Donnerstag, 03.04.1879

Der gesamte gestrige Tag war überschattet gewesen von der Nachricht, die Annabeth mir mitgeteilt hatte. Es hatte lange gedauert, bis ihre Tränen getrocknet waren und ich war bei ihr geblieben.

Ich hätte nicht erwartet, dass ich jemals diejenige wäre, die die Stärkere ist und deren Aufgabe es ist zu trösten und Mut zuzusprechen. Erstaunlich war es, wie schnell und mit welcher Natürlichkeit ich mich in diese Rolle eingefunden hatte. Vielleicht hatten mich die letzten Monate doch noch nicht vollends ruiniert.

Wir waren zwar gemeinsam keiner Lösung näher gekommen, um eine Verheiratung nach Österreich zu verhindern, aber in einer Sache war Annabeth sich ganz sicher.

„Ich werde Theo noch nichts davon erzählen", hatte sie mir gesagt - nein - es mir eher in mein Ohr gewispert. Ein Satz, der fast in ihren Tränen untergegangen wäre.

Dass er es heute sowieso erfahren hätte, war ihr egal. Ich konnte durchaus nachvollziehen, dass sie es ihr zu viel Schmerzen bereiten würde, es ihm selbst zu sagen.

An diesem Morgen hatte ich begriffen, wie ernsthaft die Beziehung zwischen Annabeth und Theodore war. Sie gaben sich nicht einfach der fleischlichen Lust hin und es war auch keine Beziehung, die nur darauf beruhte, dass er ihr sein Blut gab. Sie liebten sich wie Eheleute es tun sollten, auch wenn sie keinen Trauschein besaßen. Und eine Ehe mit dem Baron würde die Innigkeit dieser Beziehung zwangsläufig zerstören.

Lord Jonathan kehrte am frühen Abend zurück von wo auch immer er gewesen war. Er würde sich wie immer das Abendessen aussuchen, um eine große Ankündigung zu machen. Bei meinen Eltern waren die gemeinsam eingenommenen Mahlzeiten immer ein Ort der Zusammenkunft gewesen, um als Familie zueinander zu finden. Hier dienten sie als Bühne, um sich selbst und seine Macht zu präsentieren, wie es mir schien.

Die Hamiltons gönnten sich untereinander nichts, arbeiteten gegeneinander und schienen den Konflikt geradezu zu suchen. Ich hatte mich mittlerweile sogar fast daran gewöhnt, aber zu wissen, welche Ankündigung heute auf dem Tagesplan stand, machte es deutlich schlimmer.

Stumm nahmen wir am Abend unser Essen ein. Nur die Geräusche die unser Besteck und das Kauen verursachten, waren zu hören. Ich hatte fast das Gefühl, dass wir alle wussten, was kam, obwohl das Annabeth' Aussage zufolge bei James und Theo nicht der Fall war.

Lord Jonathan verkündete die baldige Verlobung seiner Tochter ohne jegliche Feierlichkeit in der Stimme, was ich ihm sehr hoch anrechnete. Es war ihm wahrscheinlich selbst nicht wohl dabei, sein kleines Mädchen in ein fremdes Land zu schicken, dessen Sprache sie nicht beherrschte. Und dennoch tat er es, um den Regeln seiner Rasse Folge zu leisten.

Aufgenommen wurde die Nachricht mit starren Mienen und ich konnte nicht mehr daran glauben, dass Theodore und James bis eben unwissend gewesen waren. Ich hatte jedoch den Eindruck, dass ich die Einzige war, die sich noch dagegen auflehnen würde.

Ich hörte gar nicht mehr zu, als erzählt wurde, was für ein beeindruckender Mann dieser von Hellensang doch sei und wie viel er für die Gemeinschaft auf dem europäischen Festland getan hatte. Das einzige, was ich an Information mitnahm, war dass sie in anderen Ländern genauso vertreten waren wie in England und auch dort Menschen bei sich hielten, die ihnen „dienen" sollten.

Wie weitreichend konnte eine solche Organisation sein, ohne aufgedeckt zu werden oder von sich aus zusammenzubrechen? Ich hatte wenig Ahnung vom Geschäftsleben, aber als Tochter eines Kaufmannes hatte ich schon viele Handelsimperien aufsteigen und wieder zerbrechen sehen.

Und sie schienen vielleicht über Jahrhunderte hinweg bestand zu haben, eine eigene, unentdeckte Parallelgesellschaft zu führen.

Und ich musste mir wieder einmal meines Platzes in dieser Welt bewusst werden. Annabeth würde heiraten. Und James würde es später zwangsweise auch und ich war mir sicher, dass ich nicht diejenige sein würde, der gegenüber er ein Ehegelübde ablegen würde. Ich musste unbedingt mit ihm darüber reden. Ich war nicht bereit, mich mit ihm in eine unglückliche Beziehung zu stürzen.

***

„Du wirst mich nicht heiraten, oder?", war ein Satz, der in meinem Kopf herumspukte und mich nicht mehr in Ruhe ließ. Und trotzdem wagte ich es nicht, ihn so direkt und offen darauf anzusprechen.

Wir waren alleine, niemand würde uns hören können und trotzdem traute ich es nicht, diesen Gedanken, der mich so sehr beschäftigte, laut auszusprechen.

Aber James merkte, dass mir etwas auf der Zunge lag. Wir hatten mittlerweile so viel Zeit miteinander verbracht, dass wir uns wirklich kannten. „Was ist los mit dir? Ist es, dass Annabeth sich bald verloben wird?"

„Etwas in der Art", antwortete ich ausweichend.

„Dann sag es mir. Bitte, Evelyn."

Ich zögerte. „Ich weiß nicht, ob das etwas ist, was ich jetzt bereit bin, mit dir zu bereden."

„Aber ich merke doch, dass du es nicht für dich behalten willst."

Er hatte Recht und ich konnte es nicht einfach verneinen. „Versprich mir aber, dass du nicht wütend wirst, ja?"

„Wieso sollte ich dir jemals wütend sein?", fragte er, als wäre es das unnatürlichste auf der Welt und noch unwahrscheinlicher als dass die Menschheit eines Tages wirklich auf dem Mond spazieren gehen würde.

„Manchmal ist man erzürnt, ohne dass man es beabsichtigt", antwortete ich und nahm seine Hand in meine.

„Annabeth wird heiraten. Und sie ist nur die Tochter, sie ist nicht der Erbe. Der bist du und deswegen ist es doch nur eine Frage der Zeit, bis auch du heiraten musst. Und ich glaube nicht, dass ich diejenige sein werde, die deine Ehefrau wird."

Er schwieg. Dann sah er auf, um mir in die Augen zu blicken. „Ich will dich nicht anlügen. Ich werde dich nicht heiraten können und es gab auch nie auch nur den Hauch einer Chance, dass es so hätte sein können, aber du musst mir glauben, wenn ich dir sage, dass das meine Zuneigung dir gegenüber nicht im Geringsten mindert."

„Aber ich werde nicht deine Frau sein. Ich werde immer im Hintergrund stehen müssen, werde die zweite Wahl sein mit dem einzigen Lebenszweck, dir mein Blut zu geben. Kannst du dir auch nur ansatzweise vorstellen, wie es sich anfühlt, eine solche Aussicht auf sein Leben zu haben, das eigentlich ganz anders hätte verlaufen sollen?"

Ich spürte wie mir die Tränen in die Augen stiegen, als ich diese Worte aussprach. Ich hatte es zuvor noch nicht in meinem Kopf ausformuliert und es jetzt zu tun fühlte sich so an, als würde ich mir selbst einen Dolch in den Brustkorb rammen.

„Aber deine Bedeutung wird nicht dadurch gemindert werden, dass es da eine Frau gibt, die offiziell die meine ist, wenn du es bist, die ich will."

„Dein Bett mit dir teilen wird sie dennoch. Und glaube nicht, dass ich es jemals tun werde, wenn ich nicht die Gewissheit habe, die einzige an deiner Seite zu sein."

Er zog seine Hand weg. Ich fragte mich zuerst noch, ob er es tat, um sie zum gestikulieren zu benutzen, aber er tat es nicht.

„Deswegen habe ich dich gebeten, nicht wütend auf mich zu werden und du warst der Ansicht, es mir bedingungslos versprechen zu können."

Er presste die Zähne aufeinander, sein Kiefer verhärtete sich. „Es tut mir Leid, dass ich dieses Versprechen nicht halten konnte, aber vergiss nicht, dass du als meine Dienerin deine eigenen Pflichten hast. Ich dachte, das wäre dir klar. Ich war der Ansicht, du würdest in jenen Vorgaben agieren und es hinnehmen."

„Was bist du für ein Mensch, wenn du nicht nachvollziehen kannst, dass ich meine Würde nicht gänzlich aufgeben will?"

„Ich bin kein Mensch, Evelyn", sagte er kühl, bevor eraufstand und ging.

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