XVIII.II Verletzte Seele

26
Killian

Der Kronleuchter in dem alten Klassenzimmer war bereits entzündet worden, als sie eintraten. Die wenigen Öllampen tauchten die Bankreihe, auf der Asteria lächelnd saß, in ein geisterhaftes Halbdunkel. Eine dicke Schicht aus Staub hatte sich über die hintersten Holztische gelegt und begrub längst vergessene Pergamentrollen und eingeschnitzte Kritzeleien vergangener Tage unter sich. Es roch nach muffigem, kaltem Stein. Auf der großen Tafel am Lehrpult standen noch immer Killians unsauber geschriebene Worte Mostieur Mensᾳle, eine rumänische Ballade über den Schwebezauber, die er als Deckmantel ihrer offiziellen Arbeitsgemeinschaft ausgearbeitet hatte. Es würde nicht authentisch wirken, wenn sie im Notfall auf Zauberistik der alten Walachei umstellten und keinerlei Notizen an der Tafel zu sehen waren.

»Hat wer die anderen gesehen?«, fragte Killian in die Runde.

Während Mervyn und Rhydian es sich bereits auf den Stühlen bequem gemacht hatten, stand Jowna unschlüssig im Türrahmen und spähte hinaus in den dunklen Flur. »Ich glaube«, antwortete sie zögerlich, »Ellis und Arian kommen gerade. Ich kann sie reden hören.«

»Sehr schön.« Killian stützte sich auf dem Lehrpult in seinem Rücken ab. »Dann warten wir noch kurz.« Als sich fünf Minuten später alle auf ihre Plätze gesetzt und ihre Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet hatten, entschied er sich dafür, die Runde mit einer ungewöhnlichen Frage zu starten. »Wenn eine geliebte Person an der Klippe zwischen Leben und Tod stände, was würdet ihr tun, um sie zu retten? Würdet ihr dunkle Magie verwenden?«

Eine bedrückende Schwere legte sich über das alte Klassenzimmer. Von den Wänden hallte leises Atmen wider, unbehagliches Schweigen, das ihm nur zu deutlich zeigte, dass er einen unaussprechlichen Zweig der verbotenen Magie angesprochen hatte – selbst für seine Mitschüler. Sein bester Freund starrte ihn nachdenklich an, das erkannte Killian aus den Augenwinkeln. Als er seinen Blick provokant lächelnd erwiderte, sah Mervyn auf seinen Schoß hinab. Ja, niemand sprach gerne über Nekromantie. Doch das war auch nicht, worauf er in ihrer heutigen Stunde hinaus wollte.

»Asteria«, fuhr Killian schließlich fort. »Was weißt du über schwarzmagische Heilzauber?«

Die jüngste Schwester von Jowna, die sonst nie um eine Antwort verlegen war, selbst wenn niemand es hören wollte, schwieg. Sie blinzelte ihn an, sichtbar irritiert, doch nach einigen Sekunden, in denen sie wiederholt ihren Mund geöffnet und geschlossen hatte, fragte sie vorsichtig: »Ich dachte, wir lernen hier dunkle Magie. Heilzauber gehören doch nicht wirklich dazu, oder?«

Killian grinste böse. »Das hängt davon ab, wie verzweifelt du bist. Doch kann das, was im Kern dunkel ist, wirklich Leben–« Plötzlich wurde er von einem Klopfen unterbrochen. Sein Blick zuckte zur Tür, die sich in diesem Moment schwungvoll öffnete.

Die beiden Hexen, die dahinter zum Vorschein kamen, gaben ein seltsames Pärchen ab. Er kannte sie aus Beatrix Salon. Der Junge war einige Monate jünger als er, hatte dunkelblondes, kinnlanges Haar und stechend grüne Augen, während seine Begleitung an Unscheinbarkeit kaum zu überbieten war. Ihre Schultern waren eingesunken und alles an ihr, von ihrer Haut bis zu ihrer Kleidung, wirkte gräulich fahl.

»Das hier ist doch die Arbeitsgemeinschaft für rumänische Zauberistik?«, fragte der junge Hexer breit grinsend.

Die Art, wie er seine Worte ausgesprochen hatte, beinahe zynisch und voller Selbstbewusstsein, seine erhobene Haltung und das wagemutige Funkeln in seinen Augen verrieten Killian sofort, dass der Junge die Wahrheit hinter ihrer Studiengruppe kannte.

Sein Blick wanderte hinüber zu seinen Freunden, die alle schocksteif dasaßen, als hätte sie jemand bei etwas Illegalem erwischt. So viel zu seinem Plan, unauffällig auszusehen, sollte doch einmal ein Lehrer vorbeikommen. Er konnte von Glück reden, dass es nicht Amuigh gewesen war, der an die Tür des alten Klassenzimmers geklopft hatte. Rhydian und Mervyn fingen sich als erste wieder und schielten sich aus den Augenwinkeln fragend an. Ellis starrte die beiden fremden Hexen unsicher an, dabei nestelte sie an dem Anhänger ihrer Kette und zog ihren Kopf zunehmend tiefer ein. Als ihre Augen plötzlich in seine Richtung zuckten und er ehrliche Angst darin erkannte, dämmerte Killian, dass sie diejenige war, die sich verraten haben musste.

Er presste die Lippen zusammen.

»Wir würden gerne mitmachen«, fuhr der Junge fort, als noch immer niemand gewillt schien, das Schweigen zu durchbrechen.

»Tut mir leid«, erwiderte Killian gedehnt. »Wir sind schon ausgebucht. Probiert es doch gerne nächsten Sommer wieder.« Mit der linken Hand winkte er kurz und lustlos zum Abschied, um ihnen zu verdeutlichen, dass sie nicht willkommen waren.

»Zu schade.« Das Lächeln des Hexers vertiefte sich zu einem bösartigen Grinsen. »Ich bin gespannt, was der Schulleiter oder gar das Syndikat dazu sagt, wenn ich ihnen meine Vermutungen bezüglich dieser Gruppe hier unterbreiten werde.«

»Das würdest du nicht wagen, Edgar!«, rief zu seinem Erstaunen Asteria. Ein schrilles Quietschen echote durch den Raum, als sie ihren Stuhl ruckartig nach hinten schob. Sie wandte ihren Blick nach vorne zu Killian. »Wir müssen sie aufnehmen.«

»Gar nichts müssen wir«, ging Rhydian dazwischen. »Wir lassen uns doch nicht von dieser halben Portion erpressen.«

Asteria warf ihre langen, hellbraunen Haare zurück, dann funkelte sie Rhydian böse an. »Nicht jeder hier hat Eltern, die sich darüber freuen, wenn sie hören, dass ihre Kinder mit verbotener Magie experimentieren. Du magst von deinem Vater vielleicht einen Gut gemacht-Brief aus Castellum kriegen, aber–«

»Wie kannst du nur!«

»Schluss jetzt«, ging Killian dazwischen. Sein Herz schlug im Staccato gegen seine Brust, er spürte wie seine Handflächen schweißnass wurden. Es war eben jene Situation, die er von Beginn an zu vermeiden versucht hatte. Wie viel Mühe er sich auch gab, seine Freunde waren unzuverlässig und leichtsinnig, ja, beinahe als wollten sie sich eine Zelle im Staatsgefängnis teilen. Er musste handeln, wenn er sie vor sich selbst schützen wollte.

Er wandte sich an die beiden Hexen, die noch immer seelenruhig im Türrahmen standen. »Ihr wollt mitmachen? In Ordnung, sucht euch einen freien Platz.« Niemand wagte es, einen Mucks von sich zu geben. Killian nickte in Richtung der hinteren Tischreihen. Nachdem Edgar und seine namenslose Freundin sich gesetzt hatten, fuhr er mit fester Stimme fort: »Schon wieder stehe ich hier vorne und muss euch erklären, in welche Gefahr ihr uns mit eurer idiotisch achtlosen Art bringt. Schon wieder entgleitet uns jegliche Kontrolle darüber, wen wir in unseren kleinen Kreis aufnehmen. Warum war niemand als Wachposten vor der Tür?«

»Das frage ich mich auch«, warf Edgar lautstark ein. »Da werdet ihr ja eher erwischt, als ihr Mondscheinwesen sagen könnt.«

Killian musste sich zusammenreißen, den vorlauten Jungen nicht zu verfluchen. Seine Magie pulsierte sengend heiß durch seine Adern, dass er das Gefühl hatte, sie würde jeden Augenblick aus seinem Körper bersten. Sein Blick zuckte über seine Freunde, die sich in ihre Stühle zurücklehnten, als wollten sie Abstand zwischen sich und ihm bringen.

»Entschuldige«, traute Jowna sich als einzige zu sagen, »du hast niemanden zu Stundenanfang bestimmt...«

»Muss ich euch denn jeden Schritt vorbeten?« Seine Stimme zitterte vor Wut. »Ich habe euch die Regeln erklärt, verdammt. Ich dachte, ich habe es hier mit Hexen zutun, die selbständig mitdenken können. Die im Leben etwas erreichen wollen. Es kann doch nicht so schwer sein, dass sich jemand dazu berufen fühlt, vor der Tür Wache zu halten. Es ist jede Woche dasselbe.«

Ellis stand von ihrem Stuhl auf und nuschelte: »Ich gehe schon.«

»Hiergeblieben!«, zischte er. Kurz schloss Killian seine Augen, um sich zu beruhigen. Was sollte er tun? Er musste nachdenken, in Ruhe, doch er wusste, dass er es sich nicht leisten konnte, auch nur eine Sekunde länger zu zögern. »Ich habe es euch nicht erzählt, weil ich euch nicht beunruhigen wollte, doch mit Blick auf die letzten Entwicklungen kann ich nicht länger stillschweigen. Meister Amuigh... und ich vermute, ich muss niemandem erklären, wer er ist, hat ein scharfes Auge auf unsere Studiengruppe geworfen. Wir stehen unter Verdacht bei ihm und das nur, weil auch hier wieder einige von euch sich nicht an meine ausdrücklichen Anweisungen gehalten haben.«

Killian wartete kurz, bis er weitersprach. Seine Worte sollten Wirkung zeigen. Mervyn, der bereits davon wusste, saß mit unleserlicher Miene in der zweiten Reihe, während Ellis ihn besorgt ansah. Bei seinen restlichen Freunden erkannte er gemischte Gefühle. Rhydian und Arian hatten nachdenklich ihren Blick auf den Boden gerichtet. Asteria knetete unruhig ihre Hände.

»Ich sehe nur zwei Möglichkeiten.« Seine nächsten Worte gefielen ihm nicht, überhaupt nicht, doch er wusste sich nicht weiter zu helfen. »Wir schließen unsere Studiengruppe.« Wie zu erwarten, regte sich in die meisten Gesichter seiner Freunde Unwille. »Oder wir schützen ihr Geheimnis durch ein Ritual.«

»Bitte?«, unterbrach Edgar ihn. Skepsis und Neugierde kämpften in seinen stechend grünen Augen um die Vorherrschaft.

»Es ist eure Entscheidung.« Killian setzte sich im Schneidersitz auf den Lehrpult. Er würde niemanden dazu zwingen, sich einem schwarzmagischen Zauber auszusetzen, nur um Teil einer Arbeitsgemeinschaft sein zu können, doch sollte sich jemand weigern, würde er ihre Gruppe an den Nagel hängen. Das Risiko einer Entdeckung stand in keinem Verhältnis mehr zum Nutzen. Dass Verhör durch die Zauberwacht nach dem Angriff des Verdammten, hatte ihm bewusst gemacht, wie haarscharf er nur dem Verdacht entkommen war, verbotene Magie angewandt zu haben.

Rhydian fand als erster seine Worte wieder. »Was für ein Ritual?«

»Es ist sehr fortgeschrittene Magie. Schwierige Magie«, antwortete er ehrlich. Seit der Nacht in seinem Zimmer hatte er keine Zeit mehr gefunden, mehr darüber in Kenntnis zu bringen, doch was war das Leben schon ohne Risiken? Es würde alles gut gehen, immerhin hatte er genug Absätze verstanden, um einschätzen zu können, was ihn erwartete. Hoffentlich, sagte eine kleine Stimme in seinem Innern, die er beiseite schob. Er musste vor seinen Freunden Entschlossenheit ausstrahlen und sie überzeugen, bevor sie alle noch vor den Tribunalen wegen der Anwendung dunkler Künste standen. »Das Ritual nennt sich Seelenbindung. Kurz gesagt, es kreiert eine Signatur im Gehirn auf einen Reiz, beispielsweise einen Gedanken oder ein Gefühl. Stellt es euch wie ein Nadelöhr vor, an das ihr weitere Zauber anknüpfen könnt. Ich habe mir überlegt, es mit einem Fluch zu verbinden, der jeden, der sich zu verraten droht, kurzzeitig mit Kopfschmerzen und Schwindel belegt.«

»Das ist alles?«, fragte Asteria mit unsicherer Stimme. Sie warf ihrer Schwester einen kurzen Blick zu. »Ich weiß nicht so recht, wie ich das finden soll.«

Arian, der meist schweigend in der Ecke saß, richtete sich in seinem Stuhl auf. »Ich mach's.«

»Ich auch. Absolut«, pflichtete Mervyn ihm bei.

Mit einem Mal trat auch in Rhydians und Ellis Gesicht ein entschlossener Ausdruck. Killian musste schmunzeln. Kaum sprach sein bester Freund sich für eine Sache aus, folgten Hexen ihm. Er hatte auf diesen Effekt gehofft.

»Gibt es noch jemanden, der Bedenken hat?«

Obwohl Asteria noch immer sorgenvoll die Stirn in Falten gelegt hatte und eine ihrer Haarsträhnen durchweg um ihren Zeigefinger wickelte, meldete sie sich nicht. Damit ist es entschieden, dachte Killian sich.

Wenige Minuten später lag der Raum in stiller Konzentration, nur das leise Rascheln ihrer Bewegungen und das ferne Prasseln von Regen außerhalb der Burgmauern war zu hören. Die Tische und Stühle standen an den Rändern des Klassenzimmers. Mit dem Pulver aus Spitzwegerich hatte Killian einen Kreis um sie gezogen, der sich wie ein schwerer Vorhang zwischen ihnen und der Außenwelt anfühlte. Der herbe Pflanzenduft vermischte sich mit dem von staubigem Holz. Das Licht der Öllampen drang nur schwach bis in ihre Mitte, beinahe so, als würde es von einer magischen Barriere geschluckt.

Killian saß ruhig im Schneidersitz, während seine Freunde um ihn herum aufmerksam jede seiner Regungen verfolgten. Er atmete tief ein und aus, versuchte sich auf seine Magie zu konzentrieren. Das elektrisierende Prickeln, die Wärme. Die beiden Bienenwachskerzen links und rechts von ihm entzündeten sich. Ihre Flammen tanzten und zuckten, zeichneten als warmes Licht die Gesichter der Hexen nach. Vor ihm in der Mitte ihres Sitzkreises stand eine Kupferschüssel, in der er Sumpfdotterblumen zerrieben hatte. Die Blütenblätter schienen unwirklich hell zu leuchten, als er die Blutopfersteine vorsichtig hinein legte.

Seine Armhaare stellten sich auf. Freudige Erwartung flackerte durch seinen Körper. Er griff nach dem Messer, auf dessen scharfer Klinge sich der Kerzenschein reflektierte, und bohrte sich mit der Spitze in den linken Ringfinger. Heiseres Ächzen entwich ihm, als ein schmerzhaftes Brennen und Pochen durch seine Hand zog. Ein schimmernd rotes Rinnsal aus Blut sammelte sich an seiner Fingerkuppe zu einem dicken Tropfen, der in die Schüssel fiel.

»Das Ritual hat begonnen. Es ist mein Blut, dessen Energie nun durch die gereinigten Bergkristalle fließt.« Er nickte Arian zu, der sich nach vorn beugte und nach einem der Blutopfersteine griff.

Ihre Oberfläche schimmerte dunkel und milchig, war von schwarzen Adern durchsetzt. Arian presste seine Lippen fest zusammen, als er sich mit der Spitze des Kristalles in die Handfläche ritzte, bis Blut seine Hautrillen entlang nach unten tropfte. Er legte den Stein zurück in die Kupferschüssel, ehe er sich die Wunde an die Lippen drückte.

»Asteria, du als nächstes«, wisperte Killian.

Er spürte, dass sie nervös war. Ihr Blick huschte immer wieder zu Jowna, die nachdenklich auf den Boden starrte. Ihre Lippen bebten, als wollte Asteria etwas sagen, doch kein Ton verließ ihren Mund. Sie schloss ihre Hand um den kühlen Stein und stach sich mit zusammengezogenen Augenbrauen in den Finger. Ihre zuckenden Mundwinkel verrieten Killian nur zu deutlich, wie sehr sie mit sich kämpfte, dann fiel ein rubinroter Bluttropfen in die Schüssel, zerplatzte an der glatten Oberfläche der Blutopfersteine und versickerte in den zerriebenen Blütenblättern.

Mervyn, der als nächstes an der Reihe war, beobachtete in kühler Gelassenheit, wie Asteria den Kristall zu den anderen zurücklegte, als wäre Blutmagie nur ein weiterer logischer Schritt im Kreislauf ihres Lebens. Ohne zu zögern, zog er sich einen der Blutopfersteine über seine blasse Haut und lächelte Jowna aufmunternd zu, die als nächstes an der Reihe war.

Als auch der letzte Tropfen den Boden der Schüssel benetzte, legte Killian fasziniert den Kopf schief. Das Gelb der Sumpfdotterblüten hatte sich im Blutrot fast verloren. Es war nicht die Magie, die sein Herz schneller schlagen ließ, sondern das Wissen um die Tragweite ihres Blutopfers. Die dunklen Künste verlangten stets eine Darbringung vom Lebenden – Knochen, Blut oder auch die reinste aller Energien. Die Seele. Diese Macht so unschuldig vor sich zu wissen, ließ sein Herz schneller schlagen und fiebrige Begeisterung durch seine Adern rauschen.

»Nimmt euch bei den Händen«, erhob Killian schließlich das Wort. Eine metallische Note lag in der Luft, es war beinahe, als konnte er ihr Blut auf der Zunge schmecken. »Schließt eure Augen.« Er spürte ihre Anwesenheit, nun wo sie über die Kristalle miteinander verbunden waren. Hitze flutete seinen Körper. Ein Feuer brannte in seinem Inneren vor pulsierender Magie, bereit entfesselt zu werden. »Fühlt tief in euch hinein. Lauscht eurem Atem, dem Klang eures Herzens in der Brust. Spürt jeden Muskel, jedes Beben eures Körpers, heißt die Magie in euch willkommen, ihre wilden, mächtigen Funken und lasst sie frei.«

Ein unbeschreibliches Gefühl ergriff von ihm Besitz. Es war, als würde er seinen ersten Sonnenuntergang erneut erleben, seinen ersten Kuss damals mit Beatrix im Wald, das elektrisierende Pulsieren seines ersten gewirkten Zaubers und noch viel tiefgehender. Als könnte er erneut zum ersten Mal in seinem Leben das Licht der Welt erblicken.

»Sagen wir nun unsere heiligen Regeln auf«, wisperte Killian in rauem Tonfall.

»Wir schützen das Geheimnis unserer Gemeinschaft«, hallte es an den Wänden des alten Gemäuers wider und vermischte ihre Worte zu einem mehrstimmigen Echo. »Wir wahren Stillschweigen. Wir reden nur untereinander über das Geheimnis unserer Gruppe.«

Sein Herz raste. Es war anders als alle dunklen Zauber, die er bisher gewirkt hatte. Da war nicht dieses alles einnehmende Rauschgefühl, das ihn alles vergessen ließ, diese Ekstase endloser Macht, die Klippe, von der er in den pechschwarzen Abgrund hinabsah. Viel mehr flutete ihn warmes Glück wie ein sanfter Frühlingstag, wenn er die Sonnenstrahlen im Gesicht spürte und die Welt in Blüte und bunten Farben erstrahlte. Etwas in seinem Innern, fand es merkwürdig beunruhigend, wie friedvoll das Ritual sich anfühlte, so als wäre es nur die Ruhe vor dem Sturm.

»Wir schützen das Geheimnis unserer Gemeinschaft«, wiederholten sie im Chor. »Wir wahren Stillschweigen. Wir reden nur untereinander über das Geheimnis unserer Gruppe.«

Seine Hände prickelten. Ihm wurde heiß und kalt zugleich. Obwohl er seine Augen geschlossen hatte, erkannte er ein durchdringendes, feuriges Leuchten um sich scheinen.

Wir schützen das Geheimnis unserer Gemeinschaft. Wir wahren Stillschweigen. Wir reden nur untereinander über das Geheimnis unserer Gruppe. Immer wieder erklangen die Worte und mit jedem Mal hatte Killian das Gefühl, sich vollständiger zu fühlen, lebendiger. Als würde er mit seinem wahren Selbst verschmelzen. Wir schützen das Geheimnis unserer Gemeinschaft. Wir wahren Stillschweigen. Wir reden nur untereinander über das Geheimnis unserer Gruppe.

Er spürte, dass es an der Zeit war. Langsam öffnete er seine Augen und obwohl er noch immer das Summen ihrer Stimmen hörte, sah er, dass keiner seiner Freunde die Lippen bewegte. Sie saßen da mit kopfüberhängenden Gesichtern wie in Trance, beinahe als würden sie schlafen. Killian griff nach einem der Blutopfersteine. Seine Bewegungen waren fahrig und seltsam verzerrt, als hätte er einen über den Durst getrunken. Er schnitt sich mit der scharfen Kante des Kristalls viel zu tief in seine Handfläche, doch da war kein Schmerz, kein Stechen oder Pulsieren, nur dieses warme Gefühl der Vollkommenheit in ihm.

Blut rann seine Finger hinab in die Kupferschüssel. Kaum zerbarst der rote Tropfen an der spiegelglatten Oberfläche der Steine, erstarb das wunderschöne Leuchten und mit ihm auch jede Wärme. Killian zog scharf die Luft ein. Der Schmerz in seiner Hand fiel so plötzlich über ihn herein, dass er gequält aufstöhnte. Er konnte sich kaum auf den Zauber konzentrieren, denn da war nur dieses alles verschlingende Brennen, das sich langsam über seinen Arm auf seinen ganzen Körper ausweitete. Ein gequälter Laut entwich seiner Kehle, nur kurz, als seine Stimme versagte und er sich zusammenkrampfte. Ihm war, als stünde er inmitten eines Feuers, das jeden Zentimeter seiner Haut verkohlte. Er wollte wegrennen, sterben, es sollte nur aufhören. Bilder flammten vor seinen Augen auf. Seine Mutter in ihrem Bett, wie sie dalag, stumm und leblos, während Tag für Tag verging. Das leise, heimliche Schluchzen von Gwynedd und Maddalena, die sich nicht trauten, vor ihm gänzlich in Tränen auszubrechen. Weitere Bilder. Sein Vater an ihrem Bett. Wie er ihre Hand hielt. Die Heiler, als sie verkündeten, dass es nichts mehr gab, das sie tun konnten. Jowna, mit der im alten Klassenraum zurückgeblieben war, ihre verschränkten Finger und das erleichterte Lächeln auf ihren Lippen. Die Bilder wurden zu einem Sturm aus Farben und Gefühlen, immer schneller, bis er dachte, sie würden ihn von innen heraus zerreißen. Er schrie. Dann war es vorbei.

Killian blinzelte stöhnend. Mit der flachen Hand wischte er sich übers tränennasse Gesicht. Wann hatte er geweint? Aus den Augenwinkeln erkannte er, dass seine Freunde langsam erwachten. Rhydian und Ellis sahen sich verwirrt um, als hätten sie vergessen, was um sie herum geschehen war. Arian streckte sich genüsslich, während sein verschleierter Blick am Kronleuchter hängen blieb. Jowna jedoch, sie starrte ihn an. In ihren Augen lag etwas, er konnte es nicht einordnen. Trauer? Besorgnis? Nein. Er presste seine Lippen zusammen und obwohl er ihren Blick, dieses tiefe Mitgefühl, mit dem sie ihn ansah, nicht erwidern wollte, konnte er nicht wegschauen.

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