X.I Bittersüße Tränen

16
Killian

Die Mittagspause über hatte Killian in der Bibliothek seinen Geschichtsaufsatz ausgearbeitet, da er kaum Appetit hatte. Sie sollten drei Seiten über die Schwarze Seuche verfassen, die schon seit Jahrhunderten unter den Hexen grassierte und zahlreiche Todesopfer gefordert hatte. Über die Ursachen hinter der Erkrankung war nur wenig bekannt, einige Heiler vermuteten, dass sie von den Verdammten übertragen wurde. Er hatte einige interessante Bücher dazu entdeckt, aus denen er zitieren wollte.

Bevor er sich zum nächsten Unterricht aufmachte, beschloss er im Foyer der Burg an der Poststelle zu halten. Diese sah aus wie ein steinerner Wasserspender, aus dem drei dicke Röhren die Wand hinauf in der Decke verschwanden. Nachdem die junge Hexe vor ihm ihre Briefe abgeholt hatte, stellte er sich an das Becken und sagte überdeutlich seinen Namen. Ein Rattern war zu hören. Aus dem linken Rohr schoss eine schmale Schachtel, in der sich ein betörend nach Zimtstangen duftender Briefbogen befand.

Er faltete das Schreiben auseinander, seine Augen glitten über die feingeschwungenen Zeilen. Ende September waren sie um neunzehn Uhr von Beatrixde Burca zu Speis und Trank eingeladen. Es war ihm noch immer ein Rätsel, wie dieintrigante Hexe es damals geschafft hatte, sich ihren Salon genehmigen zu lassen, zu dem bekanntermaßen nur die Nachkommen der Silurer eingeladen waren – jene Hexen, aus denen Wotan einen Großteil seiner Anhänger zog. Killian hatte erwartet, dass dem Leiter des Lyzeums, immerhin war er Mitglied des Ordens und bekanntermaßen nie besonders angetan von dem Salon gewesen, genug Ausreden einfallen würden, ihre regelmäßigen Treffen zu untersagen.

»Da bist du ja«, erklang die Stimme von Mervyn hinter ihm. »Du hast deine Einladung schon erhalten?«

»Du meinst die einzige Post, die ich je erhalte?« Killian wandte sich zu seinem Freund um, der ihn aus seinen sturmgrauen Augen aufmerksam musterte.

»Wirst du hingehen?«

Killian zog eine Augenbraue nach oben. »Es gehört zum guten Ton, Beatrix' Einladungen zu folgen.«

»Ja«, zog Mervyn das Wort grinsend lang. »Das ist der Grund, warum du dort erscheinst.«

Ihm war bewusst, dass Mervyn ihn nur aufziehen wollte, indem er darauf anspielte, er könnte noch anderweitiges Interesse an der Gastgeberin haben, doch Killian versuchte eisern, sich keine Regung anmerken zu lassen. Diesen Sieg würde er seinem besten Freund nicht gönnen. Dass Beatrix und er sich nicht ausstehen konnten, war ein offenes Geheimnis.

»Ich habe übrigens schlechte Nachrichten«, murrte Mervyn. »Wie ich hörte, wird nächste Woche ein Wanderzirkus hier vorbeikommen. Jowna hat mich dazu überredet, an einem Abend die Aufführung anzuschauen.«

»Du Ärmster.« Killian warf ihm ein unschuldiges Lächeln zu.

»Wir Ärmsten!«, verkündete Mervyn und warf theatralisch die Arme in die Luft. »Du wirst mich natürlich begleiten.«

Auf dem Sandweg der großen Wiese verabschiedete sich Killian von Mervyn, da er zu seinem nächsten Kurs in den Wald musste. Er erhöhte sein Tempo, als er nach einem Blick auf seine Armbanduhr feststellte, dass er nur noch knapp zwei Minuten bis Unterrichtsbeginn hatte. Seine Mitschüler standen bereits um eine der Holzhütten zu einer Traube versammelt. Die Sonne schien angenehm warm auf ihn nieder. Im Schatten, musste Killian feststellen, war es die letzten Wochen zunehmend kühler geworden, ganz besonders, wenn wie auch heute eine Briese wehte. Das Gras unter seinen Füßen war ausgedörrt und erinnerte ihn mehr an reifes Stroh als an sattgrünes Leben. Die Sommer in Italien waren immer heiß und trocken, doch in diesem Jahr hatte sich keine einzige Regenwolke ans Murchadha verirrt, wodurch die sonst so schöne Landschaft einer Wüste aus Gestrüpp glich.

»Da bist du ja endlich«, wisperte Jowna, als er zu ihr aufgeschlossen hatte.

Er stupste ihr in die Seite. »Ich war in der Bibliothek.«

»Kommt«, erklang die raue Stimme von Horia. Für einen Augenblick glitt Killians Blick über die Baumreihen, auf der Suche nach ihrem Lehrer, dann erkannte er ihn auf einem Felsvorsprung zwischen Kiefern sitzen, etwa fünfzig Meter zu seiner Linken.

Der uralte Grimm trieb ihm trotz seines ergrauten Fells und dem betagten Aussehen den Puls in die Höhe. Bereits seit drei Jahren hatte er Unterricht bei ihm, doch da die wolfsähnlichen Kreaturen keinen Hehl daraus machten, junges Fleisch von Hexen und Menschen gleichermaßen mit Genuss zu verzehren, war er noch immer auf der Hut. Im betretenen Schweigen seiner Mitschüler entdeckte er stets die gleiche Unsicherheit. Dass Horia als Lehrer am Murchadha in Naturlehre unterrichten durfte, lag an seinem für einen Grimm sehr gemäßigten Weltbild und daran, dass er auf dem linken Auge erblindet war und mit der Pfote lahmte.

Es war der einzige Grund, warum Killian den Gedanken an die Nähe zu diesem Monster überhaupt ertrug. Wenn es hart auf hart kam, würde er wegrennen können. Gegen Magie waren Grimms nahezu immun, womit seine pure Körperkraft die einzige Verteidigungsmöglichkeit darstellte. Keine allzu berauschende Aussicht.

»Tretet näher«, bat Horia ein weiteres Mal, jedoch in einem Tonfall, der deutlich zu erkennen ließ, dass es sich um eine Aufforderung handelte, die er kein drittes Mal zu wiederholen gedachte. In seine Worte mischte sich ein animalisches Knurren. »Ich beiße nur manchmal.«

Einige Hexen aus seinem Kurs zuckten zusammen.

Mit seiner rechten Pfote deutete Horia auf hellblaue Blumen am Fuße des Felsvorsprungs. Es sah aus, als würde in der Mitte der fünf Kelchblätter ein sonnengelber Stern funkeln, um den sich weiße Linien zogen. »Wer von euch erkennt die Pflanze?«

Es überraschte Killian nicht, dass Mariette Mafalda ihre Hand hob. Dass er ausgerechnet die meisten seiner Unterrichte mit ihr zusammen hatte, war ein unglücklicher Zufall, der ihn regelmäßig zu der Frage drängte, womit er das verdient hatte.

»Myosotis, im Volksmund auch als Vergissmeinnicht bekannt.«

Der Grimm gab ein raues Bellen von sich. »Woher stammt der Name?«

Neben ihm setzte Jowna zögerlich an, aufzeigen zu wollen, doch wieder einmal hatte Mafalda noch vor den anderen ihren Arm auf und ab hüpfend in die Höhe gestreckt.

»Es gibt unterschiedliche Überlieferungen, wie die Blume zu dieser Bezeichnung kam«, erklärte sie in typisch belehrendem Tonfall. Einige Strähnen ihres braunen Haares wehten ihr ins Gesicht, als vom Fluss herab ein scharfer Windzug zu ihnen hinüber peitschte. »Da sie bei altertümlichen Festen wie unter anderem Disablót in der seltenen Variante mit rosafarbenen Blüten für die Treue steht, wurde sie traditionell von den Männern an jene Hexen verschenkt, denen sie den Hof machten. Es sollte die Frauen daran erinnern, dass dort draußen jemand auf sie wartete. Auch beim ewigen Liebesschwur von Hexen ist sie noch immer im Blütenkranz beliebt, ebenso bei Grabgestecken von den verstorbenen Partnern.«

Die Stunde über war ihre Aufgabe, mithilfe der Lehrbücher verschiedene Blumenarten auf der großen Wiese und am Waldrand bis hinunter zum Fischerhaus aufzuspüren und ihre Symbolik nachzuschlagen. Auf dem Lehrplan war für das erste Quartal Phytomantik angesetzt, ein Fachgebiet, das Killian nicht im Mindesten interessierte. Jowna hingegen sah aus, als könnte sie sich nichts schöneres vorstellen.

»Schau mal, ich glaube, ich habe Lavendel entdeckt«, rief sie begeistert. Sie kniete neben einer hellvioletten Staude und deutete mit ihrem Finger auf weitere Blüten, die einen Pfad quer über die Wiese zeichneten. »Auf welcher Seite kann ich dazu nachlesen?«

Killian seufzte. Sein Finger glitt über die Seiten des Wörterverzeichnisses, bis er den Eintrag entdeckt hatte. »Seite vierundneunzig.«

»Lavandula angustifolia«, las Jowna den Artikel aus ihrem Lehrbuch vor, »auch echter Lavendel genannt, gilt als weit verbreitete Heilpflanze unter den Hexen. Ihre phytomantischen Kraftwörter sind Gelassenheit, Schutz und Treue.«

»Ich glaube, ich schlaf gleich ein.« Killian setzte sich im Schneidersitz auf den Boden und stützte seinen Kopf mit der rechten Hand ab. Das trockene Gras stach in seine Knöchel.

Jowna verengte ihre Augen zu Schlitzen, fuhr jedoch unbeirrt fort. »Der Name stammt vermutlich von einer germanischen Hexe ab, die aufgrund ihrer bekannten und sehr potenten Elixiere von den Einheimischen stets als Lavandugar angesprochen wurde. Herkunft und Übersetzung des Wortes sind umstritten. In Fachkreisen wird angenommen, dass es dunkler Schein oder rätselhafte Macht bedeutet. Ihre Vorliebe für Lavendel verdankt diesem seinen heutigen Namen.«

Auch wenn er wusste, dass er ernsthaften Zorn riskierte, gähnte Killian demonstrativ langgezogen, während er seine Arme seitlich ausbreitete, um sich zu strecken.

»Du bist ein Idiot, weißt du das eigentlich?«

Ein Grinsen huschte über seine Lippen. »Ja, das weiß ich. Du erinnerst mich auch täglich daran, meine Liebe.«

»Irgendwann wird dir dieses Wissen noch nützlich sein«, erwiderte Jowna, die wild mit ihrem Zeigefinger vor seinem Gesicht fuchtelte. »Dann kannst du mir danken, dass ich dich dazu gezwungen habe, auch bei Phytomantik aufmerksam zu zuhören. Merk dir meine Worte!«

Um nicht noch weitere Belehrungen über sich ergehen lassen zu müssen, verzichtete Killian darauf, seine Freundin auf die Tatsache hinzuweisen, dass Wahrsagerei aus Pflanzen wohl kaum etwas war, das ihm irgendwann einmal nützlich sein könnte. Immerhin war er ein kluger Geist, der sich an der Realität orientierte. Er glaubte nicht an Schicksal oder sichtbare Pfade, mit denen sich die Zukunft deuten ließ. Am Ende waren es ihre Entscheidungen und die unendlich vielen kleinen Zufälle, die ihre Leben formten.

Jeder war für sich selbst verantwortlich. Doch wenn er Jowna so dabei zusah, wie sie freudestrahlend durch das Geäst am Waldrand kroch und ihm die Symbolik der gefundenen Blumen vorlas, musste er sich eingestehen, dass diese spirituelle Unschuld, mit der sie an Schicksal und Omen glaubte, auf eine ganz eigene Weise magisch war.

Blätter hatten sich in ihrem hellbraunen Haar verfangen, von dem einige Strähnen wild abstanden.

»Noch ein Vergissmeinnicht«, sagte sie und drehte sich zu ihm um. Sie grinste über das ganze Gesicht, sodass Killian nicht sicher sagen konnte, wo ihr Lächeln anfing und wo aufhörte. »Die Blüte hier ist schön. Guck mal, ein Blütenblatt ist violett verfärbt, die anderen blau. Irgendwie besonders.«

Während Jowna sich durch das Unterholz tiefer in den Wald schob, blieb sein Blick an der Blume hängen, die sie entdeckte hatte. Er gab ihr recht. Das Farbspiel sah wunderschön aus. Sekunden vergingen, in denen er auf den Boden hinabstarrte, die kühle Brise auf seiner Haut genoss und an gar nichts dachte. Stimmen jagten über die Wiese. Die Äste der Bäume knackten. Zum ersten Mal seit Wochen fühlte er sich so leicht und frei, als gäbe es nichts, das ihm und seiner Zukunft im Weg stehen konnte.

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