klein beigeben, sondern Theo alleine danken, da es sich um eine Sache handelte, die einzig und allein uns betraf. Und wenn ich es mir recht überlegte, war es eher beleidigend für James, anwesend zu sein, wenn ich offenbarte, dass es mich freute, für eine Weile nicht mehr seine Dienerin sein zu müssen.
„Ich denke, es wäre besser, wenn du uns ein wenig Privatraum lässt", beharrte ich noch einmal darauf, mit Theodore unter vier Augen zu sprechen, aber noch während ich das sagte, konnte ich beobachten, wie sich James' Blick noch weiter verdunkelte und sich seine Miene verhärtete.
„Es ist nicht angebracht, dich mit einem fremden Mann alleine zu lassen", versuchte er zu argumentieren, um sein deutliches Nein fadenscheinig zu begründen.
Ich hingegen hätte beinahe angefangen zu lachen. Er war doch die ganze Zeit über mit mir alleine, ohne, dass jemals irgendjemand daran Anstoß genommen hätte. Und jetzt wollte er nicht, dass ich wenige Minuten lang mit Theodore alleine war, von dem er wusste, dass unsere Differenzen zu groß waren, um einfach so überbrückt zu werden? Es war zum Verrücktwerden.
„Er ist wohl alles andere als fremd", konterte ich, doch ich hätte genauso gut mit einer Wand reden können. James blieb stur und wenn ich meinen Willen durchsetzen würde, gäbe es ein riesiges Donnerwetter, dessen war ich mir sicher.
Zwar war ich mit guten Vorsätzen hierhin gekommen, hatte mich zum ersten Mal seit Langem wieder gut gefühlt, als ich aufgestanden war, doch eine Minute mit James hatte das alles schon wieder zunichtegemacht.
Ich konnte ein Seufzen, für das er mich tadelnd ansah, nicht unterdrücken, als ich sagte: „Nun gut. Danke, Theo, dass du gewillt bist, meine Pflicht zu übernehmen, solange ich dazu nicht in der Lage bin. Du hast dich freiwillig dazu entschieden und das macht mich umso dankbarer und ich weiß nicht, wie ich diesen Gefallen jemals wieder zurückgeben soll."
Jetzt war es James, der die Arme verschränkt hatte, während Theodore mich anlächelte, weil meine Worte vielleicht auch keine Selbstverständlichkeit waren. Wahrscheinlich dachte er immer noch an meine Hand, die so unvorbereitet in seinem Gesicht gelandet war.
„Gern geschehen", antwortete er und bevor noch ein einziges Wort gesagt wurde, beschloss ich, dass ich es in diesem mit Spannung geladenen Raum nicht mehr aushielt und einfach ging.
Ich war mir bewusst, dass das sicher nicht der beste Weg war, den ich wählen konnte, aber immerhin war es derjenige, der die Erträglichkeit des heutigen Tages noch retten konnte.
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