Freitag, 16.05.1879

Ich hatte seit vierundzwanzig Stunden kein Wort mehr mit Florence gesprochen. Wenn sie sich in meiner Nähe aufhielt, wandte ich meinen Blick von ihr ab, zeigte ihr wortwörtlich die kalte Schulter. Ich fragte mich, ob es James, Lady Elizabeth oder vielleicht Theodore bald auffallen würde, dass ich den Kontakt mit dem Dienstmädchen mied und welche Fragen sie sich dann stellen würden, denn der Grund für meine neuerliche Abneigung gegen sie lag offensichtlich auf der Hand, wenn man eins und eins zusammenzählte.

Vielleicht war es aber auch Florence selbst, die ihrer Familie von meiner Entdeckung berichtete, um unangenehme Überraschungen für sich zu vermeiden. Ich wusste immer noch nicht, weswegen sie ihr Leben fristete wie eine ganz gewöhnliche Angestellte, doch sie musste in Ungnade gefallen sein, denn andernfalls konnte ich mir nicht begründen, weshalb eine so stolze Familie wie die Hamiltons ein Mitglied auf diese Art und Weise verstoßen sollten.

Bis jetzt schien aber noch alles die alten Wege zu gehen und nur für mich hatte sich etwas geändert und ich musste lernen, die Änderung hinzunehmen, was sich nicht einfach gestalten würde, da mein ganzer Alltag aus seinen Fugen gerissen worden war. Da heute jedoch der erste Tag war, machte ich mir noch Hoffnungen, dass es besser werden würde, je länger das Schweigen zwischen mir und Florence andauern würde.

Nicht, dass sie darauf aus gewesen wäre, denn auch an diesem Morgen wurde ich von ihr geweckt, auch wenn sie mich wesentlich schneller in Ruhe ließ als gestern, wenn es auch nur wenig angenehmer war.

Der restliche Tag verlief in einem zähen Trott, dem ich mich einfach hingab, indem ich mich wieder einmal daran versuchte, etwas Schönes zu sticken und sich mittlerweile wirklich eine Besserung einstellte, sodass ich die den Stickrahmen nach fast drei Stunden mit einem zufriedenen Gefühl beiseitelegte.

Gegen Abend allerdings kam noch eine Überraschung ins Haus, mit der niemand gerechnet hätte. Ich war gerade in der Bibliothek und durchstöberte die Regale nach einem Werk, das mich interessierte, weshalb ich hörte, dass jemand durch die Fronttür hineingelassen wurde. Natürlich fragte ich mich augenblicklich, wer das sein könnte und ging zur Eingangshalle, wo Lord Jonathan stand und Florence sowie Cornelia seine Sachen entgegennahmen.

Draußen regnete es wohl stark, denn der Hausherr war vollkommen durchnässt und mit seinen Schuhen hatte er dreckige Fußabdrücke hinterlassen. Er musste es wirklich sehr eilig gehabt haben, hineinzukommen.

Im selben Moment, als ich durch die Tür des Bücherzimmers in den Eingangsbereich trat, erschien auch Lady Elizabeth und eilte die Treppe hinunter, um ihren Gatten zu begrüßen. Man merkte es ihr äußerlich nicht an, aber an der Art ihrer Begrüßung erkannte man, dass sie nicht mit seiner Ankunft gerechnet hatte.

„Jonathan", rief sie aus, noch bevor sie ihn erreicht hatte. „Du bist zu Hause."

Unter anderen, geplanten Umständen, hätte sie deutlich mehr Worte zur Verfügung gehabt und ihn schon erwartet. Dieses Mal lag es nicht daran, dass nur mir nicht mitgeteilt wurde, wer anreiste, dass ich von einem Besuch überrascht wurde.

„Es tut mir leid, Liebes, dass ich meine Ankunft nicht vorher angekündigt habe, aber ich war in Erwartung, am Wochenende Termine in der Stadt wahrnehmen zu müssen, die dann aber kurzfristig abgesagt wurden, sodass ich die Möglichkeit bekam, die Tage hier zu verbringen", sprach Lord Jonathan die Bestätigung dafür aus, dass ich mit meiner Vermutung richtiglag.

Ich selbst stand einfach nur am Rand und wusste nichts mit mir anzufangen. Sicherlich wäre es angebracht, ihn zu begrüßen, doch ich wollte mich nicht aufdrängen, wo es keinen Grund dafür gab und wenn es ihm missfiel, was ich tat, würde er ohnehin äußern, was ich falsch gemacht hatte. Und womöglich nahm er ja gar nicht erst wahr, dass ich auch hier stand.

Da in der Eingangshalle nichts mehr weiter geschah und Lord und Lady gemeinsam weggingen, während Florence und Cornelia dafür sorgten, dass die Habseligkeiten, die Jonathan mit sich gebracht hatte, welche bloß eine Tasche und sein Mantel gewesen waren, dorthin gebracht wurden, wo sie hingehörten und die Spuren des schlechten Wetters auf dem Boden beseitigten, zog ich mich wieder ins Bücherzimmer zurück, doch anstatt weiter nach einer neuen Lektüre zu suchen, ließ ich mich einfach auf dem Sofa nieder und dachte nach.

Es kam mir ungewöhnlich vor, dass der Lord einfach so zurück nach Hause kam, einfach aus dem Grund heraus, dass er die Möglichkeit dazu hatte. Viele Männer, die viel Zeit in ihre Arbeit steckten, mochten ihre freie Zeit lieber bei der Familie oder wenigstens auf dem Land verbringen, aber nicht so Lord Jonathan. Ich hatte noch keinen einzigen Tag erlebt, an dem er sich nicht in seiner Arbeit vergraben hatte und wenn die Abgeschiedenheit genutzt hatte, um sich zu erholen. Er war kein besonders geselliger Mensch und wenn er sich doch unter Leute wagte, gab es immer einen weiterreichenden Grund dafür, als den bloßen Wunsch, die Familie mit seiner Anwesenheit zu beehren. Es war wahrscheinlich, dass wieder etwas vorgefallen war.

Im besten Falle war es etwas, das mich nicht tangierte, vielleicht eine weitere arme Dienerin, die der Lord in seinen Keller sperrte, um sie auf diese Weise zu bestrafen. Dann gab es da die Option, dass Annabeth ihre Eskapaden fortgesetzt und sich dem Willen ihrer Familie widersetzt hatte. Der schlimmste Fall, der mir in den Sinn kam, war jedoch ein anderer, denn ich hatte keine Bestrafung durch den Rat erhalten, obwohl man in dem Glauben war, ich hätte die Hamiltons verraten wollen, was bei der Dichte der Gerüchte, die im Umkreis gewesen waren, fatale Auswirkungen gehabt hätte. Würden sich die Mitglieder dieses Rates weiter mit Annabeth' Vergehen beschäftigen, konnten sie genauso gut auch auf meines stoßen.

Der Gedanke an den schlechtesten Fall ließ sich allerdings nur kurz halten, denn wenn es wirklich etwas mit mir zu tun hätte, hätte der Lord mich schon längst aufgesucht oder wäre direkt mit einer Garnison angerückt, um mich festzunehmen, zu foltern oder zu töten. Wenn überhaupt, denn wenn mein Verrat an die Oberfläche käme, würde ihn das in ein ebenso schlechtes Licht rücken und womöglich sogar als Agitator behandeln.

Es musste einen anderen Grund haben, wegen welchem Jonathan Hamilton nach Hause zurückgekehrt war und ich würde warten müssen, um herausfinden zu können, welcher es war. Immerhin hatte ich so einen Grund, mich auf das Abendessen zu freuen, bei dem es für mich als stumme Beobachterin nun auch endlich etwas zu beobachten gab.

Die Stunde, bis es für mich an der Zeit war, mich umzuziehen, dauerte ewig lange an und als es sich endlich lohnte, mich in einen anderen Dress zu kleiden, hatte sich die Nervosität wieder einmal durch meinen ganzen Körper gefressen. Ich war so erpicht darauf, zu erfahren, weshalb Lord Jonathan hier war, dass ich sogar jetzt, nach gerade einmal einem Tag, vergaß, mich von Florence fernzuhalten und ihr auftrug, mir beim Umziehen zu helfen. Ich machte dabei zwar deutlich, dass jeder Wortaustausch abseits des Nötigsten unerwünscht war, aber für sie musste es trotzdem ein kleiner Triumph sein, für mich doch unabdingbar zu sein.

Ich merkte, wie ihr die Worte schon auf der Zunge lagen und sie den Mund nur würde öffnen müssen, um erneut auf mich einzureden und sich zu rechtfertigen, doch sie beherrschte sich, ebenso wie ich, sodass es mir fast so vorkam, als sei sie Mary oder Matilda mit denen ich ebenfalls kaum mehr als ein nötiges Wort gesprochen hatte.

Wir waren kaum mehr als zehn Minuten in einem Zimmer und als wir schließlich beiden den Raum verließen, war es für mich doch eine Erleichterung, die ich voll ausnutzte, denn ich erwartete im Speisezimmer eine ähnlich angespannte Atmosphäre, wie fast immer, wenn mehr als die Hälfte der Hamiltons sich am gemeinsam am Tisch eingefunden hatte. Jedoch wurde ich eines Besseren belehrt, denn obwohl es deutlich gelöster hätte sein können, war es mir auch nicht unangenehm, mich wie ein Eindringling zu ihnen zu setzen.

Es wurde aufgetischt und das Klappern des Bestecks und die leisen Kaugeräusche der Anwesenden wurde begleitet vom Austausch von Neuigkeiten. Lady Elizabeth hatte von diesen wenige hervorzubringen, denn das Leben in Hamilton Manor war nicht besonders aufregend. In London allerdings hatten sich mehr Dinge ereignet, doch ich musste feststellen, dass das meiste nur Geschichten über andere Familien waren, wie sie in jedem Haushalt erzählt wurden. Alte Leute starben, junge Leute heirateten und bekamen Kinder, manchen wurde eine Affäre nachgesagt und wiederum andere schienen enthaltsam zu leben, da der Nachwuchs auch nach Jahren der Ehe immer noch ausblieb. Es waren alles Themen, die Elizabeth interessierten und die ihr Gatte ihr zu Liebe auf den Tisch brachte. Ein Skandal, der darüber hinausging, dass irgendein Duke mit einem fünfzehnjährigen Dienstmädchen in flagranti erwischt wurde, existierte nicht.

So ging auch der Rest des Abendessens vorüber und ich war nachher nicht schlauer als zuvor, hatte aber immerhin die Gewissheit, das nichts mit gravierenden Folgen für mich vorgefallen sein konnte. Der Lord würde bis Sonntagnachmittag hierbleiben, sich aller Wahrscheinlichkeit nur außerhalb meines Bereiches bewegen und das Leben würde weitergehen wie bisher. Alle meine Hoffnungen, aber auch meine Ängste blieben unerfüllt, auch wenn ich mir nicht sicher war, ob ich dem etwas abgewinnen konnte oder nicht.

Einen leichten Frust darüber verspürend zog ich mich für den restlichen Abend in den Salon zurück, wo ich erneut stickte, denn eine anständige Lektüre hatte ich immer noch nicht gefunden. Ich wünschte mir in diesen Momenten, in denen mir die Ideen ausging, wie ich mich beschäftigen konnte, ich würde ein Instrument beherrschen, doch ich hatte es als Kind nicht gelernt und selbst als ich vor ein paar Jahren kurze Ambitionen gezeigt hatte, hatte ich mich als hoffnungsloser Fall herausgestellt. Ganz so wie Annabeth einer war, wenn ich ihr glauben sollte, denn ich hatte sie noch nie musizieren hören, ihre Mutter allerdings auch nicht.

Also musste ich heute auf die Gesellschaft bauen, die mir gegeben war, doch gerade als ich den ersten Stich getan hatte, kam James herein und eröffnete mir, er würde heute keine Zeit mit mir verbringen können, da er Dinge mit seinem Vater zu bereden hatte. Ich nahm es einfach so hin und stellte mich darauf ein, in angespanntem Schweigen neben Lady Elizabeth zu sitzen, doch auch die schien sich anderweitig zu beschäftigen. Einzig Theodore hatte genau wie ich keine Pflichten, die er erledigen musste und da es sonst niemanden gab, gesellte er sich zu mir.

Zunächst saß er einfach nur da und stierte ins Leere, bis ich fast vergessen hatte, dass er auf der anderen Seite des Couchtisches saß. Erst durch ein Räuspern wurde ich wieder auf ihn aufmerksam, denn er tat es so laut, dass offensichtlich war, dass er jetzt anfing zu sprechen. Ich versuchte mich daran zu erinnern, wann Theo das letzte Mal alleine mit mir hatte reden wollen und stellte fest, dass ich mich dessen nicht mehr entsinnen konnte.

„Jonathan hat mir heute Neuigkeiten von Anna überbracht", begann er zögerlich, so als wollte er abschätzen, wie ich auf eine Konversation mit ihm reagierte. „Er hat sie nicht mehr zu Gesicht bekommen, seit wir London verlassen haben, denn immer, wenn er zu Hause ist, verbarrikadiert sie sich in ihrem Zimmer und weigert sich, rauszukommen."

Es schien ihm unwohl zu sein, mir davon zu berichten oder aber es lag daran, dass ihm nicht behagte, wie Annabeth sich verhielt. Ich selbst wusste allerdings auch nicht besser, wie ich reagieren sollte, weswegen ich sagte: „Das klingt alles andere als gut."

„Allerdings." Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare, wie ich es ihn öfter tun sah. „Ich würde so gerne von ihr persönlich hören, aber natürlich verbietet Jonathan es rigoros. Er ist ein Mann seiner Worte und wird seine Strafe durchziehen. Ich kann mir nur nicht erklären, wieso Anna sich jetzt so verhält, als wäre sie ein stures, kleines Kind. Ja, sie ist stur, aber sich in ihrem Zimmer einzusperren, ist fast so merkwürdig, wie von Ian Douglas zu trinken. Selbst da dachte ich schon, sie hätte den Verstand verloren, auch wenn sie mir danach gesagt hat, es wäre alles gut."

„Mir erschien es auch äußerst kurios", erwiderte ich, unsicher, wie weit ich das Gespräch vorantreiben sollte.

„Ich weiß einfach nicht mehr, was ich denken soll. Seit wir uns kennen haben wir uns alles anvertraut, konnten genau vorhersagen, was der andere tun oder sagen würde und jetzt hat es sich aus heiterem Himmel geändert. Vielleicht hat sie dir ja etwas anvertraut... Irgendetwas." Es war erst jetzt, dass ich bemerkte, wie sehr er sich verändert hatte. Theodore hatte deutliche Ringe unter den Augen, das Hemd hing lockerer an seinem Körper und er wirkte nicht gesund. Dabei hatte seit ein paar Wochen niemand mehr von ihm getrunken. Der seelische Schmerz setzte ihm wohl mehr zu.

Auf einmal konnte ich nicht anders, als Mitleid für ihn zu empfinden. „Es tut mir leid, aber es hat mich genauso überrascht wie dich. Ich konnte noch nie sagen, was in Annabeth vorging, doch das war mehr, als ich mir je ausgemalt hätte."

Theodore seufzte. „Genau. Ist nicht schlimm, wenn du nichts weißt. Ich bin froh, dass du überhaupt mit mir geredet hast. Die Hamiltons wissen übrigens keinen Deut mehr als wir, sonst hätte ich es schon längst erfahren und Jonathan wäre nicht so fertig."

„Fertig?"

„Ja, er ist mit den Nerven ziemlich am Ende, wenn du mich fragst. Es lässt ihn einfach nicht los, dass sein kleines Mädchen nicht mehr mit ihm redet, sich ihm nicht einmal mehr zeigt. Und wäre er nicht mindestens genauso stur wie sie, hätte er ihre Tür schon längst aufbrechen lassen."

Es überraschte mich, welche Sicht Theo auf den Lord hatte. Man merkte, wie viele Jahre er schon bei dieser Familie verbracht hatte und wie sehr sie ihn hatten an ihrem Leben teilnehmen lassen. Er öffnete mir die Augen zu einer völlig anderen Perspektive.

„Dann hilft es wohl nur, wenn wir abwarten", sagte ich schließlich und Theodore antwortete darauf mit einem Nicken. Damit war unsere kleine Unterhaltung beendet, aber wenn er mir mehr über den Lord, die Lady und auch James verraten konnte, würde es nicht die letzte bleiben.

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