Donnerstag, 14.08.1879

Es kam mir an diesem Vormittag gelegen, dass Annabeth mich darum bat, Zeit mit ihr zu verbringen. Nach der gestrigen Innigkeit mit Theodore hatte ich nicht erwartet, dass sich die beiden so bald voneinander lösen würden. Immerhin bekam ich so nun die Gelegenheit, Lady Elizabeth' Wunsch zu erfüllen und entging noch dazu James, der sich bei unseren letzten Schachspielen zwar als nicht ganz so nervenaufreibend bewiesen hatte, wie es sonst üblich war, doch ich war nicht sonderlich erpicht darauf, mein Glück erneut herauszufordern.

Wir saßen in Annas Zimmer auf ihrem Bett, die Vorhänge zugezogen, obwohl oder gerade weil sich draußen die Sommersonne zum Scheinen erbarmt hatte und sahen das an Kleidungsstücken durch, was sie aus London mit sich gebracht hatte.

Zugegebenermaßen hatte ich damit gerechnet, hier eine Gelegenheit zu haben, bei der ich mich entspannen konnte, doch obgleich Annabeth sich bemühte vorzugeben alles sei in bester Ordnung, spürte ich, dass sie am liebsten von hier fortwollte.

„Ich glaube, den brauche ich nicht mehr", meinte sie und hielt einen mittelgrauen Rock hoch, von dem ich mich nicht entsinnen konnte, ihn jemals an ihr gesehen zu haben. Zwar handelte es sich hierbei um keine Frage, doch es war offensichtlich, dass Anna meine Meinung dazu erwartete.

„Nein, sicherlich nicht", stimmte ich ihr daher zu.

Allerdings schien es nicht das gewesen zu sein, was Annabeth von mir hören wollte. „Eigentlich nicht, doch könnte es nicht sein, dass ich ihn benötige, wenn wir von hier fortgehen?"

Es kam mir recht umständlich vor, seine Zweifel so an den Tag zu legen, doch letztlich konnte ich jetzt verstehen, weswegen sie mit mir reden wollte. Was würde es ihr nützen, ihre Ängste Theodore zu unterbreiten, der sein Leben dafür riskierte, die Hamiltons ein für alle Mal zu verlassen. Er war wahrscheinlich der Letzte, der verstehen konnte, dass sie noch etwas bei ihrer Familie hielt. Und ich? Ich war einfach die nächste Wahl. Doch anstatt mich auf die eine oder die andere Seite zu schlagen, fand ich es fern jeglicher Realität, sich an dem festzumachen, was man schon besaß, wenn es darum ging, sein Leben woanders neu aufzubauen. Hatten die Hamiltons selbiges nicht sogar von mir verlangt, als sie mir offenbarten, weswegen ich wirklich bei ihnen war?

„Du wirst sicherlich nicht die Gelegenheit haben, viel mit dir zu nehmen", sagte ich und kam mir dabei schrecklich altklug vor. „Du wirst ein neues Leben beginnen, in dem es genug Möglichkeiten geben wird, an angemessene Kleidung zu geraten."

Annabeth legte den Rock beiseite. „Und wenn nicht?"

„Wie meinst du das?"

Es war kaum zu übersehen, dass Anna nun den Tränen nah war. „Ich habe in allem versagt. Ich habe meine Familie enttäuscht, weil ich hoffte, so Theodore vor Unheil zu bewahren, doch stattdessen hat es uns nur noch mehr Leid gebracht. Ich war nicht einmal in der Lage, unserem Kind Leben zu schenken... Wie soll es uns da weiter ergehen?"

Ihre Stimme zitterte. Es war der Punkt erreicht worden, an dem sogar ihre Selbstbeherrschung ihr nichts mehr einbrachte, sodass sie die Tränen nicht länger zurückhalten konnte. Da ich nicht wusste, was ich sagen sollte, blieb ich lieber still und nahm sie stattdessen in den Arm. Ob diese Geste nun von der Freundschaft zeugte, die wir womöglich teilten, vermochte ich nicht zu sagen.

„Ich danke dir so sehr, Evelyn", hauchte Annabeth.

Es war unwahrscheinlich, dass wir gleich einfach wieder dazu übergehen würden, Annas Kleidung durchzusehen, was nicht hieß, dass ich es nicht willkommen heißen würde. Doch wir wären ohnehin nicht dazu gekommen, darüber nachzudenken, wie wir fortfahren sollten, denn die polternde Stimme Lord Jonathans beanspruchte alle Aufmerksamkeit für sich.

Annabeth löste sich aus der Umarmung und sprang auf. Obgleich ihrer ohnehin schon kreidebleichen Haut, sah sie noch blasse aus als zuvor. Die Befürchtung, dass etwas Schreckliches geschehen war, stand ihr buchstäblich ins Gesicht geschrieben.

„Nicht einmal in den letzten Monaten, als ich mich weigerte, ihm die Tür zu öffnen, ist er so aus der Fassung geraten."

Bevor ich auch nur etwas erwidern konnte, war Annabeth in den Flur gerauscht, um herauszufinden, was es war, das ihren Vater so sehr erzürnte. Ich selbst rührte mich zunächst nicht. Um nichts in der Welt wollte ich mich der Gewalt des Lords aussetzen. Wenn ich hierblieb, nichts unternahm und die Dinge geschehen ließ, konnte er mir später auch nichts vorhalten.

Neugierde allerdings, war ein Bestandteil des menschlichen Wesens, der bei mir nicht überdurchschnittlich stark ausgeprägt war, doch verunsicherte es mich, im Unwissen darüber zu sein, was sich gerade außerhalb von Annabeth' Zimmer abspielten, sodass die Neugier schließlich – und nach nur wenigen Sekunden, wenn es sich auch deutlich länger angefühlt hatte – obsiegte.

Es war deutlich zu hören, dass sie sich in der Eingangshalle zusammengefunden hatten. Jonathan sprach nun leiser, wenn auch immer noch laut genug, dass seine Stimme gut vernehmbar war. Ich wusste nicht, wer sonst noch Teil dieser Szene war, denn der Hausherr war der einzige, der sprach.

„Du hast mich betrogen, all das Vertrauen, das ich in dich gesteckt habe, ausgenutzt wie ein proletarischer Taschendieb! Du hast dich dazu entschlossen, dein Leben hier wegzuwerfen und du weißt mit Sicherheit, was erfolgt, wenn man sein Leben fortgibt."

Als ich dieses nicht explizite, doch unverständliche Todesurteil hörte, kam es mir so vor, als würde ich zu Eis erstarren. Ich war mir nicht einmal sicher, wen Lord Jonathan dort unten bedrohte, doch es fühlte sich an, als würde er die Worte mir direkt ins Gesicht sagen.

So sehr ich auch das Weite suchen wollte, ein absolut unvernünftiger Drang, trieb mich geradezu zum Treppenabsatz hin, um nach unten zu gehen. Ich wollte beobachten, was dort vollzogen wurde, denn das Ausharren in Ungewissheit erschien mir unerträglich.

Gerade als ich meinen Fuß auf den Boden des ersten Stocks setzte, kam Annabeth' Stimme ins Spiel. Sie klang atemlos und ihre Worte waren begleitet vom Geräusch ihrer Absätze auf dem blanken Boden.

"Du hast nicht das Recht über ihn zu bestimmen, Papa."

Ich stand mittlerweile auf der Treppe, die in die Eingangshalle hinunterführte, von wo aus ich einen Überblick über die Fläche hatte, auf der sich das Drama abspielte. Bei Theodore und Lord Jonathan stand nicht nur eine ihren Vater flehentlich anblickende Annabeth, sondern auch James, der die Maske des Übermuts, welche ihm sonst zueigen war, abgelegt hatte und noch hilfloser aussah als seine Schwester.

Ein Detail jedoch, welches ich erst spät entdeckte, das meine Aufmerksamkeit danach allerdings nicht mehr losließ, war die Pistole, die fast schon locker in der rechten Hand des Lords lag. Sein Zeigefinger war nicht weit entfernt vom Abzug positioniert, was ich sogar von meinem erhöhten Standpunkt aus untrüglich erkennen konnte.

Jonathan wollte seine Drohung wahrmachen.

"Ich wüsste nicht, was es diese Entscheidung zu deiner Angelegenheit macht, Annabeth. Theodore hat mein Geld gestohlen, in meinem Haus, wo ich ihm Obdach gewährt habe. Die Erforderlichkeit meines Urteils steht außer Frage", erklärte der Lord, ohne den finsteren Blick abzulegen, mit dem er zuvor sein Mündel bedacht hatte. Sein dunkles Haar unterstrich die Dusternis, die seine Gestalt ausstrahlte und ich war unwillkürlich froh, dass James weder die herrische Haltung noch die Haarfarbe seines Vaters geerbt hatte. Etwas Entschlusskraft wäre mir in diesem Moment allerdings lieb gewesen, denn es war unmoglich, dass Annabeth allein ihren Vater umstimmen konnte.

"Er ist mein Diener, wodurch es meiner Verantwortung untersteht, wenn er wider die Regeln handelt."

"Nun, welchen Verwendungszweck sollte das Geld wohl haben? Er wollte uns den Rücken kehren. Es gibt kein größeres Verbrechen gegen uns, das er begehen könnte."

Ich musste schwer schlucken. Jonathans Anschuldigung klang nicht nach einer reinen Vermutung. Er musste also wenigstens ein Indiz für unsere geplante Flucht gefunden haben. Immerhin eines, das keinen Verdacht auf Annabeth lenkte, wodurch ich zunächst sicher war, doch konnte ich mich darauf verlassen, dass die beiden Liebenden um meiner Willen schwiegen, wenn sie sich womöglich selbst entlasten konnten?

Doch auch solche Überlegungen sollte ich zunächst nicht machen, denn mit eiligen Schritten näherte sich mir Lady Elizabeth, die mich jedoch kaum einiges Blickes würdigte, als sie an mir vorbeirauschte.

"Jonathan, was geht hier vor sich?", warf sie ihrem Gatten entgegen.

Der Angesprochene war sichtlich unglücklich über die Intervention seiner Ehefrau und schien darauf aus, sie genauso abzufertigen wie seine Tochter. "Theodore hat sich gegen uns gestellt", meinte er nur knapp, nicht einmal erwähnend, worin das Vergehen gar bestand.

"Sei so freundlich, mir die genaueren Umstände zu schildern", forderte Elizabeth, ohne Groll, doch mit außerordentlicher Bestimmtheit.

Es überraschte mich, sie so für Theodore einstehen zu sehen. Wer so viele Untaten geduldet hatte, sogar ohne die Augen vor ihnen zu verschließen, konnte ausgerechnet in dieser Angelegenheit keinen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn entwickeln.

Jonathan antwortete immer noch knapp, aber präzise. "James hat Theodore zweifellos in meinem Arbeitszimmer vorgefunden, wie er sich an meinem Geld bedient hat. Es war eine nicht gerade kleine Summe, derer er sich bemächtigt hat. Bei sich trug er ein Telegramm, das genaue Angaben über einen Treffpunkt erhielt, eine geforderte Menge Geld sowie die Versicherung weitere Arrangements treffen zu können. Ich werde es dir vorlegen, sobald ich das hier erledigt habe."

"Das alles spricht für seine Taten, aber nicht für seine Motive", versuchte Elizabeth weiterhin, ihren Gatten milde zu stimmen. "Der Junge hat dich bis jetzt nicht enttäuscht und du wurdest selbst nie müde, es ihm und uns mitzuteilen. Zudem ist er wichtig für Annabeth..."

Sie hätte wohl noch mehr gesagt, hätte der Lord sie nicht allein mit durch die Eindringlichkeit seiner Stimme unterbrochen. "Dies ist nichts, worum du dich sorgen musst, meine Liebe. Ich verstehe deine Bedenken, doch wenn du dich an die Sorgen im Frühjahr zurückerinnerst, wirst du feststellen, dass wir keine Risiken mehr eingehen dürfen. Mein Urteil ist gefällt und steht außer Frage."

Ich rechnete damit, dass Lady Elizabeth weitere Argumente hervorbrachte, die schon gesagten unterstrich oder den Standpunkt ihres Mannes widerlegte, aber trotz allem Durchsetzungsvermögen war sie eine gute Ehefrau, die nicht gänzlich mit dem ihr Angetrauten brechen wollte. Ein Nicken übermittelte ihre Zustimmung.

Jonathan schien nun jeglicher Diskussion überdrüssig zu sein. Er würde die Schusswaffe in seiner Hand nicht nur zum Drohen verwenden. Es gab nichts, was ihn noch davon abhalten würde, Theodore zu richten.

Mir lief es gleichzeitig heiß und kalt den Rücken herunter.

"Wir gehen nun alle nach draußen ", wies er uns an, als würde er etwas präsentieren wollen wie zum Beispiel einen Garten, auf den er besonders stolz war.

"Du kannst nicht von Annabeth erwarten, sich das anzusehen", wagte Elizabeth eine letzte, winzige Intervention.

"Sie hat eben darauf bestanden, Theodore unterläge ihrer Verantwortung. Ich statuiere ein Exempel und jeder hier sollte sich dessen bewusst sein. Auch Annabeth und Evelyn. Sie sind nicht so zart besaitet, wie du mir hier zu erklären versuchst."

Beim Erklingen meines Namens zuckte ich zusammen. Lord Jonathan hatte mich bei der Erwähnung meiner Person mit einem kurzen Blick bedacht, der sich trotz seiner absoluten Nebensächlichkeit anfühlte wie ein Pistolenschuss, der die Kugel nur knapp an meinem Kopf vorbeisausen ließ.

Ich wartete nicht auf eine zweite Aufforderung, sondern bewegte mich augenblicklich die letzten Stufen hinunter, bis ich neben James stehenblieb, der mit starrer Miene zu Boden starrte und etwas murmelte, das sich wie „Das ist nicht richtig" anhörte. Doch anstatt das sich anbahnende Verbrechen aufzuhalten, folgte er stumm seinem Vater nach draußen, der Theodore auch ohne erhobene Pistole wie Vieh vor sich hertrieb. Annabeth wollte erneut protestieren, doch ihre Mutter brachte sich mit einer scharfen Handgeste zum Schweigen.

Bei Gott, sie konnten doch nicht alle so tun, als hätten sie ihr Einverständnis gegeben; als hätten Lord Jonathans Behauptungen ihm wirklich recht gegeben?

Auf zitternden Beinen folgte ich der kleinen Prozession durch die große Eingangstür ins Freie, wo die Sonne immer noch lachend vom Himmel schien, ohne jedoch das Frösteln zu vertreiben, das meinen gesamten Körper überlief.

Im Halbkreis versammelten wir uns hinter Jonathan. Theodore hatte sich dem Lord zugewandt und sah gefasster aus als wir alle zusammen. Wie konnte es sein, dass er dem Tod so ruhig ins Gesicht sah? Weswegen hatte er nicht die Flucht ergriffen, noch bevor Jonathan seine Waffe gegen ihn erhoben hatte? Wieso war er nicht fortgerannt, ehe James seinem Vater überhaupt Bericht über den Diebstahl erstattet hatte?

Ein unauffälliger Blick, den er Annabeth zuwarf, die stumm weinend in den Armen ihrer Mutter stand, erinnerte mich an seinen idiotischen Grund für all das. Eher würde er sterben, als sie zu verlassen.

Nun richtete Jonathan Hamilton den Lauf der Pistole auf Theodores Gesicht. Würde er von Drei an herunterzählen, bis er den Abzug betätigte oder es ohne Ankündigung tun? Doch bevor er das von ihm gefällt Urteil eigenhändig vollstreckte, sah er über die Schulter hinweg zu seiner Tochter, die ihren Kopf an Lady Elizabeth' Schulter vergraben hatte.

„Sieh hin, Annabeth", befahl der Lord.

Annabeth löste sich tatsächlich von ihrer Mutter, allerdings nicht, um ihrem Vater tatenlos dabei zuzusehen, wie er Theodore eine Kugel in den Kopf jagte.

„Wie kannst du behaupten, mich zu lieben, wenn du Theo umbringst?", schrie sie ihrem Vater entgegen. „Wie kannst du glauben, das, was du tust, sei gerecht, wenn es doch nur darum geht, alles von dir fernzuhalten, was dir schaden könnte? Und ich meine damit nicht einmal, dass es dein Leben kosten könnte? Theo hätte dich gerade nur ein bisschen Geld gekostet... Ich weiß, über wie viel wir verfügen, denn du hast deine Bücher ja nie vor mir verborgen. Es geht dir doch nur darum zu beweisen, dass dir niemand etwas anhaben kann, dass du unfehlbar bist. Du hast in Theodore mehr vertrauen gesetzt als in deinen eigenen Sohn und dass er dich sogar überflügelt, indem er den Mumm dafür aufbringt, dich zu bestehlen, um von hier fortzugehen und sich mit dem, was du ihm beigebracht hast, ein eigenes Leben aufzubauen, ist eine zu große Störung für dein Ego."

All das sagte – schrie Anna unter Tränen, während sie auf ihren Vater zuging und nach der Schusswaffe in dessen Hand griff. Bevor sie diese aber auch nur berühren konnte, hatte ihr Vater sich ihr zugewandt und sie mit der Linken am Oberarm gepackt.

„Welchen Unsinn er dir auch immer in den Kopf gesetzt haben mag, es ist nicht wahr. Ich beschütze dich, Annie. Und jetzt geh zurück zu deiner Mutter."

„Du lügst", stellte sich Annabeth dem Lord in einem letzten, verzweifelten Versuch entgegen.

„Geh zu deiner Mutter", wies Jonathan seine Tochter unnachgiebig an.

Diese gehorchte erst, nun völlig in Tränen aufgelöst und scheinbar kraftlos, als Elizabeth zu ihr kam, sanft den harten Griff von Jonathans Hand von Annabeth' Arm löste und sie zurück dahin geleitete, wo sie zuvor gestanden hatten.

Jetzt stand dem Lord nichts mehr im Wege. Wieder erhob er die Waffe und würde es wohl eiliger erledigen, als er es eben vorgehabt hatte.

„James", wisperte ich, so leise, dass ich nicht sicher, ob er mich gehört hatte, obwohl ich direkt neben ihm stand, doch offensichtlich tat er das, denn er wandte den Kopf von Theodore und seinem Vater ab, um mich anzusehen. Es spielte keine Rolle, dass er ebenso verschreckt war wie ich, denn im Gegensatz zu mir würde er dies niemals zugeben.

In all der sich langsam entfaltenden Grausamkeit der Situation griff er nach meiner Hand und hielt sie fest. Niemand würde sich darum scheren, wie unangebracht diese Geste eigentlich war. Nichts schien mir jetzt so Sicherheit spendend wie James Hand um meine zu spüren, die mich nicht nur festhielt, sondern auch vermeintlich vor allem Bösen beschützen konnte.

Ich kniff die Augen zusammen und wartete auf den Knall.

Er erschallte, als ich meine Augen nur für einen kurzen Augenblick wieder öffnete und wurde abgelöst von einem Aufschluchzen Annabeth', das mir selbst die Tränen in die Augen trieb, mich meine Fingernägel in James' Hand bohren ließ. Theodore war in sich zusammengesackt, lag am Boden. Ich sah Blut schimmern, bevor ich meinen Blick endgültig abwandte. Er hätte geschrien, wäre er noch am Leben.

„Bring mich hier weg", flüsterte ich.

Noch immer meine Hand haltend, zog James mich tatsächlich mit sich zurück ins Haus, die Treppe hinauf und ehe ich bewusst wahrnahm, welchen Ort er anstrebte, in sein Zimmer.

Fast fürchtete ich, Jonathan würde uns folgen und auch mich vor den Augen aller hinrichten wollen, doch zunächst würde er die Tür aufbrechen müssen, die James hinter uns verschlossen hatte.

„Ich wollte nicht, dass er das tut", murmelte er. „Ich bin schuld daran, dass er Theo getötet hat..."

Einen Augenblick lang sahen wir uns beide nur verzweifelt an.

„Bitte, bring mich von hier weg", wiederholte ich schließlich und ich hätte es weitere Male gesagt, hätte ich mich nicht selbst unterbrechen müssen, um nicht in Tränen auszubrechen, doch ich behielt die Kontrolle.

„Das habe ich doch", antwortete James irritiert. „Hier wird dir nichts geschehen."

„Nein." Ich schluckte. „Ich meinte das gesamte Anwesen, deine Familie. Ich halte es hier nicht einen Tag länger aus."

„Sollte mein Vater jemals Hand an dich legen, wüsste ich das zu verhindern", erwiderte James voller Überzeugung. Ich hätte es ihm sogar geglaubt, wäre es bloß das, was mich zu meiner Flucht bewöge. „Ich würde niemals zulassen, dass dir etwas geschieht."

„Konntest du verhindern, was er Theo angetan hat? War es eine gerechte Entscheidung, die er auf Vernunft getroffen hat?" Ich blickte James in die Augen.

Er schüttelte schwach den Kopf. „Nein, das war es nicht, aber..."

„Du hättest ihn nicht davor bewahren können. Nicht, als es schon so weit gekommen war..." Eine Idee, wahnwitzig wie keine zweite, kam mir in den Sinn. „Hast du nicht gehört, was deine Schwester gesagt hat? Sie wusste, was Theodore tun wollte. Was, wenn sie es war, die ihn dazu überredet hat? Sie hat sich merkwürdig verhalten, seit sie von ihrer potenziellen Verlobung erfahren hat... Vielleicht hängt all dies zusammen und sie wollte Theo benutzen, um selbst fortzugehen."

James schwieg für einige unangenehme Momente lang, schien selbst mit den Tränen zu kämpfen, doch auch er gewann den Kampf gegen diese. „Es könnte möglich sein."

Ich nickte. „Ja, das ist die einzige Erklärung. Und wenn du mich nicht in Sicherheit bringst – und das sobald wie möglich – wird mich früher oder später dasselbe Schicksal ereilen."

James' Miene gab keine Auskunft darüber, ob er mir glaubte.

„Ich weiß, wie viel dir an Theo lag, dass er wie ein Bruder für dich war und ich bin mir gewiss, dass dir auch viel an mir liegt. Ich kann nicht von dir erwarten, dass du mir deine Liebe gestehst, denn dafür habe ich dir in den letzten Monaten wohl zu viel Kummer bereitet, doch ich weiß, dass du es nicht ertragen könntest, mich sterben zu sehen. Du kannst diese Schuld, die gar nicht die deine ist, nicht noch einmal auf dich nehmen."

Ich griff nach James' Händen, drückte sie sanft, was er wiederum erwiderte.

„Ich will dich nicht gehen lassen, Evelyn."

„Der Gedanke daran, du wärst tot, ist unerträglich. Wie sollst du ihn dann ertragen können?"

„Selbst, wenn... ich wüsste gar nicht, wie ich es bewerkstelligen sollte."

„Mach es wie Theo. Du kannst herausfinden, wer die Leute waren, mit denen er in Kontakt getreten ist, sie darüber in Kenntnis setzen, dass das vereinbarte Treffen nicht stattfinden kann und stattdessen ein anderes in die Wege leiten. Niemand würde dich verdächtigen, denn sie würden denken, ich hätte mit Theo konspiriert."

James schien sich noch immer unsicher zu sein, doch er wartete noch mit seiner endgültigen Antwort ab. Ich dagegen fühlte, wie die Kraft, die mich bis gerade auf den Beinen gehalten hatte, langsam zu schwinden begann.

„Bitte, James, mach bei mir richtig, was dir bei Theo verwehrt geblieben ist."

„Ich wünschte, wir könnten zusammenbleiben", sagte er betrübt.

„Heißt das, du hast dich entschieden?"

„Ja. Ich werde Wiedergutmachung leisten."

Ich erinnerte mich nicht genau daran, welche Worte noch fielen, wie wir uns voneinander lösten, doch nicht lange nach James' Zusicherung, mir zur Flucht zu verhelfen, schloss er seine Tür wieder auf und ich suchte den Weg in mein eigenes Zimmer, wo alles von mir abfiel, was mich noch zusammengehalten hatte.

Erst jetzt wurde mir bewusst, welche Lügen ich ihm, ohne mit der Wimper zu zucken, aufgetischt hatte. Für einen kurzen Moment hatte ich sie sogar selbst geglaubt, hatte gar nicht groß nachgedacht, sondern einfach gesprochen. Und es hatte zum Erfolg geführt.

Doch ebenso wie diese Erkenntnis mich nun auszufüllen begann, wurde ich mir auch der Wirklichkeit von Theodores Tod bewusst. Die letzte halbe Stunde –war es mehr oder war weniger? – hatte ich wie den Lauf durch einen schnurgeraden, schmalen Tunnel erlebt und ich schien sein Ende erreicht zu haben. Sein Ende in Freiheit.

Doch all die Freude darüber von hier fortzugehen, war nichts gegen das Chaos, das Theodores Tod in mir hinterlassen hatte. Sein Tod. Das Wort verlor langsam aber sicher immer mehr an Abstraktion. Und irgendwann war der Zeitpunkt erreicht, an dem die Tränen wirklich kamen und ich legte mich auf mein Bett, vergrub das Gesicht in meinem Kopfkissen und weinte wie noch nie zuvor in meinem Leben.

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