Freitag, 04.07.1879

Ich schlüpfte gerade in eines meiner Teekleider, – denn mittlerweile hielt ich es für ausgesprochen sinnlos, Korsett und Tournüre mit mir herumzutragen, wenn ich ohnehin nur im Haus verweilte – als Florence in mein Zimmer kam, obwohl ich sie nicht gebeten hatte, mir zu helfen.

„Lassen Sie mich nur machen, Miss", sagte sie augenblicklich und half mir dann, ohne dass ich mich dagegen erwehren konnte, die Knöpfe meines Kleides zu schließen.

Zuvor allerdings, ich hatte es nur aus dem Augenwinkel beobachten können, hatte sie etwas, das aussah wie ein Stück Papier, auf meinem Frisiertisch abgelegt.

„Was ist das?", horchte ich im selben Moment nach, in dem alle Knöpfe verschlossen waren und ich mich dem Stück Papier, welches sich bei näherer Betrachtung als Briefumschlag herausstellte, zuwenden konnte, ohne zu fürchten, dass mein Kleid mir von den Schultern rutschte.

„Ein Brief Ihrer Eltern, Miss, der mitsamt einigen Kostproben ihres neusten Tees eingetroffen ist."

Ich griff nach dem Umschlag, um ihn zu öffnen, bemerkte dann jedoch, dass dies schon getan worden war. „Jemand hat ihn schon gelesen", stellte ich nüchtern fest.

Florence griff mit ihrer Antwort schon voraus: „Ich glaube, es war James, Miss."

Ich seufzte. Zwar hätte ich mir bewusst sein müssen, dass die Post, welche ich erhielt oder verschickte, ausgiebig kontrolliert wurde, doch es so offensichtlich vorgehalten zu bekommen, fühlte sich an wie ein Schlag in die Magengrube. Ich wusste noch nicht, was meine Eltern mir zu sagen hatten, von welchen Neuigkeiten sie berichteten, doch James tat es.

„Ich lasse Sie dann wieder alleine, damit Sie sich die Post in aller Ruhe durchlesen können."

„Bleib ruhig", erwiderte ich und ließ mich auf meinem Stuhl nieder. „Privat ist die Nachricht ohnehin nicht mehr und ich fürchte, dass ich jemanden brauche, der mir dabei hilft, eine Antwort zu formulieren, die ich abschicken kann, ohne fürchten zu müssen, dass sie meine Eltern nie erreicht oder in der ich mich vollkommen bloßstelle."

„So habe ich Sie bis jetzt selten erlebt, Miss." Florence nahm im Sessel Platz, welcher in der Ecke stand und nie genutzt wurde, sodass dieses Bild ausgesprochen ungewohnt war.

„Wie?"

„Ich kann nicht sagen, dass Sie der Situation erhaben sind, aber Sie zeigen gerade ausgesprochen deutlich ihre Unzufriedenheit mit selbiger und das auf sehr direkte Weise, als wären Sie drauf und dran jeden vor den Kopf zu stoßen, der sich ihnen jetzt in den Weg stellen würde."

Unterstellte Florence mir gerade Unhöflichkeit? Wenn ich eines nicht wollte, dann mich durch eine generelle Unhöflichkeit auszeichnen. „Ich habe in den letzten Tagen nicht sonderlich gut geschlafen und bin deswegen wohl ein wenig gereizt."

„Zum einen denke ich nicht, dass Ihr Schlafverhalten da eine große Rolle spielt und zum anderen sollten Sie sich nicht dafür rechtfertigen, dass Sie sich das, was ihr Ihr Recht sein sollte, aber Ihnen verwehrt wird, nun auf diese Art nehmen."

„Du meinst, ich soll mich gegen alles auflehnen wie ein stures Kleinkind?", zweifelte ich das an, was das Dienstmädchen mir da gerade unterbreitet hatte. „Dir, als Teil ihrer Familie, sollte doch bewusst sein, dass das nie im Leben ein gutes Ende nehmen kann."

„Sie sollten auch keine Rebellion wagen, die zum Scheitern verdammt ist. Doch Sie haben mittlerweile gemerkt, dass Sie nicht alles aushalten können, so sehr sie auch vorgeben, in der Lage dazu zu sein. Und wenn man Dinge von Ihnen verlangt, die Sie auf keinen Fall bereit sind zu tun, dann äußern Sie das. Ihr Gegenüber wird ungemütlich werden und sich nicht an dieselben Regeln der Höflichkeit halten, das haben Sie doch ebenfalls am eigenen Leib zu spüren bekommen. Stellen Sie sich dem entgegen. Die ewige Flucht ist keine Lösung, denn dafür ist hier nicht genügend Raum."

„Hättest du mir das nicht schon früher sagen können, anstatt mich erst in die Lage kommen zu lassen, dass sich zwischen den Hamiltons und mir ein Verabscheuen auf gegenseitiger Basis entwickelt?"

„Es tut mir leid, Miss, aber ich dachte nicht, dass ich Ihnen jemals den Rat geben müsste, sich mit Händen und Füßen zu verteidigen, wenn Ihr Leben in Gefahr gerät", rechtfertigte Florence sich in belehrendem Tonfall, beinahe schon herablassend.

Mir lagen schon die Worte auf den Lippen, mit denen ich das Dienstmädchen unwirsch aus meinem Zimmer geschickt hätte, doch hielt unwillkürlich inne. Hatte sie nicht recht? Ich trug so viel angestaute Wut in mir und nie hatte ich sie auch nur einmal an James, seiner Mutter oder irgendwem sonst ausgelassen. Womöglich zählte es, dass ich mich für Theresa eingesetzt hatte, aber das war weder ihr noch mir zu Gute gekommen. Und auch Theodore hatte mir gesagt, er wolle die Evelyn wiedersehen, die ihm eine Ohrfeige verpasst hatte. Das war mit Sicherheit nicht meine Stunde größten Ruhmes gewesen, sondern eher das genaue Gegenteil davon, doch mittlerweile bereute ich es nicht einmal mehr.

Ich hatte gedacht, ich würde James lieben, ich hatte ihn geküsst und war bereit gewesen, ihm einiges zu vergeben, doch dass diese Zeit vorüber war, hatte ich schon längst gemerkt und ihm schon oft genug gezeigt. Vielleicht musste ich noch eindeutiger werden...

„Ich werde ihn nicht mehr mit mir spielen lassen", versicherte ich Florence.

„Ich hoffe, ich kann mich darauf verlassen, Miss. Und nun sollten Sie den Brief Ihrer Eltern lesen und ihnen antworten.

Ich nickte. „In Ordnung, du kannst gehen. Danke."

Was auch immer meine Eltern mir geschrieben hatten, sie würden eine Antwort erhalten, in der ich ihnen die gesamte Wahrheit mitteilte, die ich nun ein dreiviertel Jahr vor ihnen verborgen hatte.

-

Es war merkwürdig, wie wir uns alle zum Tee versammelten, bloß, weil meine Eltern eine Kostprobe ihrer neuesten Errungenschaften geschickt hatten. Lady Elizabeth hielt es wohl für eine Frage des Anstandes, dies damit zu würdigen, dass der Tisch im Salon mit einem edlen Service gedeckt und neben dem Tee eine unmöglich für uns zu verzehrende Menge Scones und anderes kleines Gebäck zu Verfügung gestellt wurden.

Ich saß auf der Kante des Sofas, den Rücken gerade, wobei mir ohnehin nichts anderes übrigblieb, denn ich hatte mir für diesen eigentlich geringfügig bedeutsamen Anlass ein Korsett angezogen. In der Tasse, welche vor mir auf dem Tisch stand, dampfte der Tee noch ausgesprochen angenehm riechend vor sich hin, jedoch viel zu heiß, um ihn schon zu trinken.

Angespanntes Schweigen herrschte vor, was mich nicht im Geringsten wunderte, denn es gab nichts, was sich die Anwesenden hier zu erzählen hätten, nicht einmal Tratsch, denn schließlich hatten wir die letzten drei Monate in diesem Haus unter fast vollkommener Abschottung verbracht.

Ebenfalls war es abzusehen gewesen, dass Lady Elizabeth das Schweigen brechen würde. „Es ist wirklich sehr freundlich von deinen Eltern, uns so viel Tee zu schicken, Evelyn. Ich schätze, wir würden ansonsten immer nur dieselbe Sorte trinken und dieser irgendwann überdrüssig werden."

„Ich muss zugeben, dass mir das in meinem Leben noch nie passiert ist, aber das liegt wohl daran, dass ich immer direkt an der Quelle saß." Ich ließ mich sogar zu einem Höflichkeitslächeln hinreißen, wie man es nun mal so tat, wenn man Gespräche über Banalitäten führte.

„Natürlich", meinte Elizabeth und erwiderte das Lächeln, zumindest mit ihrem Mund, denn ihre Augen blickten mich mit der gewohnten unverfrorenen Kälte an. „Umso glücklicher können wir uns nun schätzen, dass wir über dich neue Verbindungen in diese Branche haben."

Das klang fast danach, als wolle sie mich den Kontakt zu meinen Eltern aufrechterhalten lassen. Handelte es sich hierbei nur eine leere Phrase, die sie genutzt hatte, um den Dialog weiterzuführen oder war sie tatsächlich der Ansicht, eine solche Äußerung könne mich von ihrer Gutmütigkeit überzeugen?

Ich legte mir gerade eine Antwort zurecht, als James, welcher mir gegenübersaß, einen nicht gerade kleinen Schluck aus seiner Tasse nahm. „Er schmeckt wirklich großartig."

Das leichte Lispeln, das sich eingeschlichen hatte, weil der Tee eindeutig noch zu heiß gewesen war, ließ sich nicht überhören und verschaffte mir für einen kurzen Moment Schadenfreude. „Ich habe eben begonnen, meinen Eltern einen Antwortbrief zu schreiben und werde ihnen ausrichten, dass die Sorte sich auf dem Markt bestimmt gut machen wird."

Lady Elizabeth nippte daraufhin ebenfalls an ihrer Tasse, stellte, sie jedoch augenblicklich wieder auf den Tisch. Ich versuchte mich daher gar nicht erst daran, ebenfalls zu probieren, sondern fragte mich, was James sich davon versprach, vom noch kochend heißen Tee zu trinken. Er konnte doch wohl unmöglich annehmen, dass ich sein Lob gegenüber dem Getränk mit einem Kompliment mir gegenüber gleichsetzen würde, oder?

Weiteres Spekulieren darüber war allerdings nicht notwendig, denn James schien die Frage selbst beantworten zu wollen. „Was für Köstlichkeiten werden uns wohl erst im nächsten Sommer erwarten, wenn deine Eltern nach Hause zurückkehren, Evelyn?"

Seine Stimme hatte einen fast schon widerlich süßen Anklang, als würde es ihm zu Gute kommen, mich mit solchen Worten zu umwerben. Doch vielleicht kam es mir jetzt auch nur so vor, denn ich bezweifelte, jemals wieder Sympathie für ihn hegen zu können. Meine Eltern kamen erst in etwas weniger als einem Jahr zurück, mehr Zeit, als ich ursprünglich vermutet hatte und mit Mai 1880 über ein nun ziemlich genaues Datum zu verfügen, machte die Ewigkeit, die ich bis dahin überbrücken musste nicht gerade erträglicher.

James konnte tun, was er wollte, sich sogar zum Besseren bekehren, es wäre mir gleich. Zudem hatte er gerade Informationen preisgegeben, über die er eigentlich nicht verfügen sollte und die mir zwangsläufig wie blanker Hohn vorkamen.

„Wie mir scheint, hast du den an mich adressierten Brief gelesen."

„Evelyn, es ist eine Notwendigkeit für unser aller Wohl."

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, während der einzigen Unterhaltung, die wir jemals über dieses Thema geführt haben, ging es darum, dass meine Briefe kontrolliert werden sollten, nicht diejenigen, welche ich empfange."

Er sah mich nur mit großen Augen an.

„Ich dachte, du würdest die Ansicht vertreten, dass wir so offen wie möglich zueinander sind, doch wenn du meine Briefe liest, ohne dir mein Einverständnis eingeholt oder mich wenigstens darüber in Kenntnis gesetzt zu haben, verstößt das gegen alles, für das du vorgibst zu stehen. Mich würde zudem interessieren, was deine Mutter dazu zu sagen hat."

Ich blickte auffordernd zu Lady Elizabeth, die wie immer eine Miene wie eine steinerne Maske aufgesetzt hatte.

„Nun", sagte sie schließlich vollkommen teilnahmslos, „es handelt sich bei dieser Angelegenheit um nichts, für das ich Verantwortung trage."

Es war zwar nicht das Machtwort wie bei ihrem Beschluss, dass James für eine Weile Theodores Blut zu sich nehmen sollte – welcher sich aus dieser Unterhaltung vollkommen heraushielt und nun einen Schluck aus seiner Teetasse nahm – doch da meine Anschuldigung auch nicht unberechtigt war, konnte ich den Konflikt womöglich zu meinen Gunsten lösen.

„Es sollte doch wohl jedem ersichtlich sein, dass eine Kontrolle der Post nur effektiv ist, wenn sie in beide Richtungen erfolgt", versuchte James sich an einer glaubhaften Rechtfertigung, während er sich tatsächlich noch darin wägte, im Recht zu sein.

„Diese Briefe sind nicht für deine Augen bestimmt."

„Aber wie soll ich sonst sichergehen, dass nichts zu deinen Eltern vorgedrungen ist, was nicht für sie bestimmt war?" Zunächst ging seine Lautstärke in die Höhe, bis ihm wohl auffiel, in wessen Gegenwart er sich gerade befand und zum Ende hin wieder ruhiger wurde.

„Vertrauen", erwiderte ich einsilbig.

„Und wie soll es mir möglich sein, dieses Vertrauen in dich zu setzen?"

„Ich denke, es gibt da noch eine einzige Sache, derer du dir bewusst sein solltest, bevor wir diese Unterhaltung im Beisein aller anderen weiterführen." Ich atmete noch einmal tief durch und legte mir die Worte währenddessen so gut es ging zurecht. „Solange du mir jegliche Möglichkeit untersagst, frei für mich zu sprechen und dir dadurch mitzuteilen, was mir unter Umständen oder sogar ganz gewiss schadet, versagst du dir selbst das Anrecht darauf, dass ich dir etwas gebe."

Der Tee war mittlerweile kühl genug, wie ich feststellte, als ich die Tasse hochhob. Vorsichtig nahm ich einen Schluck – er schmeckte wirklich sehr gut – und wartete darauf, dass James etwas erwiderte, ob nun mir zustimmend oder nicht.

Lady Elizabeth war nun wie Theo zur stummen Beobachterin geworden und trank ebenfalls von ihrem Tee, Schluck für Schluck.

„Ich gäbe dir liebend gern etwas zurück, wenn du es nur zulassen würdest."

„Gerade liegen mir nur Anzeichen vor, die mich daran zweifeln lassen, fürchte ich. Und solange du nicht bereit bist, auch nur zu versuchen, meinen Standpunkt zu verstehen, werde ich dir rein gar nichts mehr zubilligen, nicht einmal diesen Tee, den meine Eltern an mich geschickt haben."

Damit stand ich auf und nahm die noch zur Hälfte gefüllte Kanne vom Tisch und verließ den Salon mit den Worten: „Ich bitte, mich zu entschuldigen."

Niemand folgte mir, um mir doch noch gut zuzureden.

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