Der Geist der nicht verschwinden möchte
Johnny Silverhand hatte immer gewusst, wie es ist, sich fehl am Platz zu fühlen. Ein Leben voller Rebellion, Krieg und Verrat hatte ihn zu jemandem gemacht, der nirgendwo richtig hingehörte. Aber das hier? Das war etwas ganz anderes.
Dieser Körper - er gehörte jetzt ihm. Das war die Wahrheit, eingeschrieben in jeden Nerv, jedes kybernetische Implantat, jeden Atemzug, den er tat. Die neurale Synchronisation war perfekt. Der Biochip, Alts Prozess, Vs Opfer - alles hatte funktioniert.
Aber es fühlte sich falsch an.
Jedes Mal, wenn er sich bewegte, waren es ihre Bewegungen. Jedes Mal, wenn er sein Spiegelbild sah, war es nicht sein Gesicht, das zurückstarrte.
Es war ihres.
Jedes Mal, wenn er sprach, war es nicht seine Stimme, die er hörte. Es war ihre.
Als wäre sie nie weg gewesen. Als wäre sie immer noch da, direkt unter der Oberfläche.
Aber das war sie nicht.
Und egal, wie oft er mit ihr sprach, egal, wie oft er in den Spiegel schaute und ihren Namen flüsterte, niemand antwortete je.
Sie war verschwunden. Und die Stille war ohrenbetäubend.
Die Wochen vergingen wie im Fluge.
Johnny versuchte, sich zu beschäftigen, aber nichts fühlte sich real an. Nichts fühlte sich wie seins an.
Er ging zurück ins Afterlife, setzte sich an ihren üblichen Platz, bestellte die Drinks, die sie immer bestellte - nur um sie unberührt anzustarren, während sich die Welt um ihn herum bewegte. Claire warf ihm einen besorgten Blick zu, sagte aber nichts. Andere flüsterten, einige erkannten das Gesicht, aber nicht die Person darin.
Er versuchte, wieder Musik zu machen, aber jedes Mal, wenn er eine Gitarre in die Hand nahm, erstarrten seine Finger. Es kam ihm wie eine Beleidigung vor, mit ihren Händen zu spielen. Er versuchte zu schreiben, versuchte, den Schmerz in etwas Greifbares zu gießen, aber die Worte kamen nicht.
Wie ein Geist schwebte er durch Night City und besuchte all die Orte, an denen V ihre Spuren hinterlassen hatte. Die Dächer, auf denen sie gesessen hatte, die Gassen, in denen sie um ihr Leben gekämpft hatte, die Marktstände, an denen sie zwischen den Jobs billige Lebensmittel gekauft hatte. Er verfolgte ihre Schritte zurück, verfolgt vom Echo der Erinnerungen, die nicht seine waren.
Aber egal, wo er hinging, er konnte dem einen Ort nicht entkommen, an dem sie sich am meisten aufhielt.
In seiner eigenen Haut.
Er versuchte, nicht mehr mit ihr zu sprechen.
Er versuchte es wirklich.
Aber die Gewohnheit hatte sich bereits festgesetzt, tiefer als er sie abschütteln konnte.
Er wachte auf und murmelte:
"Guten Morgen, V."
Schweigen.
Er starrte in den Spiegel und sagte:
"Du siehst heute scheiße aus, weißt du das?"
Keine Antwort.
Er saß auf der Feuerleiter mit Blick auf die Stadt und murmelte:
"Hätte nie gedacht, dass ich es vermissen würde, mit dir zu streiten."
Nichts.
Er redete sich ein, dass er nur verrückt geworden war. Dass der Biochip vielleicht etwas mit seinem Verstand gemacht hatte, eine Störung hinterlassen hatte, ein Überbleibsel von ihr, das es ihm unmöglich machte, loszulassen. Wenn er es einfach ignorierte, würde es vielleicht aufhören.
Aber das tat es nie.
Denn die Wahrheit war, dass Johnny Silverhand noch nie so getrauert hatte.
Er hatte Menschen verloren - so viele Menschen. Alt. Rogue. Samurai. Seine Freunde. Sich Selbst. Er hatte alles verloren, eins nach dem anderen, bis er nur noch ein Mann war, der Geister jagte und versuchte, die Welt nieder zu brennen, die ihm alles genommen hatte.
Aber V zu verlieren? Es fühlte sich an, als hätte er den letzten Teil von sich verloren, der noch zur Liebe fähig gewesen war.
Er hatte sie geliebt.
Er wusste nicht einmal, wann es passiert war. Vielleicht war es in den Kämpfen gewesen, in der Sturheit, in der Art und Weise, wie sie sich geweigert hatte, klein beizugeben, selbst wenn die Welt bereits über ihr Schicksal entschieden hatte.
Vielleicht war es gewesen, als sie ihn angelächelt hatte, wirklich angelächelt, trotz all der Dinge, die er ihr angetan hatte.
Vielleicht war es in den stillen Momenten gewesen, in denen keiner von ihnen etwas sagen musste, weil das Verständnis bereits da war.
Oder vielleicht war es am Ende gewesen, als sie die endgültige Entscheidung getroffen hatte, und er machtlos gewesen war, sie aufzuhalten.
Sie war fort. Und alles, was er noch hatte, war dieser Körper, dieses Gesicht, dieses Leben - eines, das nie wirklich ihm gehört hatte.
Eines Abends saß Johnny auf dem Dach von Vs Wohnung, eine Zigarette hing lose in seinen Fingern. Vor ihm erstreckte sich die Stadt, die vor Leben strotzte und deren Neonlicht in die Dunkelheit blutete.
Night City.
Die Stadt, die ihm alles genommen hatte. Die Stadt, die ihn einmal getötet und dann zurückgebracht hatte, nur um ihn erneut leiden zu lassen.
Er atmete aus und sah zu, wie sich der Rauch in der Nachtluft wirbelte.
Er konnte nicht hier bleiben.
Nicht mehr.
Wohin er sich auch wandte, sie war da. In den Gesichtern der Menschen, die sie gekannt hatten. In den Straßen, durch die sie gegangen war. In den Wänden dieser Wohnung, wo ihr Lachen noch immer in der Stille widerhallte.
Wenn er hier bliebe, würde er sich verlieren. Er würde in der Vergangenheit ertrinken, in der Trauer, in dem Geist einer Frau, die Besseres verdient hatte, als auf eine Erinnerung reduziert zu werden.
Aber zu gehen bedeutete nicht vergessen.
Selbst wenn er es wollte, würde er es nicht wagen.
Denn Vergessen bedeutete, sie auszulöschen. Alles auszulöschen, was sie gewesen war, alles, wofür sie gekämpft hatte.
Und sie hatte mehr verdient als das.
Er drückte die Zigarette aus, der Entschluss saß ihm wie Stahl in den Knochen.
Es war Zeit zu gehen.
Johnny Silverhand wusste nicht, wohin er gehen sollte. Er wußte nicht, was für ein Leben er sich aufbauen sollte, wenn das einzige, was er je gekannt hatte, die Zerstörung war.
Aber er war bereit es zu versuchen.
Für sie.
Für V.
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