VI.II Fänge der Vergangenheit

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Killian

Bis zum Mittagessen des nächsten Tages hatte Killian zwei Ausarbeitungen in Runenlehre und Geschichte aufbekommen, außerdem sollten sie in Verwünschungen die nächsten beiden Kapitel lesen und die Abbildungen auf Seite zweiundfünfzig miteinander stichpunktartig vergleichen. Er hatte sich die Hausaufgabe im Festsaal schon näher angesehen. Es würde ihn einige Stunden Arbeit kosten. Schließlich kam auch der Dienstagsunterricht zu einem Ende und Killian fand sich in der Herberge beim Packen seiner Taschen wieder.

»Was machst du noch die restliche Woche?«, fragte Arian. Er verstaute seine Hausaufgaben in das vordere Fach seiner Ledertasche und strich im Spiegel noch einmal sein aschblondes Haar glatt, was nur eine Angewohnheit war, denn seine Haare waren so kurz und glatt, dass er in einen Wirbelsturm geraten könnte und noch immer die gleiche Frisur tragen würde. Erwartungsvoll setzte er sich neben sein Gepäck auf das Bett.

»Lernen«, hatte Killian sich für eine möglichst lahme Antwort entschieden. Er wollte nicht über seine Pläne für den heutigen Tag sprechen. Zwar konnte er Arian gut leiden, immerhin teilten sie sich seit über sechs Jahren ein Zimmer in der Herberge und saßen auch sonst beim Frühstück und Abendbrot zusammen am Tisch, doch nicht einmal Mervyn und Jowna wussten davon. »Ich habe jetzt alles.«

An der Rezeption drängten sich einige Schüler durch die große Tür nach draußen ins Freie. Killian warf ihren Zimmerschlüssel in die Box auf dem Tresen. Die Meisten waren bereits heimgefahren, wie sie es jeden Tag konnten, da sie an Orten mit einer guten Anbindung an die Wasserbahn lebten. Er hingegen wohnte mit seinem Vater in Bareks Elternhaus in einem winzigen Dorf in Dänemark an der Küste, unweit von der kleinen Hafenstadt Fåborg Sogn auf der Insel Fünen entfernt. Er brauchte mit der Wasserbahn über vier Stunden vom Murchadha und abends gab es für ihn überhaupt keinen Weg, nach Hause zu gelangen.

Er lief gedankenversunken neben Arian den Kiesweg ins nahegelegene Bergdorf Pagliani hinab, während über ihnen die Vögel zwitscherten und auf den Wiesen die Grashalme leise säuselnd im Wind tanzten. Von Weitem erkannte er talwärts bereits die vielen kleinen Häuser, die am Flussbett entlang im Spalier aneinandergereiht standen zwischen Weinreben und vereinzelten Zypressen.

»Nächste Woche darf ich vielleicht schon mitmachen, sagtest du?«, durchbrach Arian plötzlich die angenehme Stille der Landschaft.

Einige Sekunden lang konnte Killian nicht einordnen, auf was sich die Frage bezog, doch als er sah, wie sein Freund die blassen Lippen zu einem Schmollmund verzog, dämmerte ihm, dass er ihre Studiengruppe meinte.

»Ich meinte doch, dass du und Jowna bei unseren nächsten Treffen gern gesehene Gäste seid, nur eben nicht bei den allerersten.«

Arian schnaubte verächtlich. »Es ist nur so, dass Mervyn meinte, es wäre unklug, wenn wir gleich zu Beginn, so kurz nach der Gründung...«

»Ich sehe, woher deine Verwirrung stammt«, würgte Killian seine Worte ab. In seinem Inneren brodelte ein Sturm. Mit aller Macht versuchte er, seine Mimik neutral zu halten. »Lass mich dir eine Frage stellen. Wer ist es, der unsere kleine Gruppe ins Leben gerufen hat?«

Über Arians blaue Augen huschte Verunsicherung. »Du.«

»Wer ist es, den ihr auserkoren habt, unsere Gruppe anzuleiten?«, fuhr Killian mit gepresster Stimme fort.

»Du, aber...«

»Wer denkst du also, ist weitsichtig genug, auch einschätzen zu können, ab wann ihr dabei sein dürft?«

»Du«, sagte Arian. »Tut mir leid, ich wollte nicht an dir zweifeln.«

Gespielt versöhnlich schlug Killian ihm auf die Schultern. »Schon gut, mein Freund. Wer wäre ich schon, dir deine Befürchtungen übel zu nehmen? Ich danke dir für deine offenen Worte.«

Die letzten Meter bis zum Dorfrand schwiegen sie wieder. Der Steinbrunnen neben dem kleinen Weinfeld war nur etwa hüfthoch und hatte ein spitzes Dach aus grau verwitterten Holzleisten, die von Moos durchzogen waren. Killian warf einen kurzen Blick auf seine Armbanduhr. Es war kurz nach vierzehn Uhr. Das Wasser stand tief, bemerkte er, als er sich über das Gemäuer lehnte, um seine Fahrkarte vorzuzeigen. Dann ließ er sich kopfüber in den Brunnen fallen – und seine Welt wurde nass und kalt.

Einen Wimpernschlag später tauchte er im Zuginneren auf. Gegen seine schwarzen Halbschuhe schwappte Wasser, als auch Arian hinter ihm eintraf. Killian stieg aus dem Becken und rieb seine Sohlen an dem bereitgelegten Abtreter trocken, bevor er am Tresen vorbei dem mit rauen Teppich ausgelegten Gang folgte, auf der Suche nach einem Sitzplatz. Die meisten Bänke waren bereits von etwa drei Dutzend Hexen besetzt. Da die Wasserbahn nach Kolding nur aus zwei Waggons bestand, schwand seine Hoffnung, vielleicht im angrenzenden Abteil fündig zu werden. Bereits viel zu oft hatten er und Arian die knapp dreistündige Fahrt über stehend verbringen müssen.

Natürlich war er bei dem Gedanken, dass es bis vor dreihundertfünfzig Jahren noch überhaupt keine Wasserbahnen gegeben hatte, mit denen die Hexen über Brunnen in einem riesigen Netzwerk reisen konnten, dankbar für ihren heutigen Luxus. Damals hatte es nur die willkürlich wachsenden Pilzkreise in Wäldern und auf Wiesen gegeben, mit denen sich einige Kilometer überbrücken ließen. Eine Reisemethode, die auch er gerne nutzte, um seine Fahrzeit nach Hause um fast eine Stunde zu verkürzen. Er wusste nicht, wie lange er die Hexenkreise noch nutzen konnte, immerhin war es von der Natur abhängig, wo und wie lange ein solch magischer Transportkreis entstand und wieder wegfiel, doch solange es diese Verbindung gab, war sein Heimweg weniger anstrengend als ohnehin schon.

⋯⋆ ⋆✶⋆ ⋆⋯

Als er kurz nach siebzehn Uhr endlich sein letztes Etappenziel erreichte, wartete sein Pate bereits an einer Laterne gelehnt. Arian war einige Stationen vor ihm ausgestiegen. Bareks dunkles Haar fiel ihm tief in die Augen, die im Abendlicht der Sonne vergnügt funkelten. Vereinzelte Schreie der Möwen hallten zu ihnen hinüber, salziger Wind schlug Killian ins Gesicht. 

»Wie geht es dir, Knöpfchen?«

»Lass es uns einfach hinter uns bringen«, rang Killian das Gespräch sogleich nieder. Er mochte es nicht, so genannt zu werden, doch sein Vater und Barek schienen eine merkwürdige Freude daran entwickelt zu haben, ihm seine geringe Körpergröße mit allerlei dämlichen Spitznamen unter die Nase zu reiben.

Schweigend liefen sie nebeneinander her. Die Gasse entlang waren die Fensterbretter der alten Häuser mit Kastanien und Kürbissen geschmückt.

»Habt ihr viel aufbekommen?«, fragte Barek nach einigen Minuten. »Ich weiß noch genau, dass ich das Jahr vor meinem Abschluss mit Hausaufgaben überhäuft worden bin.« Ein Schmunzeln zuckte über seine Lippen, das in ein leises Glucksen überging. »Wir haben aber auch viele Strafarbeiten aufbekommen, so viel Unsinn wie wir angestellt hatten.«

»Das glaube ich gern«, erwiderte Killian. Er konnte über die Geschichten seines Paten nur den Kopf schütteln. Wieder hüllten sie sich in Stille. Nur ihre Schritte waren auf dem Kopfsteinpflaster zu hören, das Knirschen der winzigen Kiesel unter ihren Schuhen. Aus der Ferne drangen die Geräusche von Fahrzeugen und Menschen zu ihnen hinüber.

Barek setzte erneut zu sprechen an, würgte seine eigenen Worte jedoch zu einem undefinierbaren Laut ab. Er schien seine Gedanken auf der Zunge hin und her zu rollen, zu überlegen, wie er am besten formulierte, was er sagen wollte. Ein Schatten senkte sich über Killians Gesicht.

»Weißt du«, setzte sein Pate vorsichtig an. Bei seinen nächsten Sätzen schien er sich zu winden. »Ich habe der Ordensführerin angeboten, falls mit der Bewachung von Nikodemus etwas schief gehen sollte, dass er und seine Mutter jederzeit bei uns im Haus unterkommen können.«

Killian spürte, wie er sich verkrampfte. Sein Kiefer mahlte und er hatte das Gefühl, in seinem Magen hatte sich ein Bleibarren niedergelassen. »Schön«, antwortete er tonlos. Mal schauen, wie lange es noch dauert, bis ich nicht einmal mein Zimmer mehr für mich habe, dachte er bitter. Als hätte es nicht gereicht, ihr Zuhause in die geheime Zentrale des Ordens zu verwandeln.

»Er ist eben der Prophezeite«, versuchte Barek sich zu rechtfertigen, doch seine Stimme klang schwach, vermutlich selbst in seinen Ohren.

Vor ihnen am Ende der Straße erhob sich das Heilhaus. Es war ein Altbau aus dunklen Backsteinen mit weißen Fensterrahmen, auf denen grünende Blumenkästen standen. Es hätte auch ein Rathaus oder eine Schule sein können, wenn da nicht das auffällig rote Kreuz auf der Eingangstür gewesen wäre. Erste graue Wolken zogen am Himmel auf, verdeckten die Abendsonne hinter regenschwerer Watte.

»Ich geh ein Stück Kuchen essen«, verabschiedete sich Barek mit denselben unsicheren Worten, die er immer sagte, sobald sie angekommen waren. Er flüchtete sich in ein Café auf einem der Hinterhöfe. Es war nicht so, dass Killian nicht froh darüber war, alleine hochgehen zu können. Doch der Schmerz in Bareks Augen, die unwohle Stimmung zwischen ihnen, sobald sie hier waren, gaben ihm das Gefühl, alleine auf der Welt zu sein.

Im Heilhaus stieg Killian der scharfe Geruch nach Desinfektionsmittel in die Nase. Die roten Ledersessel in der Eingangshalle standen um zwei kleine Beistelltische drapiert, auf denen dutzende Broschüren und abgegriffene Magazine lagen. Noch nie hatte er jemanden dort sitzen sehen. Zwischen ihnen wie eine Gasse des Lebens ragten die verschiedensten Pflanzen aus bunten Blumenkübeln, mit so wunderschön sattgrünen Blättern, die von einer kleinen, dicklichen Hexe liebevoll gepflegt wurden, dass so mancher Besucher schon neidisch stehengeblieben war. Die Empfangsdame nickte ihm freundlich zu, als er an ihr vorbei auf die Wendeltreppe zulief. Mit jeder Stufe, die er der Station für Langzeitpflege und Rehabilation näher kam, verlangsamte sich sein Tempo. Seine Schritte verhallten leise im Gemäuer, bis er im obersten Stockwerk vor der dritten Tür links innehielt.

Der Korridor hatte sich verändert, das erkannte er augenblicklich. Statt der strahlend sonnenblumengelben Farbe waren die Wände nun in einem angenehm unauffälligen cremeweiß gestrichen, ein fast schon erdiger Ton, der zu den alten, kunstvoll verzierten Fliesen passte. Gemälde von dänischen Hafenstädten und langen Dünenstränden zogen den Flur entlang bis zum Gemeinschaftsraum, aus dem die leisen Gespräche der Heiler und Pfleger drangen.

Killians Blick wanderte hinab zu der Klinke in seiner Hand, die sich eiskalt auf seiner Haut anfühlte. Langsam schob er die Tür auf, bis er das Fußende des Bettes hinter der schmalen Badezimmerkabine erkennen konnte. Die Fenster waren angekippt. Eine spätsommerliche Brise ließ die weißen Spitzenvorhänge in sanften Takten über die rosafarbenen Landnelken tanzen, die auf dem Fensterbrett standen. Er trat ein. Mit jedem Schritt zeichneten sich unter der Zudecke, auf der eine hellblaue Kuscheldecke lag, deutlicher ihre Beine, dann die Hüfte ab, ihre Hände links und rechts. Sie trug ein helles Nachthemd von der Station.

Als er vor ihrem Bett stehen blieb und auf ihr friedliches Gesicht hinabblickte, spürte er nur wieder zu deutlich diese allesverschlingende Leere in sich, als wären all seine Gefühle verstummt. Eingefroren seit jenem Tag. Ihre Haut sah bleich aus, fast so hell wie das weiße Laken, auf dem sie lag. Jemand hatte ihre rostbraunen Haare zu einem Zopf geflochten, der sich dunkel von dem groben Stoff des Kissens abhob.

»Hallo, Mama.«

Seine eigene Stimme kam ihm fremd vor. Es war schon so viele Jahre her, doch die Ohnmacht, die ihn überkam, wann immer er hier vor ihr stand, blieb. Da war nur dieses stille Nichts in ihm. Er starrte auf sie nieder, Woche für Woche, wohlwissend, dass er es für sein restliches Leben tun würde. Sie wachte nicht mehr auf. Der schwarzmagische Fluch, der sie getroffen und minutenlang unter Schmerzen gehalten hatte, hatte nichts mehr von ihr übrig gelassen, das aufwachen konnte. Wie eine Glühbirne, die durchgebrannt war.

Killian spürte das Blut in seinen Ohren rauschen. Immer wieder hatte er das entsprechende Kapitel in einem der Bücher aus Bareks Elternhaus gelesen, still und heimlich nachts, wenn alle schliefen. Der Durere galt als einer der fürchterlichsten Flüche Europas und wurde mit einer lebenslangen Versiegelung in Castellum vergeltet, doch keine Bestrafung der Welt konnte den Hexen zurückgeben, was sie verloren hatten. Ihre Seele.

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