Ein Name der nicht seiner ist
Johnny war schon seit Wochen unterwegs. Vielleicht Monate.
Er zählte die Tage nicht mehr.Es hatte keinen Sinn.
Die Welt außerhalb von Night City war größer, als er sie in Erinnerung hatte, sie erstreckte sich über endlose Highways und Sackgassenstädte, in denen niemand ihn kannte oder sich für ihn interessierte.
Und das war auch gut so.
Er zog weiter und suchte sich jeden Unterschlupf, den er finden konnte. In manchen Nächten war es ein schmuddeliges Motel, in dem die Laken nach Schweiß und Zigarettenrauch rochen. In anderen Nächten war es ein verlassenes Haus, in dem er auf dem staubigen Boden lag und an die Decke starrte, bis der Schlaf ihn schließlich in die Tiefe riss.
Und jedes Mal, wenn er aufwachte, war es dieselbe verdammte Sache.
Ein Körper, der nicht der seiner war. Eine Stimme, die nicht die seine war. Ein Gesicht im Spiegel, das nicht zu ihm gehörte.
Es war sie.
Immer sie.
Und egal, wie weit er rannte, wie viele Meilen er zwischen sich und Night City legte, er konnte ihr nicht entkommen.
In einer dieser Nächte saß Johnny allein in seinem Motelzimmer mit einer Flasche Whiskey und einer geladenen Pistole.
Alte Gewohnheiten sterben niemals ganz.
Der Alkohol brannte, als er hinunterlief, aber er ertränkte nicht die Gedanken, die in seinem Kopf kreisten.
Er starrte auf die Pistole auf dem Tisch.
Es wäre ganz einfach.
Ein Druck auf den Abzug.
Ein letztes Fick-Dich an das Universum.
Er könnte endlich aufhören wegzulaufen.
Endlich aufhören, diese gottverdammte Leere zu spüren, aber er konnte es nicht.
Denn dies war nicht sein Körper. Es war ihrer und sie hatte ihn ihm geschenkt.
Und ihn wegzuwerfen bedeutete, sie wegzuwerfen und das konnte er nicht tun. Wollte es nicht.
Egal, wie sehr es schmerzte. Egal, wie sehr er einfach aufhören wollte.
Also legte er die Waffe weg.
Trank weiter.
Und als der Schlaf ihn schließlich einholte, war er unruhig und kalt.
Es war eine namenlose Spelunke in einer Stadt, die auf der Landkarte kaum existierte. Ein Ort, an dem das Bier billig war, das Licht schummrig, und die Leute kamen, um zu vergessen.
Johnny saß schon seit einer Stunde an der Bar und sippte an einem Drink, der ihm kaum schmeckte, als die Band zu spielen begann.
Sie waren nicht schlecht, aber sie waren auch nicht gut.
Der Musik fehlte irgendetwas - der Tiefgang, das Feuer, was auch immer einen Song ausmachte, aber trotzdem war es Musik und es war lange her, dass er diesen Puls von Klang in seinen Adern gespürt hatte.
Lange genug, dass er für einen Moment das Gewicht in seiner Brust vergaß.
Lange genug, dass er sich, als das Konzert zu Ende war und die Band mit dem Zusammenpacken begann, dabei ertappte, wie er auf sie zuging, bevor er sich selbst aufhalten konnte.
Der Gitarrist war ein schlaksiger Typ mit sonnengebleichtem Haar und einem Cyberarm, der etwa zwei Jahrzehnte veraltet aussah. Er wischte sich gerade den Schweiß von der Stirn, als Johnny sich ihm näherte.
"Sucht ihr einen Sänger?" fragte Johnny, seine Stimme war fest, obwohl sich sein Magen verdrehte.
Der Gitarrist hob eine Augenbraue.
"Und wer zum Teufel bist du?"
Johnny zögerte. Nur eine Sekunde lang.
Denn die Worte, die er fast herausbrachte, waren: "Ich bin Johnny Silverhand."
Aber das war nicht richtig.
Johnny Silverhand war schon vor Jahren gestorben.
Johnny Silverhand war eine Legende. Ein Terrorist. Ein Mann, der vor Wut brannte, bis nichts mehr übrig war als Asche.
Und das hier?
Das war nicht er.
Das war etwas anderes.
Stattdessen zwang er ein Lächeln auf die Lippen, und sagte:
"Ich heiße Silver."
Der Gitarrist blinzelte ihn an, als würde er versuchen, den Namen einzuordnen. Vielleicht kam er ihm bekannt vor. Vielleicht auch nicht. Wie auch immer, er zuckte mit den Schultern.
"Taugst du denn was?"
Johnny stieß ein trockenes Glucksen aus. "Schätze, du wirst es herausfinden müssen."
Die Bar war halbleer, als sie sich wieder aufbauten, aber das machte nichts.
Johnny stand am Mikrofon, rollte mit den Schultern und atmete langsam aus. Der Rest der Band wartete und beobachtete ihn. Der Gitarrist nickte ihm zu, seine Finger schwebten über die Saiten und warteten auf das Stichwort.
Einen Moment lang schloss Johnny die Augen. Versetzte sich zurück.
Zurück zu den blinkenden Lichtern. Das Gebrüll der Menge. Die rohe, brennende Energie, auf der Bühne zu stehen, ein Mikrofon zu halten, als wäre es das Einzige, was ihn am Leben hielt.
Zurück in eine Zeit, in der er jemand war. Als er er selbst war.
Dann öffnete er die Augen.
Und er sang.
Der Klang war nicht seine eigene, sondern die Stimme von V. Leichter, sanfter, aber das Feuer war immer noch da.
Und als die Musik ihn trug, als der raue Puls des Klangs die Luft erfüllte, fühlte Johnny etwas, das er seit langer, langer Zeit nicht mehr gespürt hatte.
Etwas, das dem Leben gefährlich nahe kam.
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