Freitag, 06.06.1879

Florence schläft gerade glücklich im Arm ihrer Tante und ich habe somit die Zeit, endlich wieder ein paar meiner Gedanken zu Papier zu bringen. Vor drei Tagen sind die ersten Verwandten angereist. Zuerst Samuel, der nach nicht einmal achtundvierzig Stunden schon wieder die Heimreise angetreten hat, kurz darauf meine Eltern, die sich am heutigen Morgen von uns verabschiedet haben. Dann natürlich auch Georges Eltern, die uns ohnehin ständig besuchen werden, solange ihre Gesundheit das zulässt und zu guter Letzt Jonathan und seine Elizabeth. Ich frage mich, wann die beiden ihr erstes Kind erwarten werden, aber ich denke, es kann nicht mehr lange dauern, wenn ich die beiden mit meiner kleinen Tochter betrachte. Vor allem Elizabeth ist ihr ganz zugetan und will sie am liebsten gar nicht mehr aus dem Arm geben. Wir haben schon gescherzt, dass wir weder Kindermädchen noch Gouvernante einstellen müssten, würden die beiden bei uns wohnen.

War das wirklich dieselbe Elizabeth Hamilton, die ich kannte? Die Frau, die Grace mir in ihrem Tagebuch schilderte, schien sich so radikal von der Frau unterscheiden, unter deren Dach ich lebte, dass ich unfähig war mir zu erklären, wie sich so verändert haben konnte. Oder sie war damals einfach besser darin gewesen, ihre wahre Natur zu verstecken.

Vielleicht sollte ich mich auch darin üben, mich zu verstellen, um das Bild, das die Hamiltons von mir erlangt hatten, wieder zu verbessern. Gerade nach den Ereignissen am Mittwoch und dem gestrigen Tag musste ich mir James' Anerkennung wieder von Neuem verdienen. Ich wusste, dass ich das nicht schaffen konnte, wenn ich mich in meinem Zimmer verkroch und in dem Tagebuch seiner Tante las, doch nachdem ich ihm gestern von mir zu trinken gegeben hatte, war ich heute ausgesprochen müde erwacht und hatte nach einem ausgiebigen Frühstück dringend nach Ruhe gesucht. Zwar hätte ich versuchen können, ihm etwas vorzuspielen, aber wäre ich Gefahr gelaufen, ohnmächtig zu werden, wäre mir das noch weniger nützlich gewesen.

Es war nicht einfach für mich gewesen, die Tortur erneut durchstehen zu müssen, aber es war schneller vorbeigewesen, als ich zu Anfang vermutet hätte. So gab es wenigstens etwas Positives, das ich dem Ganzen zuschreiben konnte. Von Theodore hatte ich Lob erhalten, aufmunternde Worte und ein vielleicht ein bisschen zu selbstgefälliges Lächeln, aber ich hatte den Eindruck, dass er sich bemühte und wenn wir das beide taten, würden wir uns vielleicht irgendwann aufeinander verlassen können.

Ein guter Weg, um jenes Vertrauen langsam auszubaue, wäre es womöglich, ihm vom Tagebuch zu erzählen, ihn selbst darin lesen und sich ein Bild machen zu lassen, doch den Gedanken hatte ich verworfen, sobald ich das Büchlein eben aus der Schublade genommen hatte. Wann immer ich es ansah, musste ich an Florence denken, da es ihr Eigentum war, denn schließlich hatte es ihrer Mutter gehört und musste einen gewissen sentimentalen Wert besitzen.

So sehr sie mich auch verletzt hatte, indem sie mir Fakten vorenthalten hatte, ich würde es ihr nicht gleichtun, indem ich gegenteilig vorging und etwas so Privates einem Dritten offenbarte, ohne zuvor ihr Einverständnis zu erlangen. Barbarisch wie manches hier auch war, meinen Anstand wollte ich mir bis zum Schluss bewahren, denn im Zweifel war er das, was mich von ihnen unterschied.

Der nächste Eintrag war etwas länger und obwohl ich gerade erst einen gelesen hatte, schlich sich das Bedürfnis, das Buch einfach wieder zuzuschlagen, nun zum wiederholten Male in meine Gedanken. Ganz so, als würde die Unwissenheit mich schützen. Dieses Mal hatte ich mir aber vorgenommen, keinen Rückzieher zu machen und wenn ich daran dachte, dass ich James gestern mein Blut gegeben hatte, obwohl alles in meinem Kopf dagegen angeschrien hatte, war das ein Anlass, jetzt ebenfalls nicht aufzugeben.

Es ist schon wieder so viel Zeit verstrichen, dass ich es nur glaube, weil meine Kleine so sehr gewachsen ist. Fast vier Monate ist sie jetzt schon auf der Welt und egal ob sie schreit oder mich mit ihrem wundervollen zahnlosen Lachen erfreut, ich liebe sie mehr als alles andere auf dieser Welt und bereue die neun Monate nicht, in denen ich teilweise zwischen Leben und Tod bangen musste und mich manchmal selbst hasste, weil ich mir die Tortur antat – für meine Tochter.

Aber die Zeit des Leidens ist noch nicht vorbei. Zumindest ist es das, was ich in den vergangenen paar Wochen herausgefunden habe. Ich weiß nicht, ob das Schicksal mir einen Hinweis offenbart, auf die eigenartigste und gleichsam niederschmetterndste Art und Weise, aber die Krankheit, die mich nur ein paar Tage nach dem Besuch unserer Familie getroffen hat, fühlte sich weitaus schlimmer an als jeder Moment der Schwäche, den ich während der Schwangerschaft erfahren habe.

Wenn dies wirklich eine Nachricht ist, die das Schicksal mir in Fleisch und Knochen ritzen will, sagt es mir so wahrscheinlich direkt ins Gesicht, dass die Vermeidung des Blutkonsums nicht der richtige Weg ist, dass ich die Einnahme meiner wöchentlichen Ration wieder fortsetzen soll, um bei meiner Tochter zu sein, was die großartigste und größte Aufgabe einer Mutter ist.

Doch offensichtlich bin ich nicht gewillt, mich dem Drang, den die Natur in mich gesetzt hat zu beugen. Abstinenz mag Zerbrechlichkeit verursachen, aber nichtsdestotrotz fühle ich mich besser als je zuvor, wenn ich daran denke, wie unabhängig ich bin; die Hoffnung, dass mein Körper sich von alleine daran gewöhnt, nicht aufgebend.

Selbst, wenn ich alleine dastehe, ohne die Unterstützung meines Ehegatten, der meine Einstellung vor meinen Augen nicht mehr nur müde belächelt, sondern mir offen zeigt, dass er sie nicht nur nicht wertschätzt, sondern sich vollends dagegen ausspricht. Er fordert die Frau zurück, die er geheiratet hat, verlangt sogar von mir, dass ich jede Ration, die ich versäumt habe zu nehmen jetzt im Nachhinein trinke und vor vier Wochen etwa, als die Krankheit ihren Höhepunkt erreicht hatte, hätte ich beinahe nachgegeben. Aber nur beinahe, denn wozu hätte ich all das schon Erlittene überstanden, wenn ich mich nachgiebig gezeigt hätte?

Und mein eiserner Wille hat sich bezahlt gemacht, denn nun sitze ich hier, erfreue mich wieder meiner Gesundheit und kann wieder am Leben meiner Tochter teilhaben, sie im Arm halten und am liebsten nicht wieder loslassen. Außer, wenn sie Hunger bekommt, denn ich konnte ihr keine Milch geben, weswegen George eine Amme angestellt hat, eine ganz gewöhnliche und gesunde Frau, die genug Milch für Florence und ihren eigenen Sohn hat und der ich ewig dankbar für ihre Dienste bin. Was ist wohl, wenn sie etwas ihrer Gesundheit auf meine Kleine überträgt und sie leben kann wie ich jetzt, ganz ohne den lästigen Konsum menschlichen Bluts?

Wenn es nach meinem Ehemann ginge, würde ich es wohl nie erfahren, doch solange ich hier bin, werde ich sie nach meinen Idealen erziehen. Dessen bin ich mir jetzt schon sicher, obwohl mir noch ein paar Jahre bleiben, bis es wirklich dazu kommt, dass diese Entscheidung getroffen werden muss und die ich hoffentlich überstehen werde, ohne, dass meine Ehe entzweibricht...

Ich konnte nicht anders, als tiefstes Mitgefühl für Grace zu empfinden. Es kam mir so vor, als wolle sie ihre Enttäuschung darüber, dass ihr Mann sie im Stich ließ, wenn sie nicht genau dem folgte, was er von ihr verlangte, nicht in ihrer vollen Form niederschreiben. Wahrscheinlich aufgrund des schlechten Gewissens, etwas Negatives über ihn gedacht und es sogar für jeden, der das Tagebuch in Händen hielt, lesbar gemacht zu haben.

Doch anscheinend hatte es ihr auch nichts genützt, ihre bösen Gedanken für sich zu behalten und vorzugeben, dass alles in bester Ordnung sei, denn ihre Tochter arbeitete nun bei der eigenen Familie als Dienstmädchen und auch wenn ich mir sicher war, dass sie hier niemals schlecht behandelt wurde und eigentlich sogar besser als jede gewöhnliche Hausangestellte, wie mir nun im Nachhinein auffiel, kam mir dies bei den Hamiltons, die so sehr auf ihre Familienehre pochten, merkwürdig vor.

Es sei denn sie war eine Verstoßene, weil sie der Philosophie ihrer Mutter folgte. Ich hatte Florence noch nie Blut trinken sehen und es wurde mir gegenüber auch kein Mal erwähnt. Sie konnte ein Leben führen wie jeder andere menschliche Angestellte auch und es fiel einem nicht auf. Aber musste sie wirklich arbeiten, nur, weil sie nicht einer Ideologie folgte auf die sie gar nicht angewiesen war? Es war schließlich naheliegend, dass der Traum ihrer Mutter sich in ihr verwirklicht hatte und sie auch ohne Blut eines Menschen gesund blieb.

Zwar hatte ich mir geschworen, kein Wort mehr als nötig mit dem Hausmädchen zu wechseln, aber strenggenommen hatte ich diesen Schwur schon gebrochen. Ich verlangte nach Antworten und diese würde ich wahrscheinlich auch bekommen, wenn ich nur danach fragte. Und wenn ich mich Theodore annähern konnte, dann auch Florence wieder mehr in mein Leben lassen, anstatt sie zwanghaft abzuwehren und mich so nur noch unglücklicher zu machen.

Daher beschloss ich, ihr bei der nächsten Gelegenheit alle Fragen zu stellen, die mir auf dem Herzen lagen, denn was nützte es mir, die Chance auf mehr Wissen, nach dem ich in London doch gemeinsam mit Annabeth gestrebt hatte, einfach hinfort zu werfen.

Diese Gelegenheit bot sich mir erst am späten Nachmittag und ich wusste nicht, wie viel Zeit Florence würde entbehren können, aber ich hoffte auf das Beste, denn ob ich ein weiteres Mal den Mut aufbringen konnte, gerade heraus alles zu fragen, stand in den Sternen.

„Ich habe heute wieder in Graces Tagebuch gelesen", versuchte ich mich an einem möglichst krampflosen Gesprächseinstieg, bevor Florence, die mir nur saubere Wäsche gebracht hatte, wieder verschwinden konnte.

Meine Äußerung schien Aufmerksamkeit erregend genug zu sein, um nicht nur nickend zur Kenntnis genommen zu werden, denn sie antwortete: „Dann scheint es Sie also interessiert zu haben, Miss?"

„Ich denke es hält Einiges bereit, wovon ich nichts wusste und auf anderem Wege niemals erfahren hätte", meinte ich ehrlich und wagte sofort die Überleitung zu meinem eigentlichen Anliegen. „Allerdings hat es auch Fragen aufgeworfen. Solche, die nur du mir beantworten kannst."

„Und Sie möchten, dass ich Ihnen diese Fragen jetzt beantworte, Miss, oder wäre Ihnen ein anderer Zeitpunkt genehmer?", fragte sie in der Manier, die eigentlich mit ihrer Herkunft zu vereinbaren war und die mir bei genauerem Nachdenken nun ungewöhnlich erschien, obwohl ich an nichts Anderes gewöhnt war. Womöglich erging es ihr selbst ähnlich.

„Ich denke der jetzige Zeitpunkt wäre genau der richtige, wenn du dir die Zeit nehmen kannst."

Florence nickte. „In Ordnung. Dann reden Sie sich von der Seele, was Sie mir sagen wollen und ich werde Ihnen so gut es mir möglich ist Rede und Antwort stehen, Miss."

Jetzt war es soweit und ich wusste auf einmal gar nicht mehr, wo ich denn beginnen sollte. Eben waren die Fragen in meinem Kopf viel geordneter gewesen, doch jetzt wollten sie alle gleichzeitig nach draußen stürmen, erhoben jede den Anspruch, die gleiche Wichtigkeit zu haben. Es dauerte einige Augenblicke, bis ich mich wieder konzentriert hatte und letztlich doch die vagste aller Möglichkeiten zuerst nannte.

„Wie kommt es, dass du ein Dienstmädchen bist? Ich meine... das hier ist nach deinen Eltern die engste Verwandtschaft. Ist es nur wegen deiner Mutter, die nicht wollte, dass du Blut trinkst oder...?" Ich bremste mich, da ich es für unangemessen befand, sie mit meinen verschiedenen Vermutungen zu konfrontieren, vor allem, da sie sich nicht alle als richtig herausstellen konnten. Unter anderem war mir ein Szenario in den Sinn gekommen, in welchem sie einen Regelbruch begangen hatte, der eine solche Bestrafung womöglich nach sich gezogen hätte. Außerdem – so unwahrscheinlich und undenkbar es auch war – könnte Florence sich aus freien Stücken für dieses Leben entschieden haben und ihr das zu unterstellen, wäre mir im Nachhinein sehr unangenehm geworden. Ein Glück also, dass ich mich selbst hatte stoppen können, auch wenn es auf den ersten Blick mitnichten die eleganteste Variante gewesen war.

„Sie haben sich also für die Frage entschieden, für die ich wohl am längsten benötigen werde, um sie zu beantworten, Miss. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich störe mich nicht daran, eher im Gegenteil, denn ich kann sehr gut verstehen, wieso die noch unbekannte Antwort Sie so sehr reizt." Sie hielt kurz inne, dachte anscheinend nach. „Setzen Sie sich doch hin, Miss. Ich denke, ich werde zu lange reden müssen, als dass es angenehm wäre zu stehen."

„Dann setz du dich aber auch", erwiderte ich daraufhin leichtherzig. „Ich kann von dir ebenso wenig verlangen, dass du stehst, wo du mir doch einen Gefallen damit tust, offen zu sprechen."

„Sehr freundlich, Miss. Dürfte ich den Stuhl nehmen?" Sie deutete auf die Sitzgelegenheit vor meiner Frisierkommode und ich bestätigte mit einem Nicken.

„Natürlich, setz dich hin, wo immer du willst."

„Vielen Dank, Miss. Ich will Ihnen nicht zu nahe treten, bevor ich überhaupt begonnen habe zu erzählen, aber Sie sollen wissen, dass Sie sich vor mir nicht verstellen müssen. Sie sind nicht gezwungen, sich mit dem zufrieden zu geben, das ich Ihnen hier auftische. Sie können böse mit mir sein, offen sagen, wenn Ihnen etwas nicht gefällt und ich bitte sogar darum, denn Sie sind nicht diejenige, die etwas geben muss, sondern ich."

„Aber...", wandte ich ein, ohne genau zu wissen, worauf ich hinauswollte, wurde aber unterbrochen, bevor ich weiter etwas sagen konnte.

„Ich habe in meinem Leben schon so viele Diener gesehen und sie alle haben nur gegeben und nie etwas zurückerhalten, Miss, mit Ausnahme ihrer Verpflegung. Doch selbst mit einer hohen Vergütung ist man immer noch an den gebunden, dem man sein Blut gibt und weiß zumeist nicht einmal, welche Rechte man besitzt. Das tun zwar die wenigsten Bürger, auch solche, die ihr Leben ganz gewöhnlich leben, aber gerade, wenn es um so Essentielles geht wie hier, sollte man wissen, was einem zusteht. Wissen gehört leider nicht dazu, aber dennoch gebe ich es Ihnen, weil ich finde, dass Sie es sich verdient haben, denn Sie haben schon viel geleistet und dessen sollten Sie sich bewusst sein, auch wenn James es des Öfteren nicht sieht. Haben Sie verstanden? Und sagen Sie es nicht einfach nur dahin."

Ich wusste zuerst gar nicht, wie ich reagieren sollte. Florence' hatte mich mit ihren Worten förmlich erschlagen und ich brauchte ein paar Augenblicke, bis ich mich angemessen dazu äußern konnte, zumindest in Grundzügen angemessen. „Ich glaube, ich muss dir erst einmal dafür danken, dass du mir das gesagt hast und ich glaube auch, dass ich es verstanden habe. Ich musste erst einmal zusammenbrechen, bevor ich gemerkt habe, dass ich nicht unendlich viel geben kann und es nicht so einfach ist, wie es mir zu Anfang vorkam."

„Das ist gut, Miss. Was Sie in der Vergangenheit falsch gemacht haben, können Sie in der Zukunft anders angehen und es besser machen. Daran glaube ich zumindest und ich hege keine Zweifel, dass sie mittlerweile reifer geworden sind. Nun will ich mich aber nicht weiter mit Geplänkel aufhalten, sondern Ihnen endlich Ihre Frage beantworten. Nun..." Sie räusperte sich, begradigte ihren Rücken und faltete die Hände im Schoß zusammen. „Ich weiß nicht, wie weit Sie die Geschichte meiner Mutter gelesen haben, aber ich kann Ihnen verraten, dass sie mit der Zeit immer mehr an Traurigkeit gewinnt. Ich denke, das liegt daran, dass sie viele niederschmetternde Momente festgehalten hat, während sie die guten, die es natürlich gab, lieber genossen hat, anstatt sie auf Papier für einen möglichen späteren Leser – wie mich – oder bloß für sich selbst festzuhalten. Ich war zehn Jahre alt, als sie starb und habe eine gute Erinnerung an sie und sie war nicht nur die Frau, die sich in ihrem Tagebuch wiederfindet, aber es ist mit Sicherheit ein großer Teil von ihr. So gehören dort auch Ideale hinein, die als eine hypothetische Idee begannen und sich immer weiter ausweiteten, bis zu ihrer Schwangerschaft und in den darauffolgenden Lebensjahren, in denen sie ihre Ideale weiter ausbaute, ausweitete und auch an mich weitergab.

Es war eine irrwitzige These, dass unsere Art auch ohne die Aufnahme gesunden menschlichen Bluts überleben konnte. Natürlich wäre es möglich, wären wir weder Krankheiten noch Sonnenlicht ausgesetzt, welches unsere Haut stärker angreift als gewöhnlicher Menschen, wodurch sich ebenfalls Krankheiten bilden, doch das ist auf dieser Welt nicht möglich und so scheint das Blut das Einzige zu sein, was Lebensqualität verschafft oder sogar verbessert. Viele werden über neunzig Jahre alt, wenn sie nur genug Blut zu sich nehmen und erfreuen sich auch in diesem hohen Alter noch großer Vitalität, aber das sei nur nebenbei gesagt, denn meine Mutter wollte nichts von diesen Vorzügen wissen. Sie wollte die Probleme, die sich uns in der Gesellschaft boten, beseitigen, wollte unabhängig sein von einem Diener und so vielleicht den Weg für eine Zukunft ebnen, in der wir auch gesundheitlich immer besser situiert sind. Und ich war ihr Anfang.

Es ist mir auch ein Rätsel, wie sie so lange überleben konnte, wie ich so lange überleben konnte, gebunden an einen Körper, der sich kaum selbst am Leben halten konnte, aber nachdem sie damit Erfolg hatte und ich zu einer menschlichen Amme kam, muss irgendetwas geschehen sein, dass mich widerstandskräftiger hat werden lassen. Es muss die Muttermilch gewesen sein und der fehlende Einfluss menschlichen Blutes, aber ich stehe hier und lebe, ohne je einen Tropfen zu mir genommen zu haben. Die Empfindlichkeit gegen das Sonnenlicht besteht leider immer noch, aber solange es nur das ist, kann ich damit leben und somit das Erbe meiner Mutter antreten. Und ich tue nichts lieber als das, ganz entgegen dem Willen meines Vaters.

Sie werden gemerkt haben, Miss, dass er sich von Anfang an gegen die Idee meiner Mutter gesträubt hat und es wurde nicht besser, sondern eher schlimmer. Ich kann bis heute nicht sagen, was ihn dazu treibt, mich zu hassen, aber er tut es von ganzem Herzen."

Sie klang nicht so, als wäre sie bekümmert darüber, doch für mich war es eine Unvorstellbarkeit, dass ein Vater seine Tochter grundlos verstieß, weswegen ich mir ein „Das tut mir leid" nicht verkneifen konnte, auch wenn ich mir sicher war, dass Florence es nicht hören wollte.

„Das muss es nicht, Miss", fuhr diese unbeirrt fort. „Ich kannte es nie anders und habe in wahrscheinlich mit Ihnen mehr Worte gewechselt als mit ihm. Er wollte immer nur, dass ich Blut trank und ich habe mich dem verweigert, alsbald ich sprechen konnte. Und als meine Mutter dann starb, weil sie letztlich doch nicht stark genug war, sich gegen alle Krankheiten zu behaupten, die sie in all den Jahren befallen hatten, stellte er mich vor die Wahl. Entweder ich wurde die Tochter, die er unbedingt haben wollte und die er dennoch nie lieben könnte, weil er schon zu sehr gelernt hatte, mich zu verachten, oder aber ich würde sterben."

Ein erschrecktes Keuchen entfloh meinen Lippen und ich hielt mir die Hand vor den Mund, um meinen augenscheinlichen Schrecken zu verbergen.

„Ich kann nicht sagen, ob er es wirklich getan hätte und ich zweifle stark daran, aber das war der Moment, als ich beschloss meinem Onkel ein Brief zu schreiben, in welchem ich in bat, mich bei sich aufzunehmen, wie es schließlich auch gekommen ist. Mein Vater konnte das jedoch nicht akzeptieren und weil es in niemandes Interesse stand, eine Fehde vom Zaun zu brechen, wurde ich ein Dienstmädchen, was meinen Vater immerhin mit so viel Genugtuung erfüllte, dass er es bis heute duldet und kein einziges Mal mehr nach mir gefragt geschweige denn Kontakt aufgenommen hat.

Ich hoffe, das war Ihnen nicht zu viel, Miss, aber es tut gut, die Geschichte jemandem erzählt zu haben und eine kürzere Zusammenfassung der Ereignisse hätte Sie auf die Dauer ohnehin nicht zufrieden gestellt, wie ich vermute. Das war also die Antwort auf diese eine Frage."

„Ich habe gerade auch keine weiteren", erwiderte ich, beinahe sprachlos. „Ich verstehe vollkommen, dass du es mir nicht von vornherein erzählen wolltest und ich kann nicht anders, als dir zu vergeben."

Ein vielleicht sogar als traurig zu deutendes Lächeln umspielte Florence' Lippen. „Ich danke Ihnen, Miss, auch wenn das nie etwas war das ich verlangt oder verdient hätte, aber dennoch nehme ich es liebend gerne an."

Und jetzt war wieder alles gut zwischen uns? Ich konnte es kaum glauben, doch es fühlte sich unheimlich gut an. Es brachte mir nichts, die zu hassen, die mir eigentlich etwas Gutes tun wollten und wenn ich hier überleben wollte, brauchte ich so viele Vertraute wie nur möglich, denn auf James würde nie Verlass sein, da er mir gegenüber – und wahrscheinlich auch in anderen Belangen – voreingenommen war. Und wenn wir wieder auf dieser Stufe standen, musste ich ihr unbedingt noch eine weitere Frage stellen.

„Es gibt da noch eine Sache und ich weiß nicht, ob du mir darauf eine Antwort geben kannst... Es ist dir ja nicht entgangen, dass James in letzter Zeit nach mehr verlangt hat, als ihm eigentlich zusteht und darauf besteht, dass es sein gutes Recht sei. Denkst du, es gibt einen Weg, wie ich ihn vollends umstimmen kann oder werde ich mich immer und immer wieder herausreden und hoffen müssen, dass er Nachsehen mit mir hat?"

„Diener und Herr mögen vielleicht nicht das gleiche Pensum an Macht oder Entscheidungskraft haben, aber sie sind dadurch gleichermaßen auf den anderen angewiesen. Dieser Sachverhalt macht es nicht besser, aber ich denke man muss verstehen, dass auch die, die Blut trinken, in einem gewissen Maße unfrei sind und sich gezwungenermaßen auf jemand anderen verlassen müssen. Ich kann mir vorstellen, dass das manchmal ein erdrückendes Gefühl ist. So habe ich es von meiner Mutter erfahren und auch hier über die Jahre beobachten können. James hat es nicht anders gelernt und ich denke seine Persönlichkeit spielt auch eine nicht zu verachtende Rolle. Ich weiß leider nicht, wie Sie am besten dagegen vorgehen können, Miss, weswegen ich Ihnen immer noch rate, es Elizabeth mitzuteilen."

Ich seufzte. „Aber sie hasst mich. Das Bild, das sie von mir hat, könnte schlechter nicht sein und glaube mir, ich habe das alles schon so oft in Gedanken durchgespielt. Es endet allerdings nie mit einem Vorteil für mich."

„Ich wünschte, ich könnte Ihnen anderweitig helfen, Miss, aber das hier ist eine Angelegenheit, in der Sie nur für sich selbst sprechen können."

„Ich würde auch nie von dir erwarten, dich für ich ins Kreuzfeuer zu begeben", stellte ich klar, obwohl ich Florence' Hilfe durchaus in Anspruch nehmen würde, wenn sie sie mir anböte. Diesen Gedanken behielt ich aber lieber für mich und leitete stattdessen zu etwas anderem über. „Ich habe mich gestern mit Theodore unterhalten und ich denke, wir werden in gewissen Punkten auf denselben Nenner kommen, weswegen ich nicht vorhabe, ihm irgendetwas vorzuenthalten, das uns von Nutzen sein könnte, wenn es darum geht, unser Leben hier so ansprechend wie möglich zu gestalten. Wie viel weiß er also von dir und wie viel darf ich ihm verraten?"

„Sie stellen wirklich viele Fragen, Miss", erwiderte Florence scherzhaft. „Theodore ist über meine Familienverhältnisse informiert. Wie viel Jonathan ihm genau verraten hat, kann ich nicht sagen, aber ich erlaube Ihnen hiermit, ihm alles zu sagen, was ich Ihnen eben erzählt habe. Es sollte kein Geheimnis sein, was meine Mutter gedacht hat. Wäre sie noch am Leben wäre sie ohnehin damit an unsere Öffentlichkeit gegangen und hätte den Rat konfrontiert."

Ich nickte und warf danach einen Blick auf die Uhr. „Gut, dann weiß ich Bescheid. Ich würde gerne noch weitere Fragen stellen, aber es ist Zeit für den Tee."

„Eilen Sie sich nicht, Miss. Sie haben hier noch mehr Zeit, als Ihnen lieb ist."

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