XV. Am Grab von Bhaltair
22
Raban
Die Sonne stand hoch am Himmel, als er den schmalen Sandweg hinab lief. Kieselsteine knirschten unter seinen Schuhen. Die Luft war schwer und feucht, dunkle Wolken zogen von Westen auf. Auf Höhe von Alt-Thierstein schien es bereits zu regnen, denn grauer Dunst verschleierte den Horizont und über die Wipfel der Tannen hinweg zogen Schwalben ihre Kreise. Der Wald lichtete sich und gab die Sicht auf eine weite, wilde Blumenwiese frei. Bunt getupfte Farben in sattgrünem Gras. Talwärts am Hang stand die riesige Eibe, die ihre Äste tief über den Boden schob. Die Grabsteine seiner Vorfahren wirkten unwirklich, wie sie da inmitten von all dem puren Leben standen. Insekten schwirrten um sie herum.
Hinter Raban lag das niedergebrannte Haus seiner Eltern. Nur die Grundmauern standen noch nackt und leblos, um die Fensterdurchbrüche hatte sich schwarzer Ruß gezogen wie bei einem Holzstamm, der im Feuer lag. Die Säulen um den Eingang zierten abgesplitterte Stellen, dicke Steine lagen auf der Veranda verteilt. Er wandte sein Blick von den Trümmern ab.
Er wusste nicht, was er sich davon erhofft hatte, zurück zu kommen, doch irgendetwas sagte ihm, dass hier, wo alles begonnen hatte, der Schlüssel zu seinen Fragen lag. Die abgebrannte Ruine hatte Bhaltair einst erbaut, hier war Raban selbst geboren worden und auch hier hatte er das Medaillon gefunden. Sein Herz donnerte ihm in der Brust. Es gab so vieles, das er nicht verstand. Er kniff die Augen zusammen und lauschte dem Wind, dem sanften Rascheln des Grases, dem Summen und Knacken. Es war still und doch so lebendig laut.
Sein Kopf schmerzte. Das Wetter war unangenehm warm und feucht. Seit Tagen schon pochte es hinter seinen Schläfen, nicht stark, aber mit einer solchen Konstanz, dass ihm ganz schwindlig davon wurde. Langsam ging er auf die Gruft mit der Grabfigur zu. Auf die gebückte Gestalt, die eine Laterne in die Luft hielt, als suchte sie nach etwas. Der Stein war von Moos durchfressen. Die Knochen und Schädel auf dem Sockel waren kaum zu erkennen.
»Bist du das?«, fragte Raban. Seine Stimme war kaum mehr als ein kratziger Hauch.
Ja, spürte er das Medaillon antworten. Es lag angenehm kühl auf seiner Haut. Es ist anzunehmen, dass ich das bin.
Er strich behutsam über das Grab, als könnte es ihm Antworten geben. Steinerner Blauregen rankte sich um den Sockel, viele Stellen waren abgeplatzt und von der Zeit glatt gespült, doch unten auf Bodenhöhe waren einige Blätter noch gut zu erkennen. Warum hatten sich seine Hinterbliebenen für Blauregen entschieden? Es galt als dunkles Omen und überhaupt wirkte die Grabfigur untypisch schaurig und finster mit dem aufgeplusterten Raben auf der Schulter und der Kapuze tief im Gesicht. Die Steinplatten unter seiner Hand gaben mit einem Mal nach, verschoben sie krachend, bis das Gemäuer einen schmalen Eingang frei gab.
Du weißt, ich bin ein dunkler Hexer, mein junger Erbe. Es ist kein Grab, vor dem du stehst, sondern ein Mahnmal. Errichtet von Pwyll, meinem Vater, und sicherlich auch meinen Brüdern.
»Aber warum?« Raban legt den Kopf schief. Ein Teil in ihm sehnte sich danach, in die Schwärze der Gruft hinab zu steigen, den modrigen Geruch tief in sich aufzunehmen, über den Sarkophag zu streichen, doch etwas hielt ihn ab. Seine Brust kam ihm zu eng zum Atmen vor, so als würden zwei Herzen in ihm schlagen. Schon seit Tagen war da diese merkwürdige Zerrissenheit in ihm.
Meine Familie hat meine Studien nie verstanden, nie ihren Sinn und die Macht begriffen. Sie fürchteten die schwarzen Künste, so wie es viele Hexen fürchten.
Seine Augenbrauen schossen nach oben. Er konnte kaum glauben, dass die Familie N'Branáin nicht bereits seit Urbeginn mit den verbotenen Künsten in Verbindung stand. Sicher, selbst Hexen wie seine Großmutter oder Tante pflegten diese Zweige der Magie selten und nur gesittet einzusetzen, doch gleichzeitig waren auch sie es gewesen, die ihm von Kind an beigebracht hatten, tiefer in diese Sphären einzutauchen. Seine Eltern hingegen schienen dunkle Magie zu atmen, beinahe als wäre jede einzelne ihrer Zellen davon durchdrungen. Seit ihrer Verhaftung war der Welt bekannt, dass seine Familie alle Formen der Magie zu nutzen wusste.
Eine schöne Entwicklung. Aber gewiss nicht schon immer so.
Die Worte standen im Widerspruch zu allem, was seine Großmutter ihm über das riesige Erbe der N'Branáins erzählt hatte. Er hatte geglaubt, die schwarze Magie würde das Blut seiner Ahnen durchfließen wie das Wasser den Fluss. Ob er in direkter Linie von dem Medaillon abstammte?
»Hattest du Kinder?«, fragte Raban.
So viel ich weiß, hat keines seinen sechsten Winter überlebt.
Er ging um die Gruft herum auf das nächste Grab zu. Der Gedanke, dass Bhaltairs Kinder nie erwachsen hatten werden können, erfüllte ihn mit einer seltsamen Befangenheit. Bei ihm war es umgekehrt. Seine Eltern hatten nie sehen können, wie er groß wurde und schließlich zu einem jungen Mann herangereift war – wie seine Großmutter stets zu sagen pflegte. Das Grab, vor dem er nun stand, war auffällig schlicht. Die bemoosten Buchstaben auf dem Steinpflock konnte er kaum entziffern, so alt musste es sein. Die Runen darunter gaben womöglich ein Datum an, den Stil hatte Raban schon oft gesehen, aber er wusste nicht viel damit anzufangen.
Sechszehnhundertsechzig, übersetzte das Medaillon. Grob überschlagen.
»Wer war er?«
Das war nach meinem... Ableben, Raban. Ich weiß so wenig wie du, wer hier liegt.
Das heißt, dachte er überrascht, du bist schon seit über dreihundert Jahren tot? Hatte Bhaltair all die lange Zeit in seinem Grab nicht mitbekommen, was um ihn herum geschah? Rabans Gedanken rasten. Die Vorstellung, dass das Medaillon so viele Jahrhunderte in der steinernen Schatulle gefangen, eingesperrt in seinen Gedanken gelebt hatte, erfüllte ihn mit Entsetzen. Gänsehaut breitete sich über seine Arme aus. Er dachte an seine Eltern. An die Versiegelungen, die sie in ihren Geist einsperrten, bis ihre Körper irgendwann einfach starben. Das war keiner Hexe würdig und doch schien es, als würde über seiner Familie ein dunkler Fluch liegen, der sie zu diesem Schicksal verdammte.
Ich bin nicht lebendig, junger Erbe. Du darfst mich nicht mit dir vergleichen. Ich bin nicht viel mehr als ein Echo meines einstigen Selbst, eingefangen und aufbewahrt in diesem Medaillon zwar, aber letztlich nur ein Echo. Zeit vergeht für mich anders als für dich. An diese Gesetze bin ich nicht mehr gebunden.
»Du hast–« Raban räusperte sich. Seine Stimme klang belegt und traurig. »Du hast nichts mitbekommen, bis ich dich gefunden habe? Du warst... wie im Schlaf?«
Nicht ganz. Ich konnte Ausschnitte sehen, Erinnerungsfetzen. Vielleicht, ja, wie ein Traum im Schlaf. Ich spürte die Nachkommen meiner Familie und durch ihre Augen sah ich kurze Bruchstücke herausgerissener Leben. Manchmal stärker, später schwächer und irgendwann gar nicht mehr. Doch dann wurdest du geboren. Nach über zweihundert Jahren in der Dunkelheit habe ich wieder einen Nachkommen gespürt und das intensiver als je zuvor. Ich sagte es schon, ich habe nach dir gerufen... so wie etwas in dir nach mir rief.
»Aber wie kann das sein?« Raban ging vor dem Grab in die Knie. Donner grollte über den Himmel.
Ich bin nicht allwissend. Doch die Macht des Blutes geht tief, nicht grundlos nutzen wir sie, um unsere Familien und Erben zu schützen.
»Könnte es sein, dass ich ein Nachkomme von dir bin?«, fragte er.
Nein, das ist nicht möglich. Wie ich dir sagte, keines meiner Kinder überlebte. Raban meinte, eine gewisse Bitterkeit in Bhaltairs Worten mitschwingen zu hören.
Doch es musste eine Verbindung geben. Die Stimme des Medaillons in seinem Kopf, Gwynedds Amulett, dessen Geschichte eindeutig mit der Heimat seiner Familie verwurzelt war. Er musste nachforschen. Bei seiner Tante im Salon hatte er eine Familienchronik entdeckt, in die er noch heute Abend einen Blick hinein werfen würde. Die Chancen, etwas zu finden, waren gering, das war ihm bewusst. Doch an die Alternative wollte er kaum denken...
Als er im Sommer das Haus seiner Großmutter verlassen hatte, hatte er nicht viel mitgenommen. Das Anwesen stand nun verlassen und unberührt wie das seiner Eltern. Er hatte es dort nach ihrem Tod nicht mehr ausgehalten, war zu Mervyn und Breean geflüchtet, doch er hatte immer vorgehabt zurückzukehren. Dabei wusste er, dass er es nicht konnte. Einsamkeit umgab diese Vorstellung. Er wollte es sich nicht eingestehen, weil es bedeutete, dass er wieder ein Zuhause verloren hatte. Sein Blick wanderte den Hang entlang zu der niedergebrannten Ruine. Vielleicht hatte er keine Wahl. Nach der Verhaftung seiner Eltern hatte seine Großmutter Aurelia einen Teil ihrer Besitztümer gerettet, bevor das Feuer gelegt worden war. Im Studierzimmer seiner Großeltern standen die uralten Dokumente und Ahnentafeln, Bücher über seine Vorfahren und Familiengeschichte fein säuberlich in Regale eingereiht, seit Jahrhunderten im Besitz seiner Familie. Wenn er Antworten wollte, musste er entgegen all seiner Gefühle vermutlich zurück.
Erste Regentropfen benetzten seine Haut. Raban sah hinauf. Die dunklen Ausläufer schwarzer Gewitterwolken hatten ihn eingeholt und zogen sich wie Krebsgeschwüre durch den Himmel. Es war erst kurz nach dem Mittag, doch nun, wo das Unwetter jegliches Licht schluckte, wirkte die Welt um ihn herum trist und grau, als wäre es bereits früher Abend. Ein tiefes Krachen rollte über seinen Kopf hinweg, dicht gefolgt von einem Blitz, der die Grabsteine einen Herzschlag lang in grelles Licht hüllte. Raban wollte aufstehen und zurück ins Dorf laufen, doch plötzlich schüttete es wie aus Kübeln. Innerhalb von wenigen Atemzügen war er bis auf die Haut durchnässt. Seine Haare klebten ihm nass an der Stirn. Er konnte kaum sehen vor lauter Regen, der ihm das Gesicht hinabrann.
Von tiefgrünen Tannen umrahmt starrte ihm das alte Herrenhaus seiner Eltern entgegen. Raban lief los. Jeder Schritt erzeugte ein feuchtes Schmatzen auf der Wiese, während der Regen erbarmungslos auf ihn niederprasselte. Wind peitschte ihm ins Gesicht. Seine Härchen stellten sich vor Kälte auf. Ein weiteres Donnergrollen brach durch die dichte Wolkendecke wie das tiefe Brüllen eines Himmelslöwen. Er hechtete die Stufen hinauf und zwängte sich an den verkohlten Überresten der Tür vorbei, die halb aus den Angeln gerissen war, hinein in die sicheren Arme der Ruine.
Nur langsam gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit. Der modrige Geruch feuchter Erde, die sich in den Ecken gesammelt hatte, mischte sich mit dem von Staub und Regen. Der Boden war pechschwarz und morsch. Überall lagen verkohlte Trümmer, Relikte eines Lebens, das er nie kennengelernt hatte. Es musste einst eine Eingangshalle gewesen sein, nun kaum mehr als eine leere Hülle. Ein Blitz erhellte den Raum. An der nackten Wand hing ein Bilderrahmen, dahinter führte eine Treppe hinauf ins Obergeschoss. Das verwitterte Foto war halb hinter rußbedecktem Glas verschwunden.
Er brauchte Licht. Raban schloss seine Augen. Er spürte den eisigen Sturm tief in seinem Innern, ein kühles Summen, das sich langsam bis in seine Arme ausbreitete. Jeder Atemzug war wie erste Sonnenstrahlen an einem Wintermorgen. Seine Fingerspitzen prickelten vor Magie. Er hatte das Gefühl, ein kalter Hauch strich über seine Haut und in seinen Gedanken wurde alles klar und scharf. Er atmete aus. Als er seine Augen öffnete, betrachtete er lächelnd das kühle Leuchten in seiner linken Hand, das den Eingang in ein unheimliches Blau tauchte.
Sein Blick blieb an dem Bild hängen. Er trat näher und hob seine Finger, um es zu beleuchten. Eine Frau, vielleicht Anfang ihrer Dreißiger, war zu erkennen. Sie hatte buschiges, aschbraunes Haar, das in wilden Strähnen über ihre Schultern fiel. Ihre Augen waren groß und seelenvoll dunkel wie die einer Puppe, die Wangen rot, als hätte sie gelacht... oder geweint. Raban konnte sich nicht erinnern, seine Mutter jemals kennengelernt zu haben, doch er fühlte sich ihrem Anblick seltsam nah.
Er wischte sich die regennassen Haarsträhnen aus dem Gesicht. Der Himmel entlud krachend seine Macht. Als Kind hatte er nächtelang wachgelegen und Gewittern gelauscht, nachdem seine Großmutter ihm erzählt hatte, dass jedes Donnern bedeutete, dass seine Eltern gerade an ihn dachten. Wie sehr er in die Vorstellung verliebt gewesen war. Heute wusste er es besser. Da war diese Bitterkeit in ihm, diese Wut darüber, dass seine Mutter die Verlockungen der schwarzen Magie und den Glauben an eine keltische Welt über ihre Liebe zu ihm gestellt hatte. Ein Teil in ihm hasste sie dafür, dass er durch ihre Fehler zu einem verborgenen, einsamen Leben ohne Eltern verdammt war. Doch da war gleichzeitig auch diese Sehnsucht tief in ihm, die ihn seine Mutter mit jedem Millimeter seines Seins vermissen ließ. Er würde alles dafür tun, sie aus Castellum zu befreien.
Raban wandte seinen Blick von dem Foto ab. Die Magie erlosch und mit ihr auch das kühle Leuchten, bis er wieder in der tristen, stockdusteren Ruine des Hauses seiner Vorfahren stand. Der Regen prasselte unaufhörlich und verschmolz mit dem Rauschen des Windes zu einer leisen, traurigen Melodie.
Seine Hände kamen auf der rauen Wand zum Liegen. Er hatte nicht erwartet, dass der Anblick der Ruine ihn nach all den Jahren noch immer mitnehmen würde. Vielleicht lag es daran, dass er zum ersten Mal alleine hier war. Allein mit sich und seinen Gedanken.
Ich bin sicher, sie haben dich geliebt.
Trümmer knackten unter seinen Stiefeln, als er auf die Treppe zulief und seinen Fuß auf die erste Stufe stellte. Das Holz gab unter seinem Gewicht nach. Er wusste nicht, wie er auf die Worte des Medaillons reagieren sollte, außerdem wollte er es auch nicht. Wie oft hatte er es schon gehört? Sie haben dich sicher geliebt. Sie hatten ihre Gründe. Vielleicht haben sie keine andere Möglichkeit gesehen. Es tut mir leid. Es tut mir leid für dich. Ja, ihm tat es auch leid. Er folgte der Treppe nach oben. Schwaches Licht brach sich durch Löcher im Dach, an Ziegeln und Balken vorbei, und tauchte das Obergeschoss in grauen Schein. Mit jedem Schritt fühlte er sich tiefer in die Vergangenheit versetzt.
Er stand in einem Schlafzimmer. Die Überbleibsel einer Matratze und das rußgefärbte Holzgestell erinnerten an das Leben, das zurückgeblieben war. Ob sein Vater oft in dem Sessel vor dem Fenster gesessen und gelesen hatte? Vertieft in alte Bücher über Elixiere und Kräuter? Warum hatten sie ihn geopfert? Wäre alles anders gekommen, hätten sie hier eine wunderbar glückliche Familie sein können.
Manchmal sind unsere Entscheidungen kompliziert. Sie glaubten wahrscheinlich, das Richtige zu tun, mein Junge.
»Glaubst du, das weiß ich nicht?« Raban fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht, dann stieß er ein frustriertes Seufzen aus. »Ich hätte nicht herkommen sollen.«
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