Dienstag, 26.11.1878
Ich war unten, um mir ein Buch herauszusuchen. Ich wollte mich ablenken. Gestern und vorgestern war es mir erfolgreich gelungen, etwas Abstand zu nehmen und weil während der Mahlzeiten alles in Ordnung gewesen war, beschloss ich meine Strategie fürs Erste so fortzuführen.
Ich strich mit den Fingern über die Buchrücken, während ich die Titel las. Einige waren in Sprachen, die ich nicht beherrschte, andere hatte ich schon gelesen und andere interessierten mich nicht. Es war schwierig hier etwas für die Situation zu finden. Weil ich nicht gerade tief in meine Suche versunken war hörte ich sie kommen, noch bevor sie im Türrahmen stand.
Ich erkannte Annabeth nun schon an ihren Schritten.
„Du hast dein Zimmer also einmal verlassen", stellte sie ohne jeglichen Vorwurf in ihrer Stimme fest.
„Ja, alleine sein liegt mir eigentlich nicht."
Ich lächelte und ich bemerkte wie auch ihre Mundwinkel leicht nach oben zuckten.
„Morgen kommt mein Vater zurück und ich muss noch einiges an Vorbereitungen erledigen. Würdest du mir helfen?" Ich spürte ihr Bemühen, mich einzubeziehen und meine Freundin zu werden. Das, was sie schon die ganze letzte Woche versucht hatte und was ich bis jetzt kaum zugelassen hatte.
„Gerne", antwortete ich, in der Hoffnung, dass sich jetzt alles änderte. Dass ich jetzt bereit war, hier Fuß zu fassen. Vielleicht war es diese magische Grenze von genau sieben Tagen, die ich gebraucht hatte, irgendeine feste Zeitspanne.
„Wunderbar." Jetzt lächelte sie von ganzem Herzen.
Zunächst gingen wir in ihr Zimmer, weil ich ihr helfen sollte, sich zu entscheiden, welches Kleid sie tragen sollte. Ich hatte keine Erwartungen wie ihr Zimmer aussah, aber ich war überrascht, als ich alles in hellen, beigen Tönen vorfand. Es wirkte freundlich und es passte zu Annabeth.
„Ich weiß, es sollte mich nicht so verrückt machen, was ich trage, aber wahrscheinlich bin ich einfach zu eitel", sagte Anna, als sie mir ihre Kleider zeigte. „Mein Vater achtet nicht darauf, welche Farbe mein Kleid hat oder wie es geschnitten ist, solange es angemessen ist."
„Dann nimm das Kleid, welches du am liebsten trägst. Das, in welchem du dich am wohlsten fühlst", antwortete ich.
„Vielleicht habe ich einfach zu viele", seufzte sie.
Ich schüttelte den Kopf. „Glaube mir, wenn man diese Auswahl nicht hat, sehnt man sich nach ihr."
Anna lachte. „Womöglich will man auch einfach immer nur das, was man nicht hat. Was hältst du von grün?"
Sie zeigte mir ein Kleid aus einem hellen, grünen Stoff.
„Ich weiß, dass es nicht besonders winterlich ist, aber es hat auch noch nicht geschneit. Ich glaube, darin fühle ich mich am wohlsten. Was meinst du, Evelyn?"
„Es gefällt mir", sagte ich.
„Gut, dann ist meine Entscheidung endlich gefallen." Annabeth lachte. „Ich bin wirklich froh darüber, dass du hier bist. Ich verbringe meistens das halbe Jahr hier, manchmal sogar noch mehr und es ist auf die Dauer doch etwas einsam. Manchmal haben wir Besuch und Florence ist wirklich keine schlechte Gesellschaft, aber es hat mir immer eine Freundin gefehlt. Danke, dass du jetzt da und auch wirklich angekommen bist."
„Ich hoffe, ich bin auch wirklich die angenehme Gesellschaft, die du dir erhofftest", scherzte ich.
„Bestimmt", versicherte sie mir. „Außerdem werden wir den Frühling voraussichtlich in London verbringen. Ich kann mir nicht erklären, weswegen meine Mutter ausgerechnet dann dieser wunderschönen entfliehen will, aber dann wirst auch du es wieder einfacher haben in einer bekannten Umgebung mit bekannten Leuten."
Ich konnte ein Lächeln nicht unterdrücken.
„Weißt du, Evelyn? Wenn mein Vater nach Hause kommt, ändert sich alles. Du wirst es sehen. Lass uns jetzt dein Kleid ansehen."
Ich hatte mich schon dafür entschieden das Kleid zu tragen, welches die Hamiltons mir geschenkt hatten. Anna lehnte dies allerdings ab.
„Er hat keine Ahnung, dass dieses Kleid von uns stammt. Du wirst ihn damit nicht beeindrucken können. Wähle lieber eines, das deinen Teint unterstreicht. Ein dunkles Rot wird dich edel wirken lassen. Das habe ich bei deiner Ankunft sofort gesehen. Besitzt du etwas in diesem Ton?"
Das tat ich. Ich hatte das Kleid im letzten Jahr gekauft und nicht wirklich oft getragen. Ich fragte mich, wieso ich es überhaupt mit hierher gebracht hatte. Wir entschieden, dass ich es morgen tragen sollte.
Danach lief Annabeth hektisch in die Küche um Cornelia und den Dienstmädchen, die heute ausnahmsweise auf dem Anwesen schliefen, zu sagen, was sie alles kochen sollte, obwohl ihre Mutter das schon lange vorher getan hatte. Sie ging immer auf Nummer sicher.
Irgendwann dann abends lag ich im Bett und fühlte mich zum ersten Mal richtig glücklich. Ich hatte in den letzten Nächten immer wieder nach Schreien gelauscht, aber keine gehört. Nun versuchte ich einfach nur einzuschlafen. Kurz bevor ich wegdämmerte fiel mir auf, dass Anna wahrscheinlich recht gehabt hatte, dass sich alles änderte wenn ihr Vater heimkäme.
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