Donnerstag, 12.12.1878
Wenn das Kind innerhalb der nächsten Woche kommt, habe ich eine Chance. Ich habe eine Chance, nicht so mein Kind. Ich habe den Arzt nicht noch einmal genau gefragt, aber ich weiß mit Bestimmtheit, dass er es so meinte.
Wenn ich meinen Bauch begutachte so kommt er mir auf einmal nicht mehr so groß vor wie vor ein paar Tagen. Er ist nicht groß genug für ein Kind, das in der nächsten Woche zur Welt kommen und überleben soll. Dabei ist der eigentliche Geburtstermin gar nicht mal so fern. Es muss ein sehr zartes Baby sein. Vielleicht ist es ein Mädchen.
Ein Mädchen wäre etwas Wunderbares. Ich habe mir im Herzen immer eine kleine Tochter gewünscht. Ein kleines ich – bloß tausendmal schöner.
Eine Tochter wäre aber zu zart. Ein Junge hätte größere Chancen zu überleben, denke ich. Ich will, dass du ein Junge bist, mein Kleines, hast du verstanden?
Ich wollte den gesamten Tag dem Lesen widmen. Größtenteils wollte ich mich im Tagebuch weiter vorarbeiten, aber ich war erst einen einzigen Abschnitt weitergekommen. Ich hatte jedes einzelne Wort von der ersten Seite an ein weiteres Mal gelesen und versucht, die Zusammenhänge besser zu verstehen. Das große Ganze war für mich schon seit Längerem – nicht übermäßig lange, kürzer als es mir vorkam - kein Rätsel mehr, aber es fuchste mich, dass ich nicht wusste, weswegen Florence wollte, dass ich das Tagebuch von Lord Hamiltons Schwester las.
Selbstgespräche wären eine gute Beschäftigung.
Vielleicht ist es genau das, was ich mit diesem Tagebuch zu tun pflege: meine Selbstgespräche verfassen, damit es nicht ganz so absurd wirkt; damit es aussieht, als wäre ich nicht vollends verrückt durch die stundenlange Liegerei und nur seltene Gespräche.
Es muss bald kommen, mein Baby. Am besten schon heute Nacht. Ich habe sogar das Gefühl, dass es heute Nacht kommen wird, obwohl es noch keine Anzeichen dafür gibt. Ich hoffe meine Intuition wird nicht bloß von der verzweifelten Hoffnung geleitet, die meinem Leben in der letzten Zeit etwas so Unwirkliches verleiht.
Der Eintrag hörte an dieser Stelle abrupt auf. Sie hatte in der darunterliegenden Zeile schon zum nächsten Buchstaben angesetzt, aber da stand nichts. Bevor ich weiterlas malte ich mir alles aus, was geschehen sein könnte.
Entweder war schlichtweg nur jemand nach ihr gucken gekommen und sie hatte das Büchlein eilig unter ihrer Bettdecke verschwinden lassen müssen oder ihr hatten einfach die Worte oder die Lust gefehlt oder, was ich mit insgeheim erhoffte, die Wehen hatten genau in diesem Moment eingesetzt.
Es wäre gar nicht so verquer, dass das passierte, denn sie hatte selber geschrieben, dass ihr ihr Leben unwirklich vorkam und möglicherweise war es das auch. Obwohl das Tagebuch bis jetzt aus nur wenigen Einträgen bestand, die wirklich interessant waren und zu ihrer Geschichte beitrugen, fesselte es meine Aufmerksamkeit und ließ mich vergessen, dass die Geschehnisse, die es schilderte Wirklichkeit waren und nicht nur die Fantasien eines verrückten Autors, der Spaß daran fand, solche Absurditäten zu Papier zu bringen.
Um Hilfe rufen! Warum schreibe ich überhaupt? Vielleicht weil dies meine letzten Worte sein könnten und ich es nicht wahrhaben will.
Ich schluckte. Sie bekam ihr Kind tatsächlich. Und die Tatsache, dass ich nicht einmal die Hälfte des Geschriebenen bis jetzt gelesen hatte, gab mir wenigstens die Gewissheit, dass sie es überlebte.
Und obwohl ich mir geschworen hatte, heute einen großen Schritt mit dem Lesen weiterzukommen, so konnte ich doch nicht anders als das Tagebuch zu schließen und wegzuschließen. Wahrscheinlich hatte ich jetzt gelernt, dass es manchmal besser war, die Wahrheit nicht zu kennen.
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