Wiedergeburt


Johnny Silverhand keuchte, als sich seine Sinne überschlugen. Seine Sicht war ein Durcheinander aus roten Warnbildschirmen und Rauschen, sein Gehirn schrie nach dem plötzlichen Neustart. Einen Moment lang war er sich nicht sicher, ob er wirklich lebte oder nur ein weiterer Geist in dieser verdammten Maschine war. Dann wurde ihm schlagartig alles klar.

Er stand im Herzen von Mikoshi, dem digitalen Gefängnis der Seelen, aber etwas war anders. Seine Hände - echte Hände - zitterten, als er auf sie hinunterblickte. Nicht die Projektion eines Konstrukts, keine Illusion. Fleisch, Muskeln, Nerven. Seine Hände.

"V", flüsterte er. Seine Kehle brannte, seine Stimme war heiser, als hätte er stundenlang geschrien.

Sie war verschwunden.

Das Letzte, woran er sich erinnerte, war der Kampf, der Aufstieg zum Kern, das Chaos von Alt, das die Brücke zwischen Geist und Maschine öffnete. Er hatte sie angeschrien, versucht, sie zum Bleiben zu bewegen, sie von dieser Entscheidung abzuhalten. Aber V war immer stur. Sie war immer bereit, schwere Entscheidungen zu treffen und doch hatte sie keine Sekunde lang die Augen von ihm abgewendet als sie mit Alt fortging.

Sie hatte alles aufgegeben - ihren Körper, ihr Leben, ihre Zukunft -, damit er leben konnte.

Ein heftiger Schauer durchfuhr ihn, Wut brodelte unter der Oberfläche. "Verdammt, V!", knurrte er und schlug mit der Faust auf die kalte Metallkonsole neben ihm. Schmerz schoss seinen Arm hinauf und erinnerte ihn daran, dass dies real war. Dies war jetzt sein Körper.

Aber es war keine Zeit zum Trauern. Keine Zeit, um zusammenzubrechen. Er stand im Herzen des Arasaka-Turms, und wenn die Alarme noch nicht losgingen, würden sie es bald tun.

Johnny holte tief Luft und rannte los.

Die Hallen des Arasaka-Turms erstreckten sich vor ihm in kaltem Stahl und künstlichem Licht. Sein Körper - der Körper von V - bewegte sich mit Präzision. Er hatte ihre Fähigkeiten, ihre Reflexe, ihre Instinkte. Es war ein seltsames Gefühl, als würde er die Haut eines anderen Menschen tragen, aber es war keine Zeit, sich damit zu beschäftigen.

Die Sicherheitspatrouillen waren sperrlich gesät. Vielleicht hatte Yorinobus Coup den Konzern geschwächt, oder sie hatten noch nicht bemerkt, dass der Körper, den sie in Mikoshi eingesperrt hatten, nun frei herumlief. Wie auch immer, er hatte nicht vor, hier zu bleiben, um das herauszufinden.

Er duckte sich in einen Wartungskorridor und umging ein Sicherheitsschloss mit geübter Leichtigkeit. In dem Moment, in dem die Tür aufglitt, wurde er von der kalten Luft von Night City empfangen. Er stand auf einem Wartungsvorsprung, hoch über den Straßen.

Unter ihm leuchteten Neonlichter, Autos rasten durch die Nacht, und der vertraute Geruch von brennendem Gummi, Industriesmog und entferntem Schießpulver erfüllte seine Lunge.

Zuhause.

Ohne zu zögern, sprang er.

Der Wind rauschte an seinen Ohren vorbei, als er sich an der Seite des Gebäudes hinunterstürzte. In letzter Sekunde schaltete er die verstärkte Cyberware von V ein, die den Aufprall abfing, als er einige Stockwerke tiefer auf einem Dach aufschlug. Er rollte sich auf die Füße und atmete zittrig aus.

"Ich hab's noch drauf", murmelte er und ein Grinsen umspielte seine Lippen.

Dann verschwand Johnny Silverhand, ohne sich umzudrehen, in den Tiefen von Night City.

Als er das Totentanz erreichte, einer der Underground Clubs in NC war das Adrenalin verblasst und durch etwas Rohes ersetzt worden. Euphorie, Wut, Trauer - alles war zu einem riesigen Sturm in ihm zusammengewachsen. Er musste ihn ertränken.

Der Club war ein Ort des Chaos. Aus den Lautsprechern dröhnte Industrial Metal, der Bass vibrierte durch den Boden wie ein Erdbeben. Gangs, Söldner und Geächtete füllten den Raum und ertränkten sich in Alkohol und Rauch.

Dies war ein Ort, wie er ihn sich vorstellte.

Kaum war er eingetreten, drehten sich die Köpfe. Einige erkannten Vs Gesicht, aber die Art und Weise, wie Johnny sich bewegte, war anders - rücksichtsloser, unberechenbarer.

Eine Frau mit kybernetischen Armen lehnte an der Bar und musterte ihn mit ihren Augen wie ein Raubtier. "V? Was tust du hier?"

Johnny schnappte sich ungefragt eine Flasche von der Bar und trank einen brennenden Schluck. "Nicht V", sagte er und wischte sich den Mund ab. "Nicht mehr."

Sie hob eine Augenbraue, drängte ihn aber nicht weiter. Kluge Frau.

Er drängte sich durch die Menge, riss Vs Jacke ab und warf sie beiseite. Er war nicht sie. Er war Johnny Silverhand, und heute Abend wollte er diese Stadt daran erinnern, wer er war, verdammt noch mal.

Er fand die DJ-Kabine und riss das Mikrofon aus dem Ständer. Die Musik kam kreischend zum Stillstand, und die Menge drehte sich um und sah ihn an.

"Hört zu, ihr Bastarde!", schrie er. Seine Stimme - ihre Stimme - fühlte sich immer noch ungewohnt an, aber das Feuer dahinter war ganz seins. "Johnny Silverhand ist von den Toten auferstanden. Lasst uns diese verdammte Stadt niederbrennen!"

Der Club brach in Jubel aus.

Die Musik kehrte zurück, schwerer, lauter, und die Energie verwandelte sich in etwas Ursprüngliches. Körper prallten aufeinander, Fäuste erhoben sich in die Luft, die Menge bewegte sich wie ein gewaltiger Sturm.

Johnny stürzte sich ins Getümmel.

Er tanzte, er kämpfte, er trank, er schrie. Er ließ sich von dem Chaos verzehren, ließ das Gewicht von allem im Dunst von Neon und Zerstörung verblassen.

Aber egal, wie sehr er sich bemühte, sich in diesem Moment zu verlieren, er konnte immer noch ihre Stimme in seinem Hinterkopf hören.

V.

Sie war fort.

Und keine noch so große Menge an Musik, Schnaps oder Chaos würde daran etwas ändern.

Aber wenn er leben wollte, wollte er es auf die einzige Art tun, die er kannte - wie eine verdammte Legende.

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