Donnerstag, 07.08.1879
Seine Ankunft geschah ohne Ankündigung, wodurch sie mich ereilte wie ein abstruser Albtraum. Jonathan betrat das Haus durch die große Eingangstür und obwohl es niemanden gab, der ihn erwartete, dauerte es nicht allzu lang, bis ich von der Rückkehr des Hausherrn und seines Sohnes erfuhr. Annabeth hatte die beiden nicht begleitet.
In dem Moment, als ich die Treppe in die Eingangshalle hinabging und ihre Gesichter sah, nicht länger gezeichnet vom Druck, der zwei Wochen zuvor noch auf ihnen gelastet hatte, begrub ich meine Hoffnungen auf den ersehnten Befreiungsschlag.
Im ersten Moment war es, als würde mich die Erkenntnis, weiterhin hier gefangen zu sein, ins Taumeln bringen, sodass ich nach dem Treppengeländer greifen musste, um Halt zu bewahren. Nicht, dass jemand mein Straucheln bemerkt hätte, denn James schien viel zu sehr damit beschäftigt, über das ganze Gesicht zu strahlen und den Triumph in die Welt hinauszutragen, den sie errungen hatten, während sein Vater Cornelia Anweisungen gab.
Unbemerkt hätte ich umdrehen und mich in meinem Zimmer verkriechen können, abwarten, bis man nach meiner Anwesenheit verlangte, doch mir stand die Laune einfach nicht danach, den Rückzug anzutreten und mich meinem Schicksal klaglos zu ergeben, bloß weil die Hoffnung zerschlagen war, von denen befreit zu werden, von denen ich es am wenigsten erwartet hätte, die gleichzeitig aber die größte Chance geboten hätten. Doch eine Chance war eben nur eine Möglichkeit, dass ein Ereignis eintrat. Oder eben nicht.
Mir über Wahrscheinlichkeiten oder dergleichen den Kopf zu zerbrechen, nützte hier allerdings herzlich wenig, weswegen ich mein Innehalten auf mittlerer Höhe der Treppe kurzhielt und meinen Abstieg in die Höhle des Löwen fortsetzte.
So lächerlich überzogen mir diese Metapher auch erschien, so passend war sie gleichzeitig. Sie waren wie Löwen, die durch ihr Revier stolzierten, den Kopf erhoben, jederzeit bereit zum Prankenhieb auszuholen und zu töten, wenn ihnen etwas nicht beliebte. Trat jedoch der Fall ein, dass sie etwas besaßen, so ließen sie es nicht mehr gehen.
Hatte ich mir genau das nicht gewünscht, als ich hierhergekommen war, auf der Suche nach einem Platz in den gehobensten Kreisen der Gesellschaft? Ich hatte bei ihnen bleiben wollen und die Hoffnung in mir getragen, mir einen festen Platz in ihrem Umfeld erschleichen zu können. Selbst wenn dies immer noch mein Wunsch wäre, er wäre zum Scheitern bestimmt. Niemals würde ich eine von ihnen werden können, denn selbst Theodore, der sich als Teil dieser Familie sah, würde immer ein Diener bleiben und wenn es ihm nicht gelang, handelte es sich bei diesem Ziel um eines, das für mich unerreichbar war.
Stattdessen balancierte ich auf dem schmalen Grat zwischen langsam aufgezehrt werden und durch eine falsche Bewegung augenblicklich zerfleischt zu werden. Ich wollte mich beiden Varianten entziehen, die sich mir so wenig verlockend darboten. Und das tat ich nun, indem ich auf Jonathan und James zuging, ohne zu wissen, was mich erwartete. Stieg ich dadurch nun in ihrer scheinbaren Gunst oder beging ich einen fatalen Fehler? Es gelang mir nicht, dies einzuschätzen, nicht auf den ersten Blick, nicht in der kurzen Zeitspanne, die ich benötigte, um die restlichen Treppenstufen hinabzusteigen. Ich überließ meine Zukunft dem Glück oder eher gesagt der aktuellen Gemütslage jener, in deren Sphäre ich nun trat.
Während ich Jonathans Aufmerksamkeit anscheinend gänzlich entglitt, bemerkte auch James mich erst, als ich direkt vor ihm stand. Er war wohl zu sehr damit beschäftigt, seinen Vater dabei zu beobachten, wie er immer noch mit Cornelia sprach, die Stimme so sehr gesenkt, dass sie für mich nur als monotones Murmeln ohne erkennbar artikulierte Wörter zu vernehmen war.
Es interessierte mich, was der Lord seiner Dienerin zu erzählen hatte, dass es unmittelbar nach seiner unerwarteten Ankunft geschah, doch es war mir nicht vergönnt, vielleicht doch noch ein paar Sätze aufzuschnappen, denn James wandte sich mir schließlich doch noch zu, als ich noch etwa drei Schritte von ihm entfernt war.
Diese überbrückte er, ehe ich die Chance hatte, anders zu reagieren, als in eine komplette Starre zu verfallen.
„Guten Tag, Evelyn", begrüßte er mich, immer noch mit einem Strahlen auf dem Gesicht, das unverwechselbar eine echte Gefühlsregung war. „Du siehst wundervoll aus."
Ich bedankte mich aufrichtig für das Kompliment, mit dem ich nicht gerechnet hatte, vor allem nicht so plötzlich und log dann, für jeden ersichtlich, der nur über ein Mindestmaß an Menschenverstand verfügte: „Es ist schön, dass du wieder da bist."
Zwar hatte ich die Lüge mit einem Lächeln garniert, doch natürlich entging James meine Unaufrichtigkeit nicht, wie mir der Schatten der Niedergeschlagenheit verriet, der kurz über sein Gesicht huschte, ehe die tiefe Zufriedenheit sich dort wieder zeigte – wenn auch ein klein wenig getrübter als zuvor mochte ich meinen.
Nun, da die ersten Worte der Begrüßung gesprochen waren, stellte sich die Frage, was als nächstes kam, denn sowohl er als auch ich schienen über keinen weiteren Gesprächsstoff zu verfügen. Das hatten wir zugegebenermaßen noch nie, doch die Zeit des höflichen Geplänkels und der tollen Liebesbekundungen war einmal mehr verstrichen.
Was sich jedoch verändert hatte, – und das schätzte ich in diesem Moment wirklich sehr – war, dass James zumindest gerade nicht erzwingen wollte, eine ansprechende Konversation mit mir zu führen. Er hielt das unangenehme Schweigen zwischen uns aus, ohne von mir zu fordern, etwas daran zu ändern oder selbst einen Dialog zu beginnen, der uns noch weiter entzweit hätte.
Stattdessen hielt er sich gar nicht länger mit mir auf, sondern entschuldigte sich, um sich der Reisekleidung zu entledigen und sich gleichzeitig etwas von der Zugfahrt zu erholen. Zwar lag zwischen hier und London nicht die Welt und es war wohl alles andere als beschwerlich gewesen, den Weg zurückzulegen, doch ich war äußerst dankbar, dass er diese Ausrede dennoch in Anspruch nahm.
Jonathan dagegen schien sich niemals in einer anderen Rolle wiederzufinden als der des immerzu Planenden, des ständig seiner Arbeit Nachgehenden. Für ihn käme es niemals infrage, sich nach seiner Heimkehr zurückzuziehen, um etwas anderes zu tun, als seine Geschäfte zu Hause weiterzuführen, was ihn dazu veranlasste, nicht nur meine Anwesenheit vollkommen zu ignorieren, sondern auch an seiner Gattin, die soeben in die Eingangshalle herunterkam, vorbeieilte und ihr lediglich einen guten Tag wünschte, ohne überhaupt stehenzubleiben. In dem Moment eisiger Stille, der daraufhin herrschte, konnte ich noch vernehmen, wie die Tür seines Arbeitszimmers sich schloss.
Entweder die Krise den Rat betreffend war doch noch nicht so abgeflaut, wie es eben noch den Anschein gehabt hatte oder Lord Jonathan war noch weniger an seinem Familienleben oder überhaupt einem Leben abseits seiner Geschäfte interessiert, als ich zunächst angenommen hatte. Ich vermutete, dass es letzteres war, musste allerdings feststellen, dass, obwohl die erste Möglichkeit mir immer noch die liebere gewesen war, auch zerrüttete Verhältnisse hier zu meinem Vorteil genutzt werden konnten. Wenn die Familie auseinanderbrach, konnte ich vielleicht entwischen.
Es waren alles andere als vage Gedanken, die sich hier auf einmal formten, auch wenn ich nicht sicher war, wie ich erreichen wollte, was ich beabsichtigte, gesetzt den Fall, ich verfolgte sie weiter. Da ich es jedoch satt war, schicksalsergeben zu sein, gab es keinen Grund dafür, mich nicht wenigstens daran zu versuchen, die verschiedenen Parteien zu meinem Vorteil gegeneinander auszuspielen. Ich hatte schließlich nichts zu verlieren, was mir gerade in der letzten Woche, in der ich mit kaum jemandem ein Wort gewechselt hatte, bewusstgeworden war.
Es war möglich, sich an der Hoffnung zu nähren, um zu bestehen, doch dass diese zerschlagen wurde, verursachte einen weitaus größeren Schmerz, als sie sich gar nicht erst zu machen und zu versuchen, der potenziellen Realität ins Auge zu blicken, die so düster war wie nur irgend möglich. Ich konnte nicht behaupten, sonderlich gut darin zu sein, aber je länger und öfter ich in diese mir bisher ungewohnten Denkmuster abdriftete, desto vertrauter wurden sie mir und umso eher zog ich es vor, sie zu nutzen. Ich strebte es an, rücksichtslos eigennützig zu werden, denn wahrscheinlich war es das, was die Hamiltons ebenfalls waren, jeder für sich allein. Deswegen war es mir auch nie gelungen, Regelmäßigkeiten in ihren Verhaltensmustern zu erkennen, da ich zu sehr darauf versessen gewesen war, sie als eine Familie wahrzunehmen, anstatt zu erkennen, wie sehr sie alle gegeneinander arbeiteten. Dies war eine Hoffnung, die ich noch nicht aufgeben konnte.
Zufriedener als zu dem Zeitpunkt, als ich von Lord Jonathans und James' Rückkehr erfahren hatte, ging ich zurück in Richtung Salon, denn Höflichkeiten gab es hier nicht mehr zu heucheln. Einen kurzen Moment wägte ich ab, ob ich nicht das Gespräch mit Lady Elizabeth suchen sollte, die immer noch am Absatz der Treppe stand, entschied mich dann aber dagegen. Bevor ich mich in ihre Nähe wagte, wollte ich erst mehr darüber hinausfinden, was es war, dass zwischen ihr und ihrem Ehemann im Argen lag.
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„Sie wollen Geld sehen. Das war alles. Es war nicht wenig, dass sie gefordert haben, aber sie haben sich damit zufriedengegeben", hörte ich James in der anderen Ecke des Raumes sagen. Entweder er nahm an, ich wäre zu sehr in meine Stickarbeit vertieft, um mitzubekommen, was er Theodore gerade erzählte oder es die Informationen unterlagen keinerlei Geheimhaltung – wenigstens keiner solchen, um die er sich scherte.
„So einfach soll es gewesen sein?", antwortete Theodore, sich ebenfalls nicht die Mühe machend, mit verhaltener Stimme zu sprechen.
„Offensichtlich."
„Und sie haben keinen Anstoß daran genommen, dass Anna sich in ihrem Zimmer einsperrt und nur gelegentlich ein Lebenszeichen von sich gibt?"
„Sie haben keine Notiz von ihr genommen."
„Wirklich nicht?" Theodore sprach mit Nachdruck.
„Sie haben nicht ein Wort über sie verloren. Es war eher so, dass sie mich auf die Probe gestellt haben. Ich schätze, solange Annabeth in den nächsten Jahren verheiratet wird und Kinder zeugt, geben sie sich mit ihr zufrieden."
Mir missfiel der Ton, in welchem James über seine Schwester redete. Es waren nicht seine Anforderungen, über die er gesprochen hatte, doch es war nicht zu überhören, dass er sie sekundierte und ihm Annabeth am liebsten war, wenn sie sich aus allem heraushielt, ganz so, wie es gerade der Fall war.
Auch Theodore schien James' Worte so aufgenommen zu haben wie ich. „Dir ist also vollkommen gleichgültig, was mit ihr geschieht?", fragte er anklagend.
Es kam keine Antwort, jedoch auch keine weitere Nachfrage. Beide schienen zu wissen, dass sie an einem Punkt angelangt waren, der zu Streit zwischen ihnen führen würde. Ich musste mich zusammenreißen, nicht von dem halbfertigen Blumenmuster aufzusehen, das ich nur halbherzig zu seiner Vollendung führte, um die beiden zu beobachten.
„Nun", meinte Theodore schließlich unvermittelt, „hast du wenigstens ein Wort mit Anna wechseln können oder irgendetwas Neues von ihr in Erfahrung bringen können?"
„Sie ist wirklich alles, was dich interessiert?", gab James pikiert zurück.
„Ihr habt dafür gesorgt, dass alles andere wieder im Lot ist, also ist sie das einzige, was mich zum aktuellen Zeitpunkt sorgt. Es ist Monate her, seit ich sie das letzte Mal gesehen habe."
„Theo, ich muss dich leider enttäuschen, aber wir haben sie alle seit Monaten nicht mehr zu Gesicht bekommen. Mag sein, dass sie ihr Zimmer in der Zeit verlässt, in der niemand zu Hause ist, aber ansonsten hält sie ihre Tür für jeden verschlossen außer Mary. Nicht einmal Mr Nesbitt lässt sie zu sich, obwohl der nicht mal in der Lage wäre, auszuplaudern, was sie dazu bewegt, sich von der Außenwelt abzuschotten – obwohl es wahrscheinlich nichts weiter ist als Trotz."
„Du bist nicht einmal neugierig darauf, zu wissen, was mit Anna ist?"
Ich sah einen kurzen Moment auf. James wirkte zunehmend genervter, während Theodore ebenfalls voll Anspannung zu sein schien und zum ersten Mal seit ich ihn kannte wahrlich wütend auf James.
Jener tat mit seiner Antwort aber wie gewöhnlich nichts, um etwas daran zu ändern. „Es wird wahrscheinlich etwas sein, das sowieso nur Frauen verstehen."
Obwohl ich meinen Blick schon längst wieder gesenkt hatte und vielleicht ein wenig zu eifrig die Sticknadel durch den Stoff stieß, wusste ich, dass sich die Aufmerksamkeit der beiden auf einmal mir zugewandt hatte. Die Rolle der unsichtbaren Beobachterin wollten sie mir also nicht mehr länger zuteilwerden lassen.
„Evelyn, hast du vielleicht eine Ahnung, was in meine Schwester gefahren sein könnte?" Es klang beinahe so, als wolle er meine Antwort wirklich wissen. Allerdings nicht, weil er sich neue Erkenntnisse über Annabeth erhoffte, sondern weil er herausfinden wollte, was ich darüber dachte.
Ein Glück, dass ich meinem Magen keine Zeit ließ, sich zusammenzukrampfen, bevor ich antwortete.
„Es tut mir leid, aber ich verstehe ihre Beweggründe genauso wenig, wie ihr es tut", lautete meine ehrliche Erwiderung und ich betete, James würde sich damit zufriedengeben.
„Dann wird nur Annabeth selbst das Rätsel lösen können", meinte James daraufhin und ich atmete auf, als er mich keines zweiten Blickes mehr würdigte, sondern sich wieder Theodore zuwandte. „Ich vermute aber, dass Vater sie bald zwingen wird, aus ihrem Loch zu kommen und wieder am Familienleben teilzuhaben. Der Sommer ist bald vorüber und seine Geduld auch."
„Vielleicht sollte er mich mit ihr reden lassen..."
„Er wird dich nicht nach London lassen. Den Rat stört es nicht, was Annabeth so treibt, aber dass wir einen Diener so sehr in unsere Geschäfte verwickeln, sollte vermieden werden."
Theodore seufzte. „Ich habe nie darum gebeten."
„Aber du hast die Möglichkeit dankend angenommen." Verbitterung lag in James' Stimme.
Ich erinnerte mich daran, dass Theodore davon gesprochen hatte, James sehe zu ihm auf, bewundere ihn. Jetzt erkannte ich, dass diese Bewunderung in Eifersucht umgeschlagen war.
Während Theo mehr Verantwortung trug als ihm zustand, wurde James aus allem herausgehalten, sofern es möglich war. Es war nur natürlich, dass ihm das missfiel und er sich jetzt damit brüstete, die Prüfung des Rates bestanden zu haben, worin auch immer diese bestanden hatte.
„Ich habe nur das getan, was von mir verlangt wurde", erwiderte Theo und es klang für mich danach, als wäre die Unterhaltung der beiden damit beendet.
James schien es ebenfalls so zu sehen und sogar bereit zu sein, seine Aussage indirekt zu widerrufen: „Gut, dann komm mit. Vater hat noch einiges zu erledigen und vieles zu delegieren."
Ich dagegen stickte weiter, nun nicht mehr, um nicht aufzufallen, sondern weil es nichts Besseres für mich zu tun gab. Hoffentlich sorgte Lord Jonathan wirklich bald dafür, dass Annabeth wieder zurückkam, denn mit ihr hatte ich immerhin jemanden zum Reden.
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