Donnerstag, 06.03.1879

Ich wachte auf und war mit einem Schlag hellwach. Es war noch völlig dunkel im Zimmer, also stand ich auf, ging mit vorsichtigen Schritten zum Fenster und zog einen der Vorhänge zurück. Auch draußen herrschte noch Dunkelheit, der Nachthimmel war schwarz, was auch daran liegen mochte, dass er gänzlich wolkenverhangen war, und die Straßenlaternen waren schon gelöscht worden.

Da ich unmöglich wieder einschlafen konnte, ging ich zurück zu meinem Bett und tastete auf meinem Nachttisch nach den Streichhölzern, fand diese und zog eines aus der Packung. Meine Hände zitterten, als ich es anzünden wollte und so gelang es mir erst beim fünften Versuch, eines der Hölzchen zu entzünden und die Flamme an die Kerze zu halten, die immerhin so viel Licht spendete, dass ich sogar die Ecken meines Zimmers noch schemenhaft erkennen konnte.

Ich setzte mich auf die Bettkante und starrte in die Leere, leicht fröstelnd, weil mein Zimmer schon abgekühlt war und ich nur mit meinem Nachthemd bekleidet war. Aus irgendeinem Grund fühlte ich mich zu schwach, um wieder aufzustehen, ein paar Meter weit zu gehen und meinen Morgenmantel zu holen. Oder war es nur Faulheit?

Ich konnte nicht sagen, wie lange ich so dort saß, aber nach geraumer Zeit begann mein Handgelenk zu jucken. Als ich es kratzen wollte, stellte ich fest, dass es ja verbunden war, um die Blutung zu stoppen, die der Biss verursacht hatte. Auf der weißen Bandage zeichneten sich zwei rote Flecken ab und versetzten mir durch ihren Anblick einen Stich in den Magen. Es war Wirklichkeit geworden. Bis jetzt hatte ich alles immer noch bis zu einem gewissen Grad von mir weisen können, aber das war jetzt nicht länger möglich.

Was würde ich meinen Eltern erzählen? Ich war mir sicher, dass ich nicht mehr zu ihnen zurückkönnte. Die Hamiltons würden mich nicht gehen lassen. Die einzige Option, die mir einfiel, war eine Heirat, aber mit wem? James oder Theodore, beantwortete ich mir die Frage selbst. Mehr Auswahl hatte ich nicht. Mein Leben erschien mir auf einmal so begrenzt.

Es war nicht so, dass ich weit herumgekommen wäre oder Außergewöhnliches getan hätte, aber dennoch war mein Leben frei gewesen. Ich konnte meinem freien Willen folgen und dieser wurde nun eingeschränkt. Ich konnte nicht anders, als erneut an Sklaverei zu denken. Ein Unding, wie ich fand und gegen jegliche Menschenwürde. Und die Sklavenhalter sahen es nicht, waren nur auf ihren Profit konzentriert und das leichte Leben, das sie führen konnten. Egal, was ich tat, ich konnte mich nicht selbst davor bewahren.

Der Gedanke daran, jetzt wieder einzuschlafen, gefiel mir nicht und ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es kurz nach vier Uhr war. Die Bäcker begannen jetzt ihre Arbeit und ich saß hier, fröstelnd, verängstigt und vollkommen planlos. Einsam, nicht zu vergessen.

Ich begann, an meinem Verband herumzuspielen und löste ihn schließlich. Wie von selbst schien er sich abzuwickeln und bald schon lag die Bandage aus Leinenstoff in meinem Schoß und ich starrte auf die Bissspuren, die sich deutlich von meiner blassen Haut hervorhoben. Sie wirkten seltsam akkurat. Dieser Eindruck wurde nur durch die dünne Schicht von Wundschorf gestört, die jedem der beiden Einstiche - mir kam kein besseres Wort dafür in den Sinn - ein wenig Individualität verlieh.

Mit der Spitze meines Zeigefingers strich ich immer weiter über die Stelle. Hin und her und her und hin. Eine sinnlose Beschäftigung, die mir weder half, wieder zur Ruhe zu kommen, noch bewirkte, dass ich das Geschehene verarbeiten konnte.

Es war eine Wunde, zwei um genau zu sein, und James hatte sie mir zugefügt. Immer und immer wieder kreiste diese Tatsache durch meinen Kopf, ließ mich nicht los, zwang mich meine Gefühle immer und immer wieder neu zu überdenken.

Ich war gefangen in einem Zwist, den ich nicht alleine bewältigen konnte. Es waren zwei Seiten in mir, die miteinander rangen. Die eine Seite schuldigte ihn an, zeigte mir seine schlechten Seiten auf, alles verwerfliche, was er je in meiner Gegenwart getan hatte, jedes Detail. Und dann war da die andere Seite, die mir die schönen Momente ins Gedächtnis rief, all die Gefühle, die mich übermannten und mir sagten, dass er der Richtige war. Es war ein Kampf von Herz und Kopf, ein ungleicher Kampf, der zu keinem Ende kam, nicht unter momentanen Bedingungen.

Es war vier Uhr in der Nacht, aber das war mir egal, als ich aufstand und mit müden, schlaftrunkenen Schritten meinen Weg auf den Flur und von dort aus zu James' Zimmer fand. Ich stand vor seiner Tür und setzte schon zum Klopfen an, aber irgendetwas hielt mich zurück. Ich konnte mich nicht dazu überwinden, es war mir nicht möglich. Ich hielt mich selber davon ab und hasste mich im selben Moment dafür und ehe ich mich versah, weinte ich, ein fast lautloses Schluchzen, um ja niemanden zu wecken.

Ich sehnte mich nach James' Armen, um mich zu trösten, aber was sollte ich ihm sagen? Dass ich weinte, weil er mich verletzt hatte, weil er mich weiter verletzen würde? Weil er mich meiner Freiheit beraubt hatte und mir wahrscheinlich auch noch meine Würde nähme, sofern ich denn eine hatte?

Als ich mir endgültig sicher war, ihn jetzt doch nicht mehr sehen zu wollen, ging ich. Ich taumelte fast zurück, auf einmal völlig entkräftet, körperlich müde, aber innerlich immer noch hellwach.

Aber ich hielt nicht auf meine Tür zu, sondern blieb vor Annabeth' Zimmer stehen. Sie war meine Freundin. Sie war es wirklich, dessen war ich mir sicher und sie würde mir helfen können. Sie würde meine zwiespältigen Gefühle ihrem Bruder gegenüber verstehen. Fest entschlossen klopfte ich an, diesmal ohne zu zögern und nicht zaghaft.

Eigentlich müsste sie davon aufgewacht sein, aber es kam keine Reaktion. Ich klopfte erneut, immer noch keine Antwort. Aber ich brauchte sie doch jetzt, verdammt.

Und weil ich nicht anders konnte, mich jetzt dazu drang, anstatt mich abzuhalten, öffnete ich ihre Tür und spähte in den dunklen Raum. Es war genauso dunkel wie bei mir, aber was ich erkennen konnte war, dass das Bett leer war. Annabeth war nicht hier.

Ein Irrtum war ausgeschlossen, denn ich hörte sie auch nicht atmen, als ich danach lauschte. Sie war nicht hier und ich hatte niemanden, an den ich mich wenden konnte.

Völlig am Ende ging ich zurück in mein Zimmer, warf mich auf mein Bett und weinte. Ich weinte geräuschvoll und ohne mich zu genieren. Es war eh keiner da, der es hätte bemerken oder sich gar daran stören könnte. Ich fühlte mich, als wäre ich allein auf dieser Welt und es war ein grausames Gefühl, das mich von innen auffraß, mir innerlich Schmerzen bereitete.

Es musste in den ganz frühen Morgenstunden gewesensein, als ich endlich zur Ruhe kam, ausgelaugt vom Weinen, das einen körperlichfast so sehr mitnahm wie eine Grippe und ich schaffte es tatsächlich irgendwiewieder einzuschlafen. Dass ich mir irgendwann wohl die Bisswunden wiederaufgekratzt hatte und das Kopfkissen und einen Teil des Bettlakens vollgeblutethatte, ließ mich gänzlich kalt.

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