Dienstag, 11.03.1879
James strich sanft über die Wunden, die er mir zugefügt hatte und die langsam wieder verheilt waren, sodass es überflüssig war, sie weiterhin zu verbinden.
„Morgen ist es wieder soweit", sagte er, nicht ohne eine gewisse Vorfreude in der Stimme, was mir Unbehagen bereitete.
Ich nickte nur, wollte nichts dazu sagen, um ihn nicht zu verärgern oder zu enttäuschen. Er sollte nicht wissen, dass ich dem nicht entgegensah, sondern vielmehr immer noch Angst davor hatte. Es waren keine großen Schmerzen, die es mir bereiten würde, aber nichtsdestotrotz war es ein mehr als unangenehmes Gefühl, dass ich nicht noch einmal erleben wollte und dass es in Zukunft weiterhin meine Pflicht war, wenn es nach ihm ging bis zu Ende meines Lebens, machte es nicht besser.
Es waren sechs Tage vergangen, weswegen ich nicht sicher sagen konnte, ob meine Erinnerung an das Ritual noch der Wirklichkeit entsprach oder ob ich sie in meinen Gedanken ins Negative verzerrt hatte, um mich davor zu schützen, es erneut zu tun. Dennoch war ich mir sicher, dass ich auch mit einer beschönigten Erinnerung, nicht bereit gewesen wäre, es freiwillig erneut zu tun.
Aber James verstand das nicht. Für ihn hatte das Trinken meines Blutes einen ähnlich hohen Stellenwert, wie mich zu küssen. Es belebte ihn, gab ihm Kraft und ich kam nicht umhin die Wirkung mit der von Drogen zu vergleichen. Er brauchte mein Blut, um nicht tödlich zu erkranken und ein normales Leben führen zu können, aber ich glaubte zu wissen, dass es für ihn mehr war als nur das. Das Blut veränderte etwas in ihm, ließ ihn mehr von sich haben wollen und brachte ihn dazu, sich auf seine nächste Ration zu freuen wie ein Kind auf ein Weihnachtsgeschenk.
Er war unbelehrbar und wann immer ich in den letzten Tagen versucht hatte anzudeuten, dass ich mich nicht so sehr auf das nächste Mal freute wie er, hatte er abweisend reagiert und viel empfindlicher als sonst. Ich hatte keine Angst vor ihm, aber vor der Reaktion, die er zeigen könnte und so hatte ich das heikle Thema vermieden, obwohl ich wusste, dass ich so uns beiden keinen Gefallen tat, sondern es auf lange Zeit nur schlimmer werden würde.
„Diesmal können wir ungestört sein", fuhr James fort und es kam mir fast so vor, als würde er davon sprechen, dass wir Dinge tun würden, die sonst nur verheiratete Paare machen sollten.
Auch hier nickte ich nur, denn ich wollte gar nicht, dass wir alleine waren. Was, wenn er zu viel Blut trank? Was, wenn irgendetwas schieflaufen sollte? Ich wäre nicht in der Lage mir zu helfen.
James liebkoste weiter die zwei kleinen Wunden, wo seine Zähne meine Haut durchstoßen hatten. Ich hatte versucht, es so gut es ging zu ignorieren, aber er schien meine Aufmerksamkeit förmlich darauf lenken zu wollen und je mehr es dies tat, desto mehr verspannte ich mich.
Aber auch dafür war James blind, sah nur das, was er sehen wollte und war immer noch der Überzeugung, dass alles so war, wie er es sich ausgemalt hatte. Wäre ich nicht seine Dienerin, ein Wort das mir immer schwerer über die Lippen kam, wäre immer noch alles so wie es gewesen war. Wir wären weiterhin auf dem Weg dahin, ein Liebespaar zu werden. Eines, das in dieser Form zwar nicht gesellschaftlich akzeptiert war, was aber niemand weiter beachten würde, wenn wir uns diskret verhielten. Und Diskretion war ein großer Bestandteil im Leben der Hamiltons.
Die drohende Enttarnung schwebte immer noch über ihnen. Ich sah es Lord Jonathan an, wenn er nach Hause kam und immer ein besorgtes Gesicht aufgesetzt hatte. Er redete meistens nur mit seiner Gattin darüber. Seine Kinder, sowie Theodore und mich ließ er unbehelligt, obwohl wir alle alt genug dafür waren. Ich konnte nicht genau sagen, ob es daran lag, dass er uns nicht traute oder es uns schlichtweg nicht zutraute, die Fakten zu ertragen. In beiden Punkten fehlte das Vertrauen.
Mein Leben bei den Hamiltons hatte sich bis auf das Ritual am letzten Mittwoch also nicht verändert. Ich würde James einmal in der Woche einen kleinen Teil meines Blutes geben und es würde sich bis zum nächsten Mal wieder neu bilden, hatte man mir versichert, so als wären sie Ärzte.
Ich hatte nicht mehr Berechtigungen als zuvor und musste jetzt zusätzlich darauf achten, dass man die Wunden an meinem Handgelenk nicht entdeckte. Es stellte bei angemessener Kleidung zwar keine Schwierigkeiten dar, aber die Hamiltons waren pedantisch, was ihre Regeln anging und setzten dies mit großer Konsequenz durch. Für sie ging es gerade um Leben und Tod.
Die einzige Hoffnung, die ich hegte, war, dass James mir mehr erzählen würde, wenn ich ihn danach fragte. Wir gehörten jetzt auf ewig zusammen, hatte er gesagt. Wieso sollte es dann Geheimnisse zwischen uns geben? Ich war zwar der Überzeugung, dass er genauso wenig wusste wie ich, aber einen Versuch war es wert.
„Weißt du etwas Neues über die Gerüchte?", fragte ich und war mir bewusst, dass es sehr offensiv war und er lieber weiter über morgen reden wollte.
„Nichts Konkretes, aber du musst nicht besorgt sein", versicherte er mir mit der Stimme eines starken Mannes, der die Frau, die ihm am Herzen lag beschützen wollte.
„Weißt du denn schon, wer die Gerüchte gestreut haben könnte?", hakte ich weiter nach. „Wir können uns nicht ewig in diesem Haus einschließen, sollten es sogar vermeiden nach außen hin verschlossen zu wirken, aber ich wüsste gerne, vor wem wir uns in Acht nehmen müssen."
Ich sprach absichtlich von uns, obwohl es mir missfiel, das Pronomen für jene Angelegenheiten zu wählen. Es widerstrebte mir, mir so selbst einen Teil der Schuld zu geben. James war da aber ganz anderer Meinung. Für ihn war das Wir etwas Allumfassendes, während es für mich nur unsere Beziehung betraf, die rein auf Gefühlen beruhte. Ich vermutete, dass wir uns in diesem Punkt immer voneinander unterscheiden würden, aber wir konnten uns in naher oder auch in ferner Zukunft einer gemeinsamen Lösung annähern. Oder aber die Grenzen würden auch für mich langsam verschwimmen. Noch war es aber nicht so weit.
„Nein, der Rat gibt noch nichts bekannt und mein Vater hält alles, was er weiß, unter Verschluss. Er ist wohl der Meinung, dass unsere Unwissenheit uns schützen wird. Ich kann dir aber sicher sagen, dass es niemand ist, mit dem du in Kontakt treten wirst. Und außerdem glaube ich keine Sekunde daran, dass du uns durch unbedachte Worte in Gefahr bringen würdest."
Er legte einen Finger unter mein Kinn und sah mir tief in die Augen. Und entweder war es deswegen oder weil ich nicht wollte, dass er das Schuldbewusstsein in meinen Augen sah, aber ich beugte mich vor und küsste ihn.
Seine Lippen schmeckten immer noch wie zuvor und ließen mich alles, was einen Keil zwischen uns getrieben hatte verschwinden. Meine Sorgen lösten sich in Luft aus. Da war etwas zwischen uns, das tiefer war als alles Leid, was uns zustoßen konnte, fester und stärker als alle Fehltritte, die James machen konnte, um mich zu verärgern. Ich wollte und konnte die Hoffnung an ihn - an uns - noch nicht aufgeben, denn es war das, was meine Zeit hier erträglich machte. Ich musste mich nur immer wieder von neuem daran erinnern.
Wir gaben uns beide den Küssen hin, sodass wir beide vom Klopfen aufgeschreckt wurden, das irgendwann ertönte und uns auseinanderfahren ließ. Ertappt bei etwas, das wir eigentlich gar nicht machen sollten.
„Herein", rief ich, denn es war mein Zimmer, in dem wir uns befanden. Es hinterfragte niemand mehr, wenn James und ich uns Zeit zu zweit nahmen und so suchte er, wann immer es ging, die Zweisamkeit mit mir. Es bedeutete allerdings nicht, dass es eine generelle Erlaubnis war, zu tun und zu lassen, was wir wollten.
Mr Nesbitt kam herein und hielt uns stumm einen Zettel hin. Dabei suchte er meinen Augenkontakt.
„Für mich?", fragte ich nach, um sicherzugehen, dass ich richtig verstanden hatte. Der Butler nickte.
Ich stand auf, nahm den Zettel entgegen, dankte Mr Nesbitt und setzte mich wieder zu James auf mein Bett, wo ich sobald wir wieder alleine waren, die erhaltene Nachricht unter die Lupe nahm.
Ich hatte auf Neuigkeiten von meinen Eltern gehofft, mit denen ich nur sporadischen Kontakt hielt, stellte aber fest, dass es sich um ein Telegramm von Isabella Carter-Heffley handelte.
Liebe Evelyn, schrieb sie. Es hat mir große Freude bereitet, dich auf der Soiree meiner Schwiegereltern kennengelernt zu haben und würde diese Bekanntschaft gerne weiter fortführen. Deswegen wäre es mir eine Freude, wenn wir uns bald zu einem Stadtbummel treffen könnten. Ich kenne ein nettes Café, das hervorragendes Gebäck anbietet. Dieser Freitagnachmittag wäre eine gute Zeit. Ich freue mich auf baldige Rückmeldung. Freundliche Grüße. Isabella C.-H.
Stumm betrachtete ich das Stück Papier in meinen Händen. Was sollte ich ihr antworten? Ich war die einzige, die wusste, dass auch Isabella die Gerüchte zu Ohren gekommen waren und sie bereit war, diesen auch Glauben zu schenken. Was würde ihre Aufmerksamkeit weniger auf uns ziehen?
James nahm mir die Entscheidung allerdings ab, denn er hatte mitgelesen.
„Mir ist zu Ohren gekommen, Isabella sei nicht leicht zu beeindrucken. Auf Partys sei sie immer nett und aufgeschlossen, aber privat treffe sie sich nur mit Leuten, die sie wirklich mag. Du kannst dich wirklich glücklich schätzen über diese Einladung."
„Ich soll ihr also zusagen?", holte ich mir die Erlaubnis für ein womöglich konspiratives Treffen ab, was mir eigentlich ein schlechtes Gewissen bereiten sollte.
„Sicherlich. Ich denke einen Nachmittag lang, kann ichdich entbehren", meinte James und bevor ich auch nur ein Wort des Widerspruchesgeben konnte, lagen seine Lippen schon wieder auf meinen.
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