Freitag, 14.03.1879

Meine weitere Korrespondenz mit Isabella hatte ergeben, dass sie mich um 14:30 Uhr abholen und wir zusammen zu dem Café fahren würden, welches sie so sehr angepriesen hatte. Natürlich reichte James' Erlaubnis mir nicht und ich hatte mich an Lady Elizabeth gewandt, die nach einer schnellen Absprache mit ihrem Ehegatten unverzüglich zugestimmt hatte. Niemand schien verdacht zu schöpfen und ich hegte tatsächlich die Hoffnung, einen schönen Tag zu verbringen.

Dieses Mal waren auch die Wunden schneller wieder verheilt und ich fürchtete nicht, dass sie ein weiteres Mal aufgehen würden. Trotzdem hatte ich mein Handgelenk verbunden gelassen, um unangenehmen Fragen mit einer Ausrede aus dem Weg gehen zu können.

Isabella erschien pünktlich um halb drei in einer Droschke. Das Wetter war dem Monat März entsprechend kühl, aber immerhin war es trocken und die ersten Sonnenstrahlen fanden immer wieder ihren Weg durch die Wolkendecke und brachten gute Laune mit sich.

Ich tauschte ein paar schnelle Worte der Verabschiedung mit James aus und ging mit schnellen Schritten zu der Kutsche, in der Isabella mich lächelnd erwartete.

„Hast du noch Vorschläge, was wir heute machen sollen?", fragte sie mich mit ihrem italienischen Akzent, als die Droschke sich ruckelnd in Bewegung setzte und begann sich ihren Weg durch die gut gefüllten Straßen zu bahnen.

Ich zögerte. Ich hatte damit gerechnet, dass sie alles durchgeplant hatte. Es war nun schon lange her, dass ich Entscheidungen hatte fällen dürfen. Auch wenn es nur so eine kleine war, fühlte es sich ungewohnt an und ließ mich angestrengt nachdenkend zurück. Ich wollte ihr aber unbedingt eine Antwort geben, denn ich wollte ihr als ebenbürtige, selbst denkende Frau begegnen und mich nicht sofort in ihren Schatten stellen. Ich fürchtete sogar, dass sie solche Frauen nicht leiden konnte und ich wollte nicht den Groll Isabellas auf mich ziehen.

„Wir könnten zu Harrods gehen", schlug ich nach einer meiner Meinung nach viel zu langen Bedenkzeit vor. Annabeth hatte in fünf Tagen Geburtstag und ich hatte noch immer kein Geschenk für sie gekauft, obwohl es angemessen wäre, ihr etwas zu schenken. „Ich benötige noch ein Geschenk für Annabeth und deine Beratung ist sicherlich hilfreich."

„Dann machen wir es so und werden danach zum Café fahren", sagte Isabella. „So haben wir dann wenigstens das Gefühl etwas getan zu haben, bevor wir es uns bei Kaffee, Tee und Kuchen gut gehen lassen."

-

Das Kaufhaus Harrods im Stadtteil Knightsbridge bot alles, was das Käuferherz begehrte. Ich hatte nicht die geringste Vorstellung davon, was ich Annabeth eigentlich schenken wollte und das Überangebot, das hier herrschte, half mir nicht gerade weiter, eine Entscheidung zu treffen.

Isabella fragte mich nach Interessen und Vorlieben Annabeths aber ich musste resigniert feststellen, dass ich darüber kaum Bescheid wusste. Ich hatte gedacht, sie wäre meine Freundin, aber wusste man nicht, was einer Freundin gefiel, was sie sich wünschte oder wenigstens ihre Lieblingsfarbe?

Ich wusste, dass Annabeth nicht mit anderen Frauen zu vergleichen war und nie sein würde, aber wenn man es nicht besser wusste, erschien sie einem durch und durch menschlich. Es musste also etwas für sie zu finden sein.

Wir gingen durch unzählige Gänge, sahen uns auf den verschiedenen Etagen um und schließlich entschied ich mich für ein Parfum, das nach Wildrosen roch und nicht zu aufdringlich war. Es schien zu Anna zu passen und auch Isabella meinte, dass es eine ausgezeichnete Wahl war. Also bezahlte ich und wir verließen das Warenhaus nach etwas mehr als einer Stunde wieder.

Ich war froh, als wir wieder in einer Droschke saßen und endlich zu dem angepriesenen Café fuhren. Ich wusste nicht einmal woran das lag, denn ich fürchtete, mich ihr in einem Gespräch unter zwei Augen Rede und Antwort stehen zu müssen, was dir Gerüchte anbelangte. Anders konnte ich mir nämlich nicht erklären, wieso eine verheiratete Frau sich mit einem Mädchen wie mir treffen sollte, so nett sie auch war, es gab nur diese eine Sache, die für sie von Interesse sein könnte.

Wir hielten am Piccadilly Circus und gingen von dort aus zu Fuß. In einer unscheinbaren Nebenstraße fanden wir das Café, das sehr gemütlich aussah und in dem nur eine Handvoll Leute saßen. Als wir eintraten wurden wir sofort von einer älteren Dame begrüßt, die uns zu einem kleinen Tisch in der hinteren Ecke des Gastraumes führte, wo wir genug Privatsphäre hatten, um heikle Unterhaltungen zu führen. Trotzdem blieb ich noch ruhig, als wir uns eine Kanne Earl Grey und jeder ein Stück Kuchen bestellten. Ich wählte eine französische Apfel-Tarte und hoffte, dass diese nicht zu mächtig war, denn ich wollte nicht, dass mir etwas auf den Magen schlug.

Unsere Unterhaltung erinnerte mich an die, die wir auch schon auf der Soiree geführt hatten. Isabella erzählte mir aus ihrem Leben, das deutlich mehr herzugeben hatte als meines und irgendwann gelang es mir, mich zu entspannen und mein Stück Kuchen zu genießen.

„Ich möchte nicht darüber klagen, wie einfach mein Leben ist", erzählte Isabella, „und dass es grausam wäre, den ganzen Tag zur Verfügung zu haben, ohne je einen Finger rühren zu müssen, aber es ist tatsächlich so, dass es mich anödet. Natürlich wird von einer wohlhabenden verheirateten Frau erwartet, dass sie sich engagiert und das tue ich auch, aber findest du nicht, dass viel mehr nötig wäre, als etwas von seinem Geld abzugeben, Waisenkindern die Hand zu schütteln und so zu tun als sei man der gnädigste Mensch auf Erden, weil ich ihnen etwas von meinem Wohlstand abgebe?"

Ich wollte mit den Schultern zucken und lieber nicht antworten, da ich mir über diese Sachverhalte noch nie Gedanken gemacht hatte und mich jetzt sogar dafür schämte.

„Ich weiß nicht", begann ich zögerlich, um Zeit zu schinden und suchte nach einer Antwort im Bodensatz meiner Teetasse. „Ich wüsste nicht, was ich machen könnte, um alle Missstände aufzulösen. Ich könnte arbeiten, denke ich, aber welcher Arbeit sollen wir schon nachgehen?"

„Manchmal denke ich, dass es das Beste wäre, wenn wir alle dieselbe Arbeit verrichten würden. Man könnte sich abwechseln mit den Aufgaben. Mal hütet eine Frau die Kinder und die andere schrubbt sich die Hände blutig, während wieder eine andere eine Schicht in der Fabrik verrichtet. Dann müsste ich mir keine Gedanken darüber machen, ob ich am nächsten Tag vor Langeweile sterbe, während eine andere Frau das Sterben nicht als Metapher sieht und wirklich wegen Hunger, Kälte und Krankheit um ihr Leben fürchten muss. Und dass ich ein paar Mal in der Woche ein Waisenhaus besuchen gehe und einem Krankenhaus im East End Geld spende, hilft weder mir noch ihnen auf die Dauer weiter."

„Das sind sehr lobenswerte Gedanken", brachte ich hervor, erschlagen von der Stärke ihrer Aussage und der Ernsthaftigkeit, die dahintersteckte.

„Du bist also derselben Ansicht?", hakte sie nach.

„Ich kann deine Gedanken gut nachvollziehen." Aber das Unrecht findet sich nicht nur bei den Armen und ich weiß bei Gott nicht, wie ich anderen helfen soll, wenn mein eigenes Leben schon dabei ist, mich zu erschlagen, fügte ich in Gedanken hinzu.

„Würdest du mich denn in meiner Sache unterstützen?", fragte sie.

„Was beabsichtigst du denn zu tun? Wir sind Frauen, Isabella, und du bist noch dazu eine Ausländerin, wenn ich das so brüsk anmerken darf."

Isabella schürzte die Lippen. „Da hast du Recht, aber es gibt immer Mittel und Wege und ich werde meine finden. Ich will eine wirkliche Wohltäterin werden. Ich möchte helfen und das nicht nur aus dem Grund heraus, mich gut zu fühlen und so auf andere Art zu bereichern."

Isabella Carter-Heffley beeindruckte mich zutiefst und es ärgerte mich, dass ich nicht voll und ganz auf sie eingehen konnte. „So wie ich dich einschätze, wirst du bestimmt Erfolg haben", versuchte ich diesen Inhaltspunktes unserer Unterhaltung positiv abzuhaken.

Und tatsächlich wechselten wir das Thema. Allerding schlugen wir jetzt eine Richtung ein, die mir ganz und gar missfiel.

„Ich weiß, ich bin eine schrecklich neugierige Person", fing Isabella an, „aber es interessiert mich einfach zu sehr, ob du etwas Neues über die Gerüchte weißt."

Ich schluckte. Ich hatte mich selbst in diese missliche Situation gebracht, ohne es auch nur ansatzweise beabsichtigt zu haben. Jetzt musste ich mich irgendwie wieder daraus retten.

„Mir ist jetzt auch von anderer Seite zu Ohren gekommen, dass schlecht über die Hamiltons geredet wird", gab ich zu, um mich mit der halben Wahrheit aus der Affäre zu ziehen. „Allerdings muss ich einfach sagen, dass ich nicht verstehe, wie jemand auf die Idee kommt, diese entsetzlichen Lügen zu verbreiten."

„Es gefällt mir nicht, das zu sagen, aber ich kenne die Person von der die Gerüchte stammen. Er ist vertrauenswürdig und auch das, was er behauptet an beweisen zu haben, scheint unbestreitbar zu sein. Gerade deswegen ist es mir so wichtig, was du dazu sagst."

Ich nickte. „Ich verstehe, aber ich kann nichts anderes tun, als die Wahrheit zu sagen und diese ist, dass die Hamiltons nichts zu verbergen haben."

Ich wollte mein linkes Handgelenk berühren, um über den Verband zu streichen, wie ich es mir in der letzten Woche angewöhnt hatte, hielt mich aber zum Glück noch rechtzeitig davon ab. Ich konnte diese aalglatte Lüge nicht durch so eine kleine unbedachte Geste zunichte machen.

„Dann werde ich dir glauben", sagte Isabella und ich konnte nicht feststellen, ob von ihr nun nichts mehr zu befürchten war oder doch. „Der Tee ist leer, ich glaube es ist Zeit zu bezahlen und zu fahren."

-

Es war keine Minute, nachdem ich meinen Mantel abgelegt hatte, als Mary zu mir kam und mir sagte, Lord Jonathan wolle mich in seinem Arbeitszimmer sprechen. Das konnte nichts Gutes verheißen, nicht nach meinem Treffen mit Isabella.

Mit wackligen Knien ging ich die Treppe nach oben und zum Arbeitszimmer des Lords. Auf mein Anklopfen hin ertönte ein sofortiges „Herein".

„Guten Tag, Sir", begrüßte ich den Hausherrn, der hinter seinem Schreibtisch saß wie ein König auf seinem Thron.

„Evelyn", sagte er kühl und wies mit der Hand auf einen Stuhl vor seinem Arbeitsplatz. „Setz dich doch bitte."

Ich tat wie mir geheißen und wischte mir unauffällig die schwitzigen Hände an meinem Rock ab, so nervös war ich. Ein Glück, dass er kein Freund langer Worte war und ich mich darauf verlassen konnte, dass er sofort auf den Punkt kam.

„Du kannst dir sicherlich schon denken, dass ich dich wegen deines Treffens mit Isabella Carter-Heffley sprechen möchte. Eigentlich habe ich nur eine Frage, die ich dir im Zusammenhang damit stellen möchte, aber es ist eine Frage von Bedeutung und ich will nicht, dass du leichtfertig antwortest oder mich gar anlügst. Du bist in die Angelegenheit ebenso involviert wie wir es sind und es soll dir klar sein, dass das alles nur zu deinem Selbstschutz geschieht."

Ich war mir sicher, dass er sich seine eigene Lüge nicht abnahm. Ich war nicht genauso involviert wie er es war. Es ging ihm lediglich darum, seinen eigenen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Mir würde man glauben, dass ich von nichts gewusst hatte, wenn man Isabella befragte. Wieso hatte ich dann so große Angst vor dem, was kommen würde?

„Ich will lediglich wissen, was Isabella dir in Bezug auf die Gerüchte gesagt hat. Dass sie davon weiß, brauchst du nicht zu leugnen, aber es ist doch sehr wahrscheinlich, dass sie dich darauf angesprochen hat."

„Sie hat mich gefragt, ob die Gerüchte wahr sind und ich habe gelogen", sagte ich ohne jedwede Ausschmückung.

„Das war alles?", fragte Jonathan noch einmal. „Ich kann nicht Recht glauben, dass eine so gesprächige Frau wie Isabella es dabei belassen hat."

„Ich lüge Sie nicht an, wenn Sie mir das vorwerfen", erwiderte ich abweisend. Ich hätte ihm gerne in die eiskalten Augen gesehen, traute mich aber nicht. Ich hatte ihm schon einmal die Stirn geboten, mit geringem Erfolg. Heute würde ich das aber nicht mehr zustande bringen.

„Noch werfe ich dir rein gar nichts vor. Dürfte ich denn fragen, welche gemeinsamen Interessen ihr denn trotz des Altersunterschiedes aufweisen könnt? Du kannst doch sicherlich nachvollziehen, dass ich es als ungewöhnlich erachte, dass eine verheiratete Frau, die bekannt dafür ist hohe Ansprüche zu haben, sich mit einem Mädchen wie dir trifft, das nicht einmal derselben Klasse wie sie angehört."

„Vielleicht findet sie mich auch einfach nur nett und sucht etwas Abwechslung in ihrem Leben", antwortete ich ehrlich. „Und außerdem haben wir gemeinsam ein Geburtstagsgeschenk für Annabeth gekauft, ein Parfum, wenn sie es unbedingt wissen müssen. Sie bekommen es dann in ein paar Tagen zu Gesicht, wenn Sie ihren Beweis brauchen und nach all den Monaten immer noch nicht bereit sind, mir zu vertrauen."

„Du hast deine Schlagfertigkeit noch nicht aufgegeben und ich muss sagen, das gefällt mir. Ich habe bei dir das Gefühl, jeder stiller und gefolgsamer du bist, desto unehrlicher bist du auch. Du darfst jetzt gehen."

Ich ging, ohne ein weiteres Wort zu sagen und dachtedarüber nach, was er mir gerade mitgeteilt hatte und kam zu dem Schluss, dasser die Wahrheit sagte. Ich stand laut für das ein, was ich als rechtens empfandund brütete leise vor mich hin, wenn ich mit etwas nicht einverstanden war odereine Lüge verdecken musste. Er hatte mich durchschaut, ohne dass mir dieseEigenschaft selber bewusst geworden war. Lord Jonathan war mir gefährlicher alsich gedacht hatte und er bekam anscheinend viel mehr vom Leben in seinem Hausmit, als man denken mochte.

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