Nachricht aus der Vergangenheit


Johnny war gut darin geworden, Dinge zu ignorieren.

Er ignorierte die Holoanrufe von Vs alten Kontakten.

Die Erinnerungen zu ignorieren, die sich jedes Mal, wenn er in den Spiegel sah, in seinem Hinterkopf festkrallten.

Das langsame, schleichende Gefühl zu ignorieren, dass er sich selbst verlor - dass er nicht mehr als ein Geist in der Haut eines anderen war.

Die meisten von Vs alten Freunden hatten inzwischen aufgehört, zu versuchen, sie zu erreichen. Er hatte fast alle von ihnen blockiert. Sogar Rogue. Sogar Kerry. Die einzigen Nachrichten, die noch ankamen, stammten von den wenigen, die noch nicht aufgegeben hatten, von Leuten, die immer noch glaubten, dass V irgendwo da draußen war und ihr Leben lebte, nur außerhalb des Rasters.

Er ließ diese Nachrichten ungelesen in seinem Posteingang verotten.

Bis zu diesem Morgen...

Johnny wachte mit Kopfschmerzen auf, die sich wie ein Presslufthammer gegen seinen Schädel anfühlten.
Sein Mund war trocken, sein Körper schmerzte. Das Motelzimmer war stickig, der schale Geruch von Zigaretten und billigem Alkohol lag in der Luft.

Er stöhnte, rollte sich auf die Seite und griff nach seinem Holo. Eine einzelne Benachrichtigung blinkte auf dem Bildschirm auf.

Unbekannter Absender

Kein Name. Keine ID. Nur eine kurze, kryptische Textzeile.

> "D1e St3rne br3nn3n !mmer n0ch, auch w3nn man sie n1cht seh3n kann." <

Zuerst war es ihm egal.

Wahrscheinlich irgendeine Spam-Nachricht. Irgendein corpo Scheiß oder eine verlorene Seele, die versucht, V zu finden, und Rätsel verschickt, anstatt einfach zu sagen, was sie will.

Er wollte sie gerade löschen, als sich etwas in seinem Bauch verdrehte.

Etwas Bekanntes.

Er hatte solche Nachrichten schon einmal gesehen.

Vor einer Ewigkeit.

In einem anderen Leben.

Eine Zeit, bevor Arasaka sein Hirn frittiert hatte. Eine Zeit, als Alt Cunningham noch am Leben war.

Sein Atem blieb ihm im Hals stecken.

Sie konnte es nicht sein.

Alt war tot.

Oder zumindest war sie nicht mehr die Alt, die er einst kannte. Das letzte Mal, als er sie sah, war sie etwas anderes - mehr Programm als Mensch, ein Konstrukt dessen, was sie einmal war, verstreut im Cyberspace wie ein Geist ohne Bindung.

Aber trotzdem...

Er konnte das Gefühl nicht ignorieren, das ihm den Rücken hinablief.

Er musste es wissen.

Das Entschlüsseln von Nachrichten war nicht sein Ding und selbst wenn es so wäre, traute er sich nicht zu, so etwas alleine zu knacken.

Er brauchte also Hilfe.

Das Problem war, dass er hier draußen im Nirgendwo nicht gerade Kontakte hatte. Die Band, in der er spielte, war nicht gerade in der Netrunning-Szene vertreten und er hatte in Night City zu viele Brücken abgebrannt, um einfach einen alten Bekannten anzurufen und um einen Gefallen zu bitten.

Aber Bars hatten immer Verbindungen.

Und Johnny wusste, wie er die richtigen Leute finden konnte.

An diesem Abend fand er sich in einer weiteren schwach beleuchteten Spelunke wieder, nuckelte an einem Drink, der ihm kaum schmeckte, und suchte den Raum nach jemandem ab, der so aussah, als hätte er die richtige Art von Technik.

Es dauerte nicht lange.

Eine Frau saß am anderen Ende der Bar, ihr kurzes Platinhaar fiel im schwachen Neonlicht auf. Cyberware zog sich an der Seite ihrer rasierten Kopfhaut entlang, dünne Linien aus blauem Licht pulsierten schwach unter ihrer Haut. Ihre Finger klopften in einem langsamen, rhythmischen Muster gegen den Tresen - ungeduldig, berechnend.

Ein Runner, ganz sicher.

Johnny ließ sich auf den Hocker neben ihr gleiten.

"Du siehst aus wie jemand, der sich im Netz auskennt", sagte er höflich.

Sie blickte nicht auf.
"Und du siehst aus wie jemand, der meine Zeit vergeuden will."

Er grinste.
"Nein. Ich muss nur eine Nachricht entschlüsseln."

Jetzt sah sie ihn an.

Ihr kybernetisches Auge surrte leise, als es sich auf ihn konzentrierte, scannte, beurteilte.

"Nicht mein Problem."

Johnny lehnte sich leicht vor.
"Ich sorge dafür, dass es sich für dich lohnt."

Sie schnaubte.
"Du siehst nicht so aus, als hättest du genug Eddies mit denen du um dich werfen kannst."

"Dann bin ich dir was schuldig."

Sie hob eine Augenbraue. "Mir was schulden?"

Johnny zögerte.

Das Klügste wäre gewesen, etwas Einfaches zu versprechen.

Aber stattdessen sagte er:
"Ein Lied."

Sie blinzelte und schaute ihn als hätte er den Verstand verloren.
"Ein Lied?"

Er zuckte mit den Schultern.
"Hast du jemals ein Lied nur für dich schreiben lassen?"

Sie betrachtete ihn einen langen Moment lang, etwas in seinem Blick ließ sie neugierig werden.

Dann streckte sie mit einem amüsierten Lächeln eine Hand aus.

"Mein Name ist Iris."

Johnny schüttelte sie.

"Silver."

Sie legte den Kopf schief. "Nur Silver?"

"Nur Silver."

Sie fanden einen ruhigen Platz im hinteren Teil des Raumes, ihre Finger tanzten über die Tasten ihres tragbaren Decks während sie die Nachricht durch die verschiedenen Schichten des Codes laufen ließ und sie Stück für Stück auseinander nahm.

Johnny beobachtete sie in gespanntem Schweigen, seine Finger trommelten auf den Tisch.

Schließlich lehnte sie sich zurück und atmete durch ihre Zähne aus.

"Nun, wer auch immer das geschickt hat, kennt sich aus", sagte sie. "Die Nachricht war mit einer altmodischen Verschlüsselung verpackt. Nicht die Art, die man heutzutage sieht."

Johnnys Puls beschleunigte sich.

"Wie altmodisch?"

Iris warf ihm einen scharfen Blick zu. "So altmodisch wie vor 2020."

Sein Magen zog sich zusammen.

Alt.

Das musste es sein.

"Was steht da?", fragte er mit rauer Stimme.

Iris drehte den Bildschirm zu ihm.

Eine einzelne Zeile des entschlüsselten Textes blinzelte ihm entgegen.

> Verfolge das Signal. 23062077.

Ein Datum.

Der 23. Juni 2077.

Der Tag, an dem V ihren Körper aufgegeben hatte.

Der Tag, in dem er wiedergeboren worden war.

Sein Atem ging stoßweise.

Iris beugte sich vor und verengte ihre Augen. "Du siehst aus, als hättest du gerade einen Geist gesehen."

Johnny schluckte schwer.

"Vielleicht habe ich das gerade auch."

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top