Ein Abschied der nie sein kann


Der Regen hatte gerade begonnen, als Johnny die Haltestelle erreichte. Die Neonlichter von Night City flackerten auf dem nassen Pflaster und warfen gespenstische Lichtreflexe, als er dort stand und auf das Ticket in seiner Hand starrte.

Nur hin, nicht zurück. Raus aus der Stadt.

Es spielte keine Rolle, wohin. Er musste einfach nur weg.

Er hatte hier nichts mehr. Keinen Grund zu bleiben.

Doch bevor er in den Bus steigen konnte, bevor er dieser Stadt für immer den Rücken kehren konnte, gab es noch eine letzte Sache, die er tun musste.

Etwas nagte an ihm, seit er den Entschluss gefasst hatte, zu gehen.

Er musste sie sehen.

Johnny wusste nicht, was ihn dazu bewogen hatte, den Platz zu kaufen.

Vielleicht waren es Schuldgefühle. Vielleicht war es ein Teil von ihm, der an ihr festhalten wollte. Oder vielleicht lag es einfach daran, dass sie etwas Besseres verdient hatte, als vergessen zu werden.

V hatte kein richtiges Grab. Keine Leiche. Keine Asche zum Verstreuen.

Sie war irgendwo da draußen, verloren im weiten Unbekannten des Cyberspace, ihr Bewusstsein an Alts Code gefesselt. Gefangen. Allein.

Es machte ihn krank, wenn er daran dachte.

Also hatte er sich die Mühe gemacht, ihr hier einen Platz zu kaufen, in dem einzigen Teil von Night City, der nicht wie ein Höllenloch aussah. Der Friedhof war ruhig, abseits des Chaos, umgeben von Bäumen, die in der vergifteten Luft kaum überlebten.

Es war nicht viel. Nur eine kleine Gedenktafel, ein Stück Gras, das niemandem sonst gehörte.

Aber es gehörte ihr.

V.
Träumerin.

Das war alles, was darauf stand. Kein Nachname. Keine Daten.
Denn sie hatte keine Vergangenheit, und sie hatte kein wirkliches Ende.

Nur den Raum dazwischen.

Johnny stand da und starrte auf die Gedenktafel, der Regen durchnässte seine Kleidung.

Lange Zeit sagte er kein Wort.

Wusste nicht, was er sagen sollte.

Seine Finger schlossen sich um das Metall in seiner Handfläche.

Ihre Halskette.

Sie hatte sie jeden verdammten Tag getragen. Bei jeder Schießerei, jeder Mission, jedem Moment, in dem ihr Leben am seidenen Faden hing. Unzählige Male hatte er sie um ihren Hals hängen sehen, manchmal glitzerte sie im Licht der Stadt.

Jetzt lag sie kalt in seiner Hand.

Ohne nachzudenken, hockte er sich hin und legte sie neben die Gedenktafel, schob den nassen Dreck gerade so weit beiseite, dass er sie vergraben konnte.

Sie gehörte nicht zu ihm.

Sie gehörte hierher.

Zu ihr.


Johnny blieb, wo er war, seine Knie ruhten in der feuchten Erde, seine Hände waren zu Fäusten geballt.

Sie war nicht in Frieden.

Er wusste das.

Er wusste, dass sie, während er hier stand, irgendwo da draußen war und auf eine Weise existierte, die weder Leben noch Tod war.

Sie hatte mehr verdient. Ein richtiges Leben. Eine Zukunft.

Aber sie hatte das für ihn aufgegeben.

Und egal, wie weit er rannte, egal, wie viele Meilen er zwischen sich und diese Stadt legte, diese Tatsache würde sich nie ändern.

Sie hatte ihn gewählt. Und jetzt war sie fort.

Ein bitteres Lachen entglitt seinen Lippen, kaum mehr als ein Flüstern.

"Scheiße, V", murmelte er und schüttelte den Kopf.
"Du hast mich wirklich verändert, weißt du das?"

Keine Antwort.

Niemals eine Antwort.

Seine Kehle schnürte sich zu, und zum ersten Mal seit Jahren spürte er, wie sich etwas in seiner Brust aufbraute, etwas Rohes und Unerträgliches.

Johnny Silverhand weinte nicht.

Er wußte nicht, wie.

Aber jetzt, an diesem stillen, einsamen Ort, umgeben von nichts als Regen und Geistern, fühlte er sich, als würde er gleich zerbrechen.

Er atmete aus, fuhr sich mit der Hand durch sein durchnässtes Haar und zwang sich, es herunterzuschlucken.

Das war kein Lebewohl. Nicht wirklich.

Denn egal, wohin er ging, egal, was er tat, sie würde immer da sein.

In der Art, wie seine Stimme immer noch wie ihre klang.

In der Art, wie sein Spiegelbild immer noch ihr Gesicht zeigte.

In den Erinnerungen, die ihn nie verlassen würden.

Solange er lebte, würde sie nie wirklich weg sein.

Und er würde dafür sorgen, dass sie nie vergessen wurde.

Nicht von ihm.

Nicht von dieser Stadt.

Von niemandem.

Mit einem letzten Blick auf die Gedenktafel stemmte er sich auf die Beine und schob die Hände in die Taschen seiner abgenutzten Jacke.

Er wandte sich vom Friedhof ab und ging zurück zum Bahnhof, ließ die Stadt zurück, die ihm alles genommen hatte.

Ließ die Frau zurück, die einst sein größter Feind gewesen war.

Und seine einzige wahre Liebe.

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