VIII.I Verräter und Verratene
13
Killian
Am Montagabend saß Killian auf seinem Bett in der Herberge. Nach dem überfüllten und anstrengenden Wochenende wollte jede Faser seines Seins allein sein. Er musste die erste Stunde ihrer Studiengruppe weiter ausarbeiten, nicht nur ihren Vorwand, Zauberistik in der alten Walachei, sondern auch ihr eigentliches Vorhaben. Ihm waren bereits einige Ideen gekommen, doch er brauchte seine Ruhe. Ruhe, die er bei Barek Zuhause, wo der Orden operierte, nicht hatte. Nachdem er sich bereits erste Notizen gemacht hatte und Iwain plötzlich ohne anzuklopfen, sein Zimmer betreten und ihn beinahe bei seinen illegalen Recherchen erwischt hatte, war ihm zu deutlich bewusst geworden, wie leichtsinnig, ja, eigentlich schon arrogant er sich verhielt. Es war zu riskant, vor den Bekämpfern alles Schwarzmagischen das Treffen einer Arbeitsgemeinschaft der dunklen Künste vorzubereiten.
Killian seufzte. Es war ihm nichts anderes übrig geblieben, als zu warten, bis er wieder in der Herberge war. Als er einen Blick auf seine Armbanduhr war, fiel ihm auf, dass er nur noch eine knappe Stunde bis zum Beginn ihrer Studiengruppe Zeit hatte, die nötigen Details auszuarbeiten. Es würde knapp werden.
Er hatte sich viele Gedanken darüber gemacht, welche Macht er seinen Freunden in der heutigen Stunde zeigen wollte. Ein Angriffsfluch schien ihm passend, da sich insbesondere Rhydian und Mervyn gewünscht hatten, tiefer in die Kampfmagie einzutauchen. Doch kein Fluch, der ihm spontan eingefallen war, hatte sich als einsteigerfreundlich erwiesen, weshalb er dazu übergegangen war, in den verbotenen Schriften nachzulesen - und als hätte er es geahnt, hatte er den perfekten Zauber bereits auf der fünften Seite entdeckt.
Es war Bareks verstorbenen Eltern zu verdanken, dass er schon seit Jahren viel tiefer in die dunklen Künste eintauchen konnte, als die meisten seiner Mitschüler. Nach dem Unfall seiner Mutter waren sie in Bareks Elternhaus gezogen, der als ältester Freund seines Vaters angeboten hatte, sie bei sich aufzunehmen. Ursprünglich nur für einige Monate, da Iwain es in ihrer alten Wohnung nicht mehr ausgehalten hatte, wo Killians Mutter... doch aus den Monaten waren Jahre geworden. Jahre, in denen Killian den Salon mit seinen dutzenden Büchern ins Herz geschlossen hatte. Das Haus war nicht, was er von seinem Paten erwartet hatte. Sicherlich, er trug den Namen einer berüchtigten keltischen Hochfamilie, den N'Branáins, doch Barek hatte nie einen Hehl daraus gemacht, wie sehr er seine familiären Hintergründe verachtete. Umso mehr hatte es Killian erstaunt, dass sein Pate wohl vergessen zu haben schien, dass in der Bibliothek seiner Eltern Schriften standen, von denen er sich sicher war, sie wären unverzüglich in das verbotenen Archiv des Syndikats versiegelt worden, hätte jemand sie entdeckt. Er wusste, dass die N'Branáins eine Familie voller Schwarzmagier waren. Bareks Schwester galt als eine der treusten Anhänger von Wotan, zu einer lebenslangen Versiegelung in Castellum verurteilt, und seine andere Schwester war die Mutter von Mervyn, durch den er wusste, dass auch seine Eltern Ansichten vertraten, die freundlich ausgedrückt, nur als syndikatsfeindlich bezeichnet werden konnten. Natürlich sprachen sie nie offen darüber.
Doch sein Glück hatte nicht lange angehalten, als sein Vater ihn eines Nachts dabei erwischt hatte, wie er heimlich im Salon in den alten Büchern gelesen hatte. Fast drei Tage hatte er nicht mehr mit ihm gesprochen, offensichtlich so enttäuscht und wütend, dass er es wagte, sich nach dem, was mit seiner Mutter passiert war, für schwarze Magie zu interessieren, dass er es kaum ertragen hatte, ihn nur eine Sekunde lang anzusehen. Nachdem sein Vater sich wieder beruhigt und Killians Interesse für jugendliche Neugierde abgestempelt hatte, waren er und Barek dazu übergegangen, die Bibliothek von allem, das irgendwie gefährlich aussah, zu befreien. Mehr als die Hälfte aller Regalböden standen nun in staubiger Leere.
Es war seinem guten Instinkt zu verdanken, dass er immerhin drei besonders faszinierende Bücher aus dem Salon hatte retten können. Seit dem versteckte er sie mit ausgetauschtem Einband in seinem Schrank daheim oder der Herberge.
Eine sanft klingende Melodie, die aus der Tasche unter seinem Bett kam, riss ihn aus seinen Erinnerungen. Killian runzelte die Stirn und beugte sich hinab. Schwaches Licht fiel durch die zugezogenen Vorhänge und malte einen schmalen Streifen warmen Sonnenscheins an die gegenüberliegende Wand. Er durchwühlte seine Kleidung, bis er die Kristallkugel zu greifen bekam, die vibrierte und in bunten Farben aufleuchtete. Er atmete tief ein, schloss seine Augen und fühlte in sich hinein. Hörte auf seinen Herzschlag, spürte das Heben und Senken seiner Brust. Die stickige Luft auf seiner Haut. Er fühlte die Magie durch seine Adern prickeln wie sanfte elektrische Impulse. Wärme erfasste ihn. Dann wurde die Kristallkugel unter seinen Fingen schlagartig eiskalt.
»Iwain Wyndham hier.« Im dunstigen Nebel der Kristallkugel erkannte Killian das Gesicht seines Vaters. Ein freudiges Lächeln lag auf dessen Lippen.
Killian räusperte sich. »Warum klingelst du mich an?«
»Ich wollte dich nur fragen, ob es sein kann, dass du deine Hausaufgaben vergessen hast.«
Er schüttelte den Kopf. »Wie kommst du darauf?«
Ein gequälter Ausdruck huschte über das Gesicht seines Vaters. Er musste gerade unterwegs sein, denn sein Kopf schwankte in der Kristallkugel auf und ab und im Hintergrund, meinte Killian, undeutliche Häuserfronten zu erkennen. Vermutlich war er auf dem Weg zu einem Tatort. »Auf deinem Nachttisch liegen ein paar vollgekritzelte Blätter. Es sah irgendwie nach Schulnotizen aus.«
Killian dachte, sein Herz musste ihm stehen bleiben. Hektisch wühlte er durch die losen Blätter, die quer über seine Bettdecke verteilt lagen. Tatsächlich fehlten einige seiner Aufzeichnungen. Er hatte sich die Anwendungsmöglichkeiten des Fluches notiert, den er nachher mit seinen Freunden üben wollte. Inklusive der dazugehörigen Nebenwirkungen. Eiseskälte zog sich durch seinen Körper.
»Alles gut?«, fragte sein Vater. »Du siehst aus, als hätte dich ein Verdammter zum Kuchenessen eingeladen.«
»Lass meine Notizen einfach liegen, wo sie sind«, versuchte Killian sich seine Panik nicht anmerken zu lassen. »Die sind nicht so wichtig.«
Iwain hob den Daumen hoch. »Lern nicht zu viel, mein Sohn. Geh abends auch mal mit Freunden aus, ja? Wir hören uns.«
Dass sein Vater nur wenig Verständnis für seinen Lerneifer hatte, war nichts ungewöhnliches, doch Killian hatte geglaubt, dass sie sich so langsam zumindest genug kannten, um zu wissen, wie der andere tickte. Sein Vater wusste, dass er sich nicht dafür interessierte, mit den Carthaigh-Geschwistern um die Häuser zu ziehen, denn niemand geringeres hatte er mit Freunden gemeint. Als würde sein vermaledeiter Vater ihm jemals vorschlagen, mit den Sprössen von Wotans Anhängern zusätzliche Zeit zu verbringen. Es reichte schon, dass er ihm den Kontakt zu ihnen im Murchadha kaum verbieten konnte. Oder zumindest nicht ahnte, wie viel Zeit er tatsächlich mit ihnen verbrachte.
»Bis morgen Abend«, murmelte Killian, dann ließ er die Kristallkugel erlöschen.
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Schließlich schlug die Uhr zur achtzehnten Stunde und Killian öffnete mit Jowna im Schlepptau die Tür zu dem alten Klassenzimmer im Keller der Burg, den sie von Gelehrte Amarez für ihre Arbeitsgemeinschaft gestellt bekommen hatten. Als er einige seiner Freunde bereits erblickte, verdüsterte sich seine Miene. Neben einem selbstbewusst lächelnden Rhydian stand Ellis O'Padraic.
Sie war ein gutes Stück jünger als Killian. Er kannte sie vom Sehen, hatte über die Zeit das ein oder andere Wort mit ihr gewechselt. Sie alle waren Abkömmlinge der altkeltischen Familien, vernetzt und bekannt, natürlich hatte er mit ihr über Ecken zutun gehabt. Doch sie war weit entfernt davon, dass er sie als gute Bekannte bezeichnet hätte. Sein Herz schlug kräftig gegen seinen Brustkorb. Er dachte fieberhaft nach. Er spürte, wie die Wut in ihm hochwallte, sich seinen Magen empor kroch wie die schwarzen Krallen einer Bestie. Seine Atmung beschleunigte sich.
»Sie teilt unsere Ideale, deshalb habe ich sie mitgenommen«, erklärte Rhydian. Er kratzte sich verlegen im Nacken, offensichtlich schien ihm langsam zu dämmern, dass Killian nicht glücklich über diese Entscheidung war.
Ellis hingegen merkte nichts von der angespannten Stimmung oder ließ es sich zumindest nicht anmerken, denn sie grinste Killian breit an, als könnte sie kein Wässerchen trüben. Er warf Rhydian einen durchdringenden Blick zu, der unwohl einige Schritte zurückwich. Konnte er tatsächlich so dumm gewesen sein, Ellis freiwillig von der wahren Natur ihrer Studiengruppe erzählt zu haben? Kaum waren Mädchen in der Nähe, mutierte Rhydian zu einem gehirnlosen Regenwurm, der sogar seine Großmutter verscherbeln würde, solange er damit Eindruck schinden konnte.
Killian fuhr sich über das Gesicht. Er wusste, dass Ellis zu ihrer Gruppe passte, womöglich hätte er sie irgendwann ohnehin dazu eingeladen. Ihrer aller Namen standen auf der Tafel der Boudica auf dem Berggipfel von Ben More an der schottischen Küste unter der Inschrift Silurer mu dheireadh. Die letzten Silurer. Er würde ihre Anwesenheit wohl dulden müssen. In seinem Inneren wütete ein Sturm, als er Rhydian musterte, der noch immer neben Ellis stand und sich verunsichert im Nacken kratzte.
Die Tür ging auf und Arian huschte mit Mervyn zusammen als letzter in das Innere des Klassenraumes.
»Meine werten Kameraden«, versuchte Killian sich seine Wut nicht anmerken zu lassen. Sofort verstummte alles Gemurmel. »Wie ihr seht, haben wir ein neues Mitglieder in unserem kleinen Kreise. Heißt Ellis bitte herzlichen Willkommen. Allerdings«, seine Stimme wurde schneidend kalt, »möchte ich euch daran erinnern, dass wir es uns nicht leisten können, unachtsam mit unserer Verschwiegenheit umzugehen. Ich werde mich kein drittes Mal wiederholen.«
Ellis sah nicht aus, als hätte sie ein schlechtes Gewissen, Rhydian in eine unangenehme Lage gebracht zu haben, obwohl sie sicherlich verstanden hatte, worauf Killian mit seinen Worten anspielte. Mervyn und Jowna warfen sich unsichere Blicke zu, nur Arian sah aus, als würde er nicht verstehen, was vor sich ging.
»Da Ellis aus ehrwürdigem Hause stammt«, und ihre Mutter wegen Mordes in Castellum versiegelt ist, fügte er in Gedanken hinzu, »wird das Geheimnis unseres Kreises auch weiterhin geschützt bleiben.«
Mit einer Handbewegung deutete er ihnen, Platz zu nehmen, während er vor zur Tafel lief und sich im Schneidersitz auf den Lehrpult niederließ. Aus seiner Tasche nahm er die voll geschriebenen Blätter und legte sie neben sich. »Damit auch unsere neuen Mitglieder im Bilde sind, wiederhole ich noch einmal, was ich auch den anderen die letzten Wochen schon erklärt habe.« In den Gesichtern der Hexen vor ihm sah er Interesse aufblitzen. »Erstens, niemand verliert über das, was wir hier tun, ein Wort. Auch nicht untereinander, solange wir uns nicht innerhalb der geschützten Wände dieses Raumes aufhalten. Das ist keine Regel sondern ein Grundsatz, der jedem gesunden Hexenverstand entspringen sollte. Ich hoffe, ich muss euch nicht erklären, dass auf das Wirken von schwarzer Magie lange Haftstrafen stehen. Es hat wohl niemand Interesse daran, künftig eine Zelle im Staatsgefängnis zu beziehen.«
Jowna und Arian schüttelten vehement ihre Köpfe. Rhydian presste seine Lippen aufeinander, dann senkte er seinen Blick.
»Außerdem müssen wir uns darauf einstellen, dass jederzeit einer der Lehrer beschließen könnte, unserer Stunde beizuwohnen. Zu jedem Treffen müssen wir daher in der Lage sein, sofort auf Zauberistik umstellen zu können. Ich habe einige Texte am Wochenende ausgearbeitet, die jeder von euch bis zum nächsten Mal auswendig lernt. Das meine ich absolut ernst, ihr müsst die Grundlagen im Schlaf beherrschen.«
»Das ist wirklich genial«, sagte Jowna. Sie trug ihr Haar nicht wie sonst üblich offen, sondern hatte es zu einem Zopf geflochten, was ihr außergewöhnlich gut stand, musste Killian feststellen. »Ich hätte mir darüber nie Gedanken gemacht.«
Ein freches Grinsen schlich sich auf seine Lippen und er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Dafür bin ich ja hier.«
»Allerdings bedeutet das noch mehr Aufwand«, murrte Asteria. Sie verschränkte die Arme vor der Brust.
Arian, der sich sonst in Stille hüllte, drehte sie überraschend zu ihr um. »Ich glaube nicht, dass du das Recht hast, Killians Anweisungen in Frage zu stellen. Er weiß, was er tut.«
Einige Sekunden herrschte betretenes Schweigen. »Nun denn, Freunde, lasst uns nicht streiten. Ihr könnt es sicherlich kaum erwarten, welchen Zauber wir heute lernen werden. Wer hat schon einmal vom Tortură gehört?«
Mervyn schien einen Wimpernschlag lang blasser zu werden, als er ohnehin schon war, in Ellis Gesicht trat stumme Begeisterung. Auch Rhydian verzog die Lippen zu einem hungrigen Lächeln. Killian hatte damit gerechnet, dass einige seiner Mitschüler den Fluch kannten, wenn auch nur vom Namen. Dass es ausgerechnet die Sprösslinge der Familien waren, die sehr wahrscheinlich Wotans Sekte angehörten, überraschte ihn nicht.
»Der Tortură ist ein Angriffsfluch, der eine Illusion des Schmerzes bei eurem Opfer erschafft. Ihr könnt ihm glauben machen, es würde von einem Grimm zerfetzt, von tausenden Messern durchstochen oder sogar... von einem Verdammten verbrannt.« Er setzte eine Kunstpause. Ellis hatte ein Funkeln in den Augen, dass ihm nur zu deutlich zeigte, wie begierig sie darauf war, den Zauber zu üben. In Jownas und Arians Gesicht erkannte er hingegen, Unsicherheit und verhaltene Neugierde um die Vorherrschaft kämpfen. Ihre Augenbrauen zuckten unschlüssig.
»Kommt, steht auf«, wies Killian sie an. »Letztes Schuljahr haben wir nur ein bisschen im Wald an Pflanzen geübt, wie ihr euch sicherlich erinnert. Für heute habe ich da andere Pläne.« Zögerlich erhoben sich alle von ihren Stühlen. Killian stoppte in seiner Bewegung. »Ich muss euch leider mitteilen, dass trotz der offiziellen Genehmigung einer von uns vor der Tür Wache halten muss, um uns rechtzeitig warnen zu können, sollte jemand den Gang betreten.«
»So etwas haben wir uns schon gedacht«, erwiderte Mervyn.
Jowna verkündete, dass sie als erste in der heutigen Runde aussetzen würde, um sich in die Notizen einzulesen, die Killian für sie alle ausgearbeitet hatte.
Ein wölfisches Grinsen trat in Killians Gesicht, als er sich in die Mitte des Klassenzimmers stellte und seine Arme zu beiden Seiten feierlich ausstreckte. »Rhydian«, zog er die Aufmerksamkeit der Hexen auf sich, »wie nett, dass du dich heute bereit erklärt hast, unser Testobjekt zu sein. Wer möchte anfangen?«
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