XIII. Ziele einer Sekte
20
Raban
»Ich weiß, dass du ein Eigenbrötler bist«, begann Mervyn erneut, das Thema anzuschneiden. »Ich möchte dich trotzdem noch einmal bitten, darüber nachzudenken. Disablót fällt dieses Jahr auf einen Samstag. Meine Mutter möchte es gerne mit uns zusammen feiern.«
Raban entwich ein Seufzen. »Ich werde dir kein drittes Mal erklären, dass ich bereits eigene Pläne habe. Konzentriere dich lieber auf deinen Brief.«
Die edel geschwungene Schrift seines Cousins verlieh dem Schreiben an das zweite Sekretariat des Justizmagistrats, indem er offiziell einen Praktikumsplatz bei den kleinen Tribunalen erbat, eine feierliche Note. Sein Federhalter kratzte elegant über das Papier als wären die Worte sein Kunstwerk und die Tinte seine Farben.
»Ich habe die Stelle ohnehin sicher«, erwiderte Mervyn gewichtig. Er überschlug lässig die Beine und ließ sich in das weiche Polster des Sessels zurückfallen. »Das Schreiben ist nur der Form halber.«
»Wie schön«, gab Raban sich Mühe, seinen Tonfall neutral klingen zu lassen. Dass er frustriert war, lag nicht an seinem Cousin, sondern der Tatsache, dass er mit den Runen von Gwynedds Amulett in einer Sackgasse stand. Als er die letzte Woche über versucht hatte, die Lautwerte zu rekonstruieren, dachte er noch, auf dem richtigen Weg zu sein. Ihr strahlendes Gesicht, wenn er hätte verkünden können, dass er dem Geheimnis einen Schritt näher gekommen war, wich jedoch zunehmend Missmut und Enttäuschung. Nichts an den Runen ergab einen Sinn.
Während er auf dem Boden vor dem Kamin saß, gedankenversunken und verärgert mit der Welt in die flammende Glut starrte, zuckten Bilder vor seinem inneren Auge auf. Eine junge Frau. Etwas an ihr erinnerte ihn an Gwynedd. Die Gedanken fühlten sich nicht fremd an und doch war ihm, als wären es nicht seine eigenen. Ihr Gesicht wurde von den tanzenden Flammen einer Fackel erhellt. Ein Lächeln ruhte auf ihren Lippen, die im Licht feucht glänzten. Wie sie ihn ansah, offen und fasziniert, brachte sein Blut zum Rauschen. Er trat auf sie zu. Sie saß auf seinem Studiertisch, umgeben von Pergamenten und bedrucktem Papier, das unter ihrer Robe verschwand, die in festlichen Rüschen über ihre Hüften die Tischbeine hinab wallte.
»All die Hexen hoch oben auf dem Berg hatten bestimmt nur Augen für ihre zurechtgemachte Gestalt«, sagte er. Seine Hand strich über den feinen Stoff. »Da bin ich mir sicher.«
Sie senkte ihren Blick auf seine Finger, die kleine Kreise über die Schürze der Robe zeichneten. »Er schmeichelt mir, doch ich bin weder Fräulein noch fein. Ich ging nicht zum Mittsommerfest, weil ich mich zu amüsieren gedachte. Meine Absichten verfolgen ein Ziel. Wenn mir der Sinn nicht nach Wissen stünde, wäre ich daheim geblieben.«
Ein raues Lachen entwich seiner Kehle. Kurz und tief. »Wenn ihnen der Sinn nicht nach Wissen stünde, wären Sie nicht hier bei mir. Sie sind unerschrocken und fürchten sich nicht vor unserer Macht.«
»Ich kann spüren, dass es Ihm gelungen ist«, erwiderte die junge Frau mit gesenkter Stimme. Ihr Haar glänzte im Rot der Flammen wie Blüten aus Klatschmohn. Sein Blick glitt über ihr Gesicht, die Nase hinab zu ihren Lippen, die ihm ein einladendes Lächeln schenkten. »Die Magie ist mächtig.« Sie griff nach seiner geschlossenen Hand, strich mit ihren Fingern behutsam über seine Haut, die den silbernen Anhänger verbarg. »Bhaltair...«
Sein Name aus ihrem Mund klang himmlisch. Ein Schauder prickelte seinen Rücken hinab, flutete sein Innerstes mit Hitze und Zuneigung. Er trat näher. Seine Lippen fanden ihre Wangen. Er küsste ihre zarte Haut bis hinab zu ihrem Hals.
»Bhaltair«, flüsterte sie, »Ihr dürft das nicht.«
Das Ächzen der alten Holzdielen riss Raban aus diesem merkwürdigen Gefühl zwischen Erinnerung und Traum. Sein Cousin war hinter ihn getreten und sprach mit ihm.
»Hörst du mir zu?« Mervyns Stimme klang amüsiert. »Was beschäftigt dich so sehr?«
Noch immer schlug Raban das Herz bis zum Hals. Sein Mund fühlte sich staubtrocken an und überhaupt, sein ganzer Körper stand unter Strom. »Nichts«, erwiderte er unruhig. Er schüttelte seinen Kopf, doch konnte die seltsam fremden Gedanken kaum vertreiben. Die junge Frau ließ ihn nicht los. Er vermisste sie. Das konnte er tief in sich spüren, dabei war er ihr noch nie zuvor begegnet.
»Nichts also«, sagte Mervyn mit einem fiesen Grinsen. Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Sag das mal deinem psychopathischen Gesicht.«
Raban stieß einen frustrierten Laut aus.
»Kann ich dir irgendwie helfen?«, versuchte sein Cousin es erneut.
»Ich glaube kaum.« Seine Gedanken rasten. Er hielt Mervyn den Zettel mit den skizzierten Runen entgegen. »Da du es so unbedingt wissen willst, hier. Kennst du dich zufällig so gut damit aus, dass du einen uralten, seltenen Dialekt übersetzen kannst?«
Niemand rührte sich. Mervyn starrte auf das Stück Papier, als handelte es sich um einen Mistkäfer, den er vergöttern sollte. Seine Augenbrauen schossen in die Höhe. »Das sieht fürchterlich aus. Du weißt, ich interessiere mich nicht besonders für Runen.«
»Dann lass mich bitte in Ruhe nachdenken«, murrte Raban. Er ließ sich rücklings auf die warmen Holzdielen sinken und verschränkte die Arme vor seinem Gesicht. Es hatte so vielversprechend ausgesehen. Seine Idee bei Gwynedd Zuhause hatte sich nach Erfolg angefühlt, doch nun musste er sich eingestehen, dass sie keinen Schritt weiter gekommen waren. Sie standen wieder am Anfang.
»Du hast Glück.« Mervyns Stimme hallte wie Verachtung durch seine Gedanken. Er wollte ihm sagen, dass er sich irrte, dass das Glück ihn schon vor so vielen Jahren verlassen hatte, doch er brachte kein Wort über die Lippen. »Ich kenne jemanden, der dir helfen kann.«
Rabans Blick schoss in seine Richtung. »Wen?«
»Alles nacheinander«, wiegelte sein Cousin ab. Er setzte sich im Schneidersitz zu ihm auf den Boden und legte seine dunkelblaue Lesebrille zurück ins Etui. »Erst einmal interessiert mich, wofür du diese Übersetzung benötigst.«
»Das geht dich nichts an.«
Mervyn verzog seine Lippen zu einem scheinheiligen Lächeln. »Hilfe im Austausch für Informationen. Ich bin neugierig.«
»Ich... es«, stammelte Raban. Keine sinnvolle Ausrede wollte seinen Mund verlassen. Er stützte sich auf seinen Ellenbogen ab, um sich aufzurichten.
Sag, es sei etwas, das mit der Geschichte eurer Familie zutun hat.
»Es steht in Verbindung zu unseren Ahnen«, wiederholte er. Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, stockte er. Bhaltair, Ihr dürft das nicht. Das hatte die junge Frau gesagt. Ihre Stimme klang wie sanftes Windspiel in seinem Ohr nach. Seine Atmung beschleunigte sich, ihm wurde schlagartig heiß und kalt. Vielleicht, drang die Erkenntnis zu ihm durch, war es möglich, dass er nicht träumte, sondern... die Erinnerungen des Medaillons wahrnahm.
»Na schön«, sagte Mervyn. »Ich werde meinen Bekannten fragen. Aber du schuldest mir ein paar ehrliche Antworten.«
Raban nickte wie betäubt.
»Was ganz anderes. Der Zirkel tagt unten im Salon.« Die Augen seines Cousins funkelten. Er zwinkerte ihm herausfordernd zu. »Ich bin neugierig, was sie planen. Bist du dabei?«
Wie er da saß mit dem Aussehen seines Vaters und der gebieterischen Attitüde von Breean, bestand kein Zweifel daran, dass er es weit bringen würde in der Gemeinschaft der Hexen. Wie modern und aufgeschlossen sich das Syndikat auch gab, denen, die am anmaßendsten und gerissensten waren, standen die Türen der Paläste offen.
»Sicher«, antwortete Raban. Er legte das Buch aus seinem Schoß. Das Bild der jungen Hexe verfolgte ihn.
Mit leisen Schritten schlichen sie über den Flur, der im Stockdusteren lag. Die Statue am Ende des Ganges, die vor der Treppe stand, schlief mit vorn übergebeugtem Kopf, in ihren Händen das Schwert und ein Schleifstein. Aus dem Salon drangen Stimmen. Er folgte seinem Cousin die Stufen hinab, hinter die Blätter des Blauregens, der vom Geländer des Obergeschosses seitlich entlang der Salontür in die Tiefe wuchs.
»Die Infiltration blieb erfolglos«, hörten sie die Stimme von Janto Amuigh. Der hagere Mann saß nicht unbegründet bei dem Treffen, dem Raban vor einigen Wochen hatte beiwohnen dürfen, neben Wotan. Er gehörte zum inneren Kreis. »Wie die Erfahrung zeigt, muss ich einigen von euch sicherlich erst wieder erklären, warum sich die Suche nach dem Artefakt dadurch unentschuldbar verlängern wird...«
»Gibt es keine neuen Erkenntnisse zu den Sicherheitssystemen?«, unterbrach Dagwin ihn.
Eine angenehm warme Stimme erklang, die in seiner Vorstellung gut zu einer jungen Frau passte: »Von was für einem Artefakt sprechen wir eigentlich?«
»Es ist nicht an dir, das zu wissen«, sagte Amuigh unberührt, als würde er ihr die Abfahrtzeiten der Wasserbahn mitteilen.
Die Blätter des Blauregens raschelten, als Mervyn sich zu ihm wandte. »Sie werden doch nicht Vater mit hineinziehen, oder? Infiltration klingt nach etwas, wobei er erwischt werden könnte.«
»Er ist oberster Richter am Tribunal. Für ein Himmelfahrtskommando ist seine Stellung zu wertvoll«, gab Raban zu bedenken. »Dein Vater kennt das Syndikat wie kaum jemand und hat Kontakte zum Oberhaus. Das wird seine Anwesenheit begründen.«
»Was glaubst du, nach was sie suchen?«
Raban zuckte mit den Schultern. Die wildesten Ideen blühten in seiner Fantasie auf, jede unvorstellbarer als die andere. Es konnte alles Mögliche sein, wonach Wotan strebte. Vielleicht sogar nach einer Macht, um seine Anhänger aus Castellum zu befreien.
»Mara, sparen Sie keine Kräfte ein, an weitere Informationen zu kommen«, sagte Amuigh. »In zwei Wochen verlange ich Ergebnisse, die ich Wotan präsentieren kann.«
»Wie geht die Observation des Hauses der Angelis voran?«, hörten sie Dagwin fragen. Seine Stimme war ruhig. Raban konnte sich bildlich vorstellen, wie er auf einem der Stühle saß, unerschütterlich und gelassen, als gäbe es für jedes Problem dieser Welt die passende Lösung.
Ein Räuspern erklang. »Zwar konnten wir das gemeldete Wohnhaus der Familie in Udine aufspüren, doch es scheint unbewohnt zu sein. In den gesamten letzten Wochen gab es keinerlei Aktivitäten.«
»Ist das so?«, fragte Amuigh verdächtig ruhig.
»Ich habe höchstpersönlich einen meiner vielversprechendsten Wächter darauf angesetzt, der offiziell gerade im Urlaub ist.«
Das Rücken eines Stuhles war zu hören. »Dann wissen wir, wer höchstpersönlich dafür verantwortlich sein wird, wenn wir berichten können, dass der Prophezeite nicht aufzufinden sei«, verkündete Amuigh in feierlichem Tonfall. »Es gibt aktuell nur eine Priorität. Den Prophezeiten vernichten. Wenn du deinen kleinen Bruder wiedersehen willst, Ó Ceallaigh, rate ich dir, deinen sesshaft gewordenen Arsch hochzukriegen. Niemand von unseren Familien wird Castellum verlassen, solange wir dieses Problem nicht aus der Welt geschafft haben.«
Eine schwere Hand legte sich auf Rabans Schulter. Er zuckte zusammen. Sein Cousin und er drehten ihre Köpfe ruckartig nach hinten, wo sie direkt in Wotans Gesicht blickten. Auf seinen Lippen ruhte ein mildes Lächeln, das im Widerspruch zu dem harten Zug um seine Augen stand.
»Meine jungen Freunde«, setzte Wotan an. Sein Lächeln vertiefte sich. »Wie ich sehe, informiert ihr euch fleißig über unsere Sache.«
Mervyns blasses Gesicht schlug in ein Kreideweiß um, das mit dem von Mondscheinwesen konkurrieren konnte. Der sonst stolze Zug um seine Mundwinkel wich einem übertrieben arroganten Grinsen, hinter dem er seine Verunsicherung zu verbergen versuchte. »Wenn sich gestandene Hexen unserer ehrenwerten Vorfahren belauschen lassen...«
»Wie wahr«, sagte Wotan. Er trat aus den grünenden Zweigen des Blauregens. Sein Umhang aus königsblauem Samt wurde seitlich, auf Höhe seines Schlüsselbeins, von einer kupfernen Brosche geschlossen gehalten, auf die ein Eichelhäher geprägt war. »Wissbegier und Talent werden einen jeden weit bringen, solange sein Wagemut ihn nicht unvorsichtig werden lässt.«
In das Gesicht seines Cousins trat ein schuldbewusster Ausdruck.
Bevor Wotan die Salontür hinter sich schloss, wandte er seinen Kopf kurz in ihre Richtung. Raban war, als würde ihm auf den Grund seiner Seele gesehen werden. »Die richtigen Informationen zur richtigen Zeit können über Sieg und Niederlage entscheiden, meine jungen Freunde.«
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