Dienstag, 15.04.1879

Einen Grund zu feiern sollte es im Hause Hamilton im April aber doch noch geben. Zunächst war ich verwundert am Morgen Jonathan im Speisezimmer anzutreffen und das nicht mit der üblichen Grabesmiene, die ankündigte, dass er seine Familie mit schlechten Nachrichten beehrte. Heute war es Zufriedenheit, die auf seinem Gesicht lag. Diese zeigte sich zwar nicht durch ein Lächeln oder andere mimische und gestische Hinweise, jedoch war es eine Seltenheit den Lord ohne Sorgenfalten und gemütlich seinen Kaffee trinkend zu sehen. So sah nur eine Person aus, die es dich gönnte, sich auf einem Triumph auszuruhen.

Anfangs konnte ich nicht in Erfahrung bringen, was es mit dieser ungewöhnlichen Stimmung auf sich hatte, aber sie gab mir kein gutes Gefühl. Wenn es etwas gab, worüber er sich freute, konnte es für mich nur schlecht sein. Anders war es noch nie gewesen.

Eine Antwort auf meine unausgesprochene Frage bekam ich erst später, als ich mich in den Salon setzte, um bestenfalls in ein Gespräch verwickelt zu werden, in welchem sich unauffällig herausfinden ließ, was Lord Jonathan zu seiner Laune bewog.

Einen Gesprächspartner fand ich vorerst jedoch nicht vor, dafür aber eine Zeitung, die auffällig auf einem der Beistelltische lag. Diese waren für gewöhnlich immer leer. Ebenso auffällig war es, dass die Druckerschwärze ein wenig verschmiert war. Normalerweise wurde die Tageszeitung erhitzt, bevor sie an den Hausherrn gegeben wurde, damit dieser sich nicht die Finger schmutzig machte. Bei dieser hier war das nicht der Fall und ein ungutes Gefühl beschlich mich. Es gab nur eine Zeitungsmeldung, auf die Jonathan Hamilton so sehr gewartet haben konnte und die ihn so glücklich stimmte.

Mein Verdacht ließ sich erst auf den zweiten Blick bestätigen, als ich mich auf dem Sofa niedergelassen und das Zeitungsblatt in die Hand genommen hatte. Der Tod Arthur Carter-Heffleys hatte es selbstverständlich nicht aufs Titelblatt geschafft, aber es war ein für mich schwerlich zu übersehender Artikel im Lokalteil, welcher mir verriet, dass der junge, aufstrebende und durch und durch lobgepriesene Geschäftsmann verschieden war. Über die genaue Todesursache gab es keine Auskunft, aber für mich klang es fast so, als wolle man ein Suizid vertuschen. Ob er sich wirklich das Leben genommen hatte, ob es nur so inszeniert worden war oder die wirkliche Geschichte sich ganz anders abgespielt hatte, blieb meiner Spekulation überlassen und ich beließ es bei dem, was ich der Zeitung entnehmen konnte. Es war auch so schon eine grausige Vorstellung, die mich schwer schlucken ließ. Schließlich lag mein kurzes Treffen mit dem Mann noch nicht allzu weit zurück, die Erinnerungen waren frisch und lebendig – im Gegensatz zu ihm.

Dennoch gab es eine Sache für mich zu tun und das war, mit Annabeth zu sprechen, sosehr es mir auch widerstrebte. Ich brauchte eine Erklärung ihrerseits, wie es so weit kommen konnte. Es musste mir ja möglich sein, wenigstens für wenige Minuten ungestört mit ihr zu sein, immerhin war ich gerade die einzige Person, die sich im Salon aufhielt, was ich sicherlich nutzen konnte.

Ich nahm die Zeitung mit, rollte sie zusammen, um sie so klein und unauffällig wie möglich tragen zu können und machte mich auf die Suche nach der Tochter des Hauses. Ich begann oben, aber in ihrem Zimmer fand ich sie nicht. Ich lief Mary über den Weg, die Staub putzte und wägte einen kurzen Moment ab, ob ich sie bezüglich Annas Verbleib fragen konnte, aber entschied mich dagegen. Sie war nur ein Dienstmädchen und ich wollte sie nicht unnötigerweise in die Zwiste dieser Familie hineinziehen und so womöglich ihre Anstellung oder mich selbst zu gefährden.

Ich sah in verschiedenen Räumen nach und schließlich vernahm ich ihre Stimme ganz in der Nähe des Salons im Musikzimmer. Ein wenig verärgert darüber, dass ich es hätte vermeiden können, auffällig das ganze Gebäude abzusuchen, aber auch verwundert, weswegen sie ausgerechnet dort verweilte, betrat ich den Raum, dessen Türe soweit angelehnt gewesen war, dass man nicht sehen konnte, wer sich im Inneren aufhielt.

Anscheinend nutzte Annabeth das kaum genutzte Zimmer, um mit Theodore allein sein zu können. Die beiden hatten sich auf dem Zweisitzer niedergelassen, der einzigen bequemen Sitzmöglichkeit im Raum und taten zum Glück nichts, bei dem ich sie nicht hätte beobachten dürfen. Dass ihre Zweisamkeit geduldet wurde, wirkte auf mich nach all den Monaten nicht mehr außergewöhnlich und es war wahrscheinlich, dass die Hamiltons nicht einmal bemerkten oder absichtlich davor die Augen verschlossen, in welcher Beziehung ihre Tochter wirklich zu ihrem Diener stand.

Es sollte wohl ungewöhnlich genug sein, dass Annabeth, die kein Instrument wirklich gut beherrschte, da es ihr entweder an Talent, Ambition, Leidenschaft oder allen dreien zugleich mangelte, hier ihre Zeit verbrachte. Wenn man jedoch die Augen vor einer unangenehmen Wahrheit verschließen wollte, übersah man anscheinend das Offensichtliche.

„Ich hoffe ich störe nicht", bemühte ich mich um einen winzigen Akt der Höflichkeit, „aber ich muss etwas mit dir besprechen."

„Ich nehme an, es geht um das, was in der heutigen Zeitung stand", antwortete Annabeth und heftete ihren Blick dabei auf das Tagblatt, welches ich mit meiner linken Hand umklammert hielt, deren Innenfläche nun mit Sicherheit schwarz war.

Ich nickte. Wie sollten wir nun mit Theodore verfahren? Die Entscheidung wollte ich ihr überlassen. Ich hatte ohnehin das Gefühl, dass sie ihn in alle Belange ihres Lebens einweihte und es keine Geheimnisse zwischen ihnen gab. Außerdem fiele mir kein Grund ein, weswegen er das Wissen darüber, dass wir mit Carter-Heffley Kontakt gehabt hatten, an die anderen Hamiltons weitergeben sollte. Es würde ihm selbst mehr schaden als nützen.

Anna ließ Theodore gar nicht erst zur Debatte werden, denn sie kam nun ohne Umschweife auf das zu sprechen, weshalb ich zu ihr gekommen war. Dabei senkte sie nicht einmal ihre Stimme. „Wenn du die Umstände wissen willst, unter denen er gestorben ist, kann ich dir leider keine Auskunft geben, aber es ist nicht gerecht, dass ihn ein einziger Fehler das Leben gekostet hat. Sein Tod erfolgte aus reiner Willkür. Wenn es nach den Argumenten ginge, die letztlich seinen Tod zur Folge hatten, würdest du wahrscheinlich auch nicht mehr leben, so hart diese Worte auch klingen mögen. Gibt es irgendetwas Konkretes zu dieser Angelegenheit, die du wissen möchtest oder können wir sie nun endlich ruhen lassen? Es gibt nämlich andere Dinge, die mich jetzt beschäftigen."

Ich war ein wenig perplex von ihrer eher abweisenden Antwort. Ich hätte nicht damit gerechnet, dass sie mich so schnell abfertigte. Was auch immer es für andere Dinge waren, die sie beschäftigten, sie hatten für einen plötzlichen Stimmungsumschwung gesorgt.

„Es gibt nichts Konkretes, was mich an diesem Todesfall beschäftigt, aber ich suchte einfach nach jemandem, mit dem ich darüber reden kann und da bist du die einzige."

„Es tut mir leid, Evelyn, aber mit der Zeitung ist heute Morgen ein Brief aus Österreich eingetroffen. Ein mir so gut wie fremder Mann, der Vergangenheit ist, muss jetzt wirklich den Plänen für meine Zukunft weichen."

Theodore saß nur da und verfolgte stumm unser Gespräch. Es schien fast so, als wäre er nicht im Raum. Vielleicht hörte er auch gar nicht zu. Ich konnte es nicht genau sagen, ließ mich aber auch nicht weiter davon ablenken, denn ich war hier nicht länger erwünscht.

Erneut nickte ich. „Natürlich. Das verstehe ich vollkommen. Dann lasse ich euch jetzt allein."

So trat ich meinen Rückzug an, ohne etwas erreicht zu haben. Das einzige, dessen ich mir gewiss sein konnte, war die Tatsache, dass Annabeth nicht mehr zu mir kam, wenn sie über etwas Wichtiges reden musste. Sie hatte an meine Tür geklopft, als sie zum ersten Mal von der geplanten Verlobung gehört hatte. Jetzt war der Kontakt zwischen uns anscheinend so unerwünscht, dass wir wirklich kein einziges persönliches Gespräch mehr führen konnten oder gar durften.

Erst jetzt, wo ich Anna nicht mehr als möglichen Punkt hatte, der etwas Positives in meinem Leben darstellte, fühlte ich mich erschreckend hilflos und allein. Die gesamten letzten Monate war sie es gewesen, die sich um eine Freundschaft bemüht hatte und ich hatte sie immer von mir fortgestoßen, weil ich der Meinung gewesen war, dass sie mir nicht gut bekam. Dass das nicht der Wahrheit entsprechen konnte erkannte ich leider jetzt erst, nachdem ich sie geschützt hatte, um unser beider Verrat zu verdecken.

Hatte es sich gelohnt?

Nein. Ich musste nicht lange überlegen, um zu dieser Antwort zu gelangen. Alles, was ich in den letzten Wochen in die Wege geleitet hatte, war irgendwann in sich zusammengebrochen und hatte mich mit sich gerissen. London war eine neue Chance gewesen, die ich zu schnell er- und leider gleichzeitig auch verkannt hatte.

Und jetzt hatte es einen weiteren Toten gegeben, dessen Sterben ich nicht hatte verhindern können, während ich selbst immer weiteres Leid auf meine Schultern nahm. Und es gab niemanden, mit dem ich diese Last teilen konnte.

Als ich zurück in den Salon ging, um dort alleine mein Dasein zu fristen, fragte ich mich, wie lange es wohl dauerte, bis ich zusammenbrach und wieder in James' Arme flüchtete, um ihn um Vergebung zu bitten, damit ich wieder einen kleinen Halt hatte. Und so sehr ich mich selbst dafür auch hasste, während meine Finger geistesabwesend über die Wunden an meinem Handgelenk strichen, ein Teil von mir sah dem mit kindischer Freude entgegen.

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